Kapitel 107 - Sheila
Obwohl Sheila früh schlafen gegangen war, wachte sie erst von ihrem Wecker auf. Sofort war sie hellwach, denn sie würde gleich beim Arzt anrufen. Sie fühlte sich aufgekratzt und nervös, vielleicht auch, weil sie danach Jonathan anrufen würde.
Sie ging ins Bad und duschte sich ausgiebig, denn obwohl sie seit Ewigkeiten eine ganze Nacht allein gewesen war, hatte sie überraschend gut geschlafen. Nachdem sie sich einen Kaffee gekocht und ein Brötchen aufgebacken hatte, setzte sie sich an den Tisch und frühstückte.
Anschließend wählte sie mit zitternden Händen die Nummer des Frauenarztes. Es war acht Uhr und die Praxis hatte gerade geöffnet und sie kam direkt durch zur Sprechstundenhilfe. Sie erklärte kurz ihre Situation und die Frau am anderen Ende der Leitung zitierte sie sofort in die Praxis. Sie würde noch als Erste drankommen, damit sie rechtzeitig bei der Arbeit sein konnte, zumindest versprach sie das.
Sheila beeilte sich, ihre Sachen zusammenzupacken und fuhr in Matthias Auto zur Arztpraxis. Erst als sie da war fiel ihr ein, dass sie ja heute den Termin in der Werkstatt hatte. Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie ihr Auto dorthin bringen musste, doch sie konnte sich nicht mehr erinnern. Sie würde auf dem Rückweg kurz ihren Vater anrufen und ihn fragen, immerhin war er so nett und hatte für sie den Termin vereinbart. Außerdem würde sie ihm von der Untersuchung berichten, denn sicherlich war er genau so gespannt auf das Ergebnis wie sie und Jonathan.
Sheila parkte ihren Wagen am Straßenrand und beeilte sich, in die Praxis zu kommen. Wie immer saß eine dunkelhaarige Sprechstundenhilfe hinter dem Tresen und sie reichte ihr ihre Versichertenkarte.
„Ich hatte vorhin angerufen", sagte sie und die Frau nickte.
„Wann haben Sie den Test gemacht?", fragte sie.
„Am Samstag", antwortete sie und die Frau nickte, dann reichte sie ihr ihre Karte zurück.
„Sie können direkt durch gehen zum Doktor", sagte sie und deutete auf die ihr nur allzu vertrauten Räume. Sheila nickte, bedankte sich und verschwand in einer der Kabinen.
Etwas mehr als eine Stunde später saß Sheila in ihrem Auto und hielt das kleine Heftchen in ihrer Hand. Einige Minuten starrte sie einfach nur darauf, doch dann klappte sie es auf und nahm das Ultraschallbild heraus, das sie hineingeschoben hatte. Sie kramte mit zitternden Fingern nach ihrem Handy, das ganz unten in ihrer Handtasche lag. Obwohl sie auch ihren Vater anrufen wollte, wählte sie zuerst Jonathans Nummer. Es war so merkwürdig, dass er nicht hier war und doch hatte sie das Gefühl gehabt, dass er dringend diese Auszeit brauchte. Es klingelte lange, bis er sich meldete.
„Hey", murmelte er und klang, als hätte sie ihn geweckt. Seine Stimme klang so vertraut und doch irgendwie fremd. Er war keine 24 Stunden weg und schon vermisste sie ihn, als wäre er monatelang weg.
„Hey", erwiderte sie den Gruß und kaum dass sie es ausgesprochen hatte, liefen ihr Tränen über die Wangen. Doch es waren auch Tränen der Freude dabei.
„Ich war gerade beim Arzt", sagte sie und hörte im Hintergrund etwas rascheln. Anscheinend hatte er tatsächlich noch geschlafen. Zitternd atmete er aus.
„Und?", fragte er dann, doch seine Stimme brach.
„Ich bin schon in der fünften Woche. Erinnerst du dich an den ersten Test, den du geholt hast? Der Arzt meinte, dass er negativ gewesen sein könnte, weil es zu früh war. Aber ich habe es nun schwarz auf weiß, ich bin schwanger", plapperte sie drauf los, dann lachte sie und schluchzte gleichzeitig. Sie konnte es noch gar nicht fassen. So lange hatten sie es sich gewünscht und nun war es wirklich so weit. Auch Jonathan lachte leise.
„Fünfte Woche schon?", fragte er ungläubig und doch erkannte sie die Freude in seiner Stimme.
„Ja, das hat der Arzt gesagt. Er meinte auch, dass alles in Ordnung ist. Ich muss in einem Monat noch einmal zur Kontrolle und er hat mir ein paar Vitamintabletten aufgeschrieben, die ich nehmen soll", erzählte sie weiter und auf einmal hatte sie das drängende Bedürfnis, in seiner Nähe zu sein und ihm ihre ganzen Ängste und Sorgen, aber auch ihre Hoffnungen zu erzählen.
„Ich freue mich so. Ich..", setzte er an, doch dann schluchzte er, genau wie sie.
„Ich wünschte, du wärst bei mir", rutschte es ihr heraus, doch sofort presste sie sich die Hand auf den Mund. Jonathan schwieg einen Moment, dann seufzte er.
„Ich kann noch nicht. Ich habe Angst, dass ich... du weißt schon, dass ich meinen Frust noch nicht abgebaut habe. Ich brauche noch ein paar Tage für mich, aber ich bin bald zurück, okay?", fragte er dann und klang auf einmal distanziert. Sheila schluckte den Kloß in ihrer Kehle hinunter.
„Okay", hauchte sie, doch sie wollte ihn noch so viel fragen. Obwohl er sie enttäuscht hatte, indem er sagte, dass er noch einige Zeit für sich brauchte, hatte er ihr damit gleichzeitig gesagt, dass er wieder zu ihr zurück kommen würde. Wenn sie daran dachte, wie groß noch gestern Abend ihre Zweifel daran gewesen waren, kam sie sich bescheuert vor.
„Also... Willst du zu mir zurückkommen und bei mir bleiben?", fragte sie leise und sofort beschleunigte sich ihr Herzschlag.
„Natürlich. Hast du gedacht, ich würde dich verlassen?", fragte er und klang dabei ein wenig verletzt.
„Naja, du hast gesagt du würdest darüber nachdenken und... ich weiß nicht, du warst nicht wirklich glücklich mit mir", nuschelte sie und augenblicklich musste sie an ihren Fehler mit Leonard denken. Jonathan stieß einen erstickten Laut aus.
„Ich will dich nicht verlassen. Ich will mit dir zusammen bleiben, solange du das auch willst. Gib mir nur etwas Zeit, mich selbst wieder auf die Reihe zu bekommen", sagte er flehend und sie nickte, obwohl er es nicht sehen konnte. Auch wenn seine Worte guttaten, wusste sie nicht so recht, was sie darauf antworten sollte. Zu viele Gedanken schossen durch ihren Kopf und doch wollte sie ihn nicht zu lange aufhalten.
„Ich...", setzte sie an, unterbrach sich aber.
„Was denn?", fragte er sanft und sie atmete tief durch.
„Ich liebe dich", sagte sie, denn das erschien ihr als das Wichtigste, was er nun wissen sollte.
„Ich liebe dich auch", gab er ohne zu Zögern zurück und Sheila stockte der Atem, so sehr wünschte sie sich, ihn im Arm halten zu können.
„Wo bist du?", fragte sie ihn weiter aus, doch er seufzte nur.
„Ich bin zu meinen Eltern gefahren. Ich wusste nicht, wo ich sonst hin sollte. Und... bitte werd nicht sauer, aber ich habe mich gestern Mittag mit Karima getroffen. Sie war nett und hat mir alles erklärt. Sie wird mich in Ruhe lassen", antwortete er und Sheila war sofort aufmerksam. Zwar wusste sie, dass er sich mit ihr hatte treffen wollen, doch dass er sofort zu ihr fuhr, sobald sie aus der Haustür verschwunden war, verletzte sie ein wenig.
„Habt ihr euch geküsst oder so?", platzte es aus ihr heraus, doch Jonathan lachte leise.
„Nein. Ganz im Gegenteil. Sie meinte, dass ihr klar geworden ist, dass sie mich mit ihrer Masche nicht rumbekommt und sie hat versprochen, es sein zu lassen. Ich glaube, sie meint es ehrlich", berichtete er und obwohl sie ihm glauben wollte, blieb sie misstrauisch.
„Hat sie dich irgendwie berührt oder so?", bohrte sie weiter, doch Jonathan stöhnte.
„Hör auf, mich auszufragen. Es ist nichts passiert. Wenn ich wieder da bin erzähle ich dir alles bis in kleinste Detail wenn du willst", würgte er sie ab und Sheila spürte, dass sie zu viel gefragt hatte. Er war schon wieder dabei, von ihr genervt zu sein.
„Okay. Dann will ich dich nicht weiter stören", gab sie zurück, doch er seufzte schon wieder.
„Jetzt sei doch nicht eingeschnappt", stöhnte er, dabei war Sheila nicht eingeschnappt. War es wirklich so schlimm, dass sie sich Gedanken machte, wenn er sich mit einer anderen traf?
„Ich bin nicht eingeschnappt. Das bist du in letzter Zeit immer", murmelte sie.
„Wie auch immer. Danke, dass du mich sofort angerufen hast. Wir kriegen das schon alles hin", sagte er, doch Sheila hatte das Gefühl, dass er sie loswerden wollte.
„Okay. Eine Frage habe ich aber noch", sagte sie und wartete mit pochendem Herzen auf seine Antwort.
„Ich höre", sagte er und klang eindeutig genervt. Langsam schüttelte Sheila den Kopf. Noch vor fünf Minuten schien er wirklich glücklich darüber zu sein, dass er Vater wurde und nun war er kalt und abweisend.
„Wann kann ich nachfragen, wann du wieder nach Hause kommst?", wollte sie wissen, denn einerseits wollte sie ihn nicht ständig auf die Nerven fallen, andererseits konnte sie nicht ewig auf ihn warten.
„Du fehlst mir schon jetzt. Aber... ich denke ich komme spätestens zum Wochenende zurück. Aber wenn du willst, kannst du mir immer schreiben, okay?", sagte er überraschend sanft.
„Okay. Dann bis spätestens am Wochenende und... ich liebe dich", sagte sie, dann legte sie auf, ohne seine Erwiderung abzuwarten. Noch einmal diesen genervten Unterton würde sie nicht ertragen.
Sheila straffte die Schultern und warf einen Blick auf die Uhr. Sie würde sich so langsam auf den Weg zur Arbeit machen müssen, wenn sie nicht zu spät zur Probe kommen wollte. Also startete sie den Motor und fuhr los. Während sie fuhr wählte sie die Nummer ihres Vaters und stellte ihr Handy auf Lautsprecher. Schon am ersten Tag mit Matthias alter Schrottkiste vermisste sie ihre Freisprechanlage. Doch anstatt ihres Vaters meldete sich Lisa, begleitet von schreienden Kindern im Hintergrund. Ein ziemlich unpassender Moment, um von ihrer Schwangerschaft zu erzählen.
„Hi, ich wollte nur fragen, wann ich das Auto in die Werkstatt bringen muss", fragte sie Lisa.
„Oh, das weiß ich gar nicht so genau. Bist du unterwegs?", fragte Lisa dann und sie hörte, wie sie irgendetwas zu ihren kleinen Halbgeschwistern sagte.
„Ich muss kurz zur Arbeit. Kann ich vielleicht zum Mittagessen vorbeikommen?", fragte sie.
„Klar doch. Tut mir leid, aber hier ist gerade die Hölle los. Wir sehen uns später", rief Lisa. Sheila verabschiedete sich noch, dann legte sie auf und warf ihr Handy in ihre Handtasche auf dem Beifahrersitz.
Sie fuhr den restlichen Weg zum Varieté und parkte direkt neben Karim, der gerade aus seinem Auto stieg.
„Hi", rief sie und hob die Hand zum Gruß. Er zuckte zusammen, doch dann erwiderte er den Gruß.
„Oh, ich habe dich gar nicht gesehen. Wie geht's dir?", fragte er.
„Ganz gut, und selbst?", erkundigte sie sich, doch als Antwort nickte er nur. Sie wartete, bis er um sein Auto herumgegangen war und gemeinsam gingen sie in Richtung Eingang.
„Noch drei Wochen und einen Tag haben wir Zeit, alles zu proben", sagte er dann und klang nervös.
„Das wird schon. Ich finde uns schon ganz gut", erwiderte sie, doch er seufzte.
„Warum hast du mir nicht gesagt, dass es so viel Stress ist, die Leitung der Aufführung zu übernehmen?", fragte er und lachte leise, aber nicht fröhlich, sondern eher ängstlich. Sheila wusste, wie er sich fühlen musste. Doch obwohl sie selbst schon zwei Mal die Leitung der Mitarbeiter-Vorführung übernommen hatte, war sie nicht so nervös gewesen wir er.
„Mach dich nicht verrückt. Denk immer daran, dass das Publikum bei einem Act von den Mitarbeitern nichts Professionelles erwartet. Wir können sie gar nicht enttäuschen", versuchte sie ihn aufzumuntern, aber er wirkte nicht wirklich überzeugt, obwohl er nickte.
„Trotzdem bin ich irgendwie nervös. Ich will, dass es perfekt wird", sagte er und sie konnte das nur zu gut verstehen.
„Niemand ist perfekt", gab sie kühl zurück und dachte an ihre eigenen Schwächen.
„Wenn du tanzt bist du es", lachte er, doch dann senkte er verlegen den Blick.
„Ich meine... du bist wirklich gut", korrigierte er sich und fummelte verlegen an seinen Haaren herum. Sheila kicherte, denn es war lustig, wie er sich wand.
„Danke, du aber auch. Und Daniel auch, ich denke, es wird richtig gut", sagte sie, dann betraten sie die Bühne. Daniel war noch nicht da, doch es war auch erst zehn vor zehn.
„Ich kümmere mich schon mal um die Technik", sagte Karim und verschwand im Raum hinter der Bühne. Sheila nickte noch, dann setzte sie sich im Schneidersitz auf den Parkettboden. Unwillkürlich legte sie ihre Hand auf ihren Bauch. Man sah noch nichts und sie spürte es auch nicht körperlich, doch allein der Gedanke, dass ein kleiner Mensch in ihr wuchs, bescherte ihr eine Gänsehaut.
Sie hatte vorhin lange mit dem Arzt gesprochen und sie hatte ihn gefragt, ob sie noch bis zur Aufführung tanzen konnte und er hatte ihr versichert, dass es kein Problem sein würde. Sie sollte einfach auf ihren Körper hören. Doch die Aufführung musste sie auf jeden Fall noch hinter sich bringen, wenn sie jetzt noch ausstieg würde Karim eine Krise bekommen. Außerdem freute sie sich auf die Aufführung und wollte sie nicht ausfallen lassen.
„Hey, da bist du ja schon", riss sie eine vertraute Stimme aus ihren Gedanken und sie wandte sich um. Daniel betrat die Bühne und setzte sich neben sie.
„Alles gut?", fragte er und sie nickte.
„Karim ist noch im Technikraum", sagte sie und genau in diesem Moment kam Karim zurück und sie fingen an, noch einmal alles zu proben.
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