Dem Ziel nahe
Das Taxi setzt sich monoton brummend in Bewegung. Die Erregung des Mordes ebbt dieses Mal deutlich eher ab, als sonst. Liegt wohl an meiner Enttäuschung. Hatte gehofft ein wenig mehr Widerstand von dieser Saskia zu bekommen. Stütze meinen Kopf auf die rechte, noch vom Schweiß angefeuchteten, zur Faust geballten Hand. Schaue abwesend auf die Gebäude und Menschen, die am fahrenden Taxi vorbeiziehen. Doch auch, wenn der Mord von eben äußerst langweilig für mich von statten gegangen ist, mischt sich belebende Vorfreude in meinen Geist. Schließlich bekomme ich nun endlich den Seeker zu Gesicht und setze einen gewaltigen Schritt in Richtung meines endgültigen Ziels. Er muss einfach wiederkommen. Die eine Person, die ich nie habe töten können. Bin ihm nie gewachsen gewesen. Doch das war einmal. Dieses Mal läuft es anders. Meine Macht hat ihr volles Potential erreicht. Das wird er spüren. Ohne, dass ich es groß mitbekommen habe, hat sich mein Mund zu einem breiten Grinsen verzogen. Der Gedanke, ihm endlich wieder gegenübertreten zu können vertreibt vollends die vorherige Enttäuschung.
„Darf ich fragen, was der Seeker für Sie tun kann?“, unterbricht die sanfte Stimme Kaleidos meine berauschenden Gedanken. Richte einen Seitenblick auf meinen freundlich lächelnden Begleiter, welcher vorsichtig seinen Anzug glattstreicht.
„Benötige lediglich einen bestimmten Gegenstand. Mehr musst du nicht wissen“, gebe ich so neutral, wie ich kann zurück. Wahrscheinlich klingt das grob. Wenn dem so ist, lässt sich dieser Kaleido absolut nichts anmerken.
„Schade. Vielleicht kann ich Ihnen bei Ihrem Vorhaben behilflich sein“
Schüttel wortlos den Kopf, egal wie vertrauenswürdig er für mich in diesem Moment wirken mag.
Klammere mich an das Gefühl der Vorfreude, welche sekündlich in mir stärker zu werden scheint. Nach einem Jahr der Vorbereitung.
Angefangen nachdem ich damals diesen widerlich starken Reborn Sin erledigt habe. Und die Kugel des Worse an den Pseudomessias zurückgegeben habe. Für eine kurze Zeit ist er wieder auf diesem Planeten gewesen. Meine Nemesis. Den Einen, den ich niemals habe töten können. Worse. Es muss sein. Will gegen ihn kämpfen. Seine Existenz beenden. Dazu brauche ich das Buch, von dem ich weiß, dass der Seeker es besitzt. Das Grimoire. Ein uraltes Buch, das laut Erzählungen in der Lage sein soll, die Welt mit einzelnen Riten aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Erinnere mich an einen besonders resignierten Abend in eine der neueren Bars meines neuen Jagdgebietes. Einige Wochen nach meinem finalen Kampf gegen Reborn Sin. In der hintersten Ecke, eine Bloody Mary schlürfend und meinen Gedanken nachhängend. So ist mir entgangen, wie jemand an mich herangetreten ist.
11 Monate früher
„Darf ich mich setzen?“, fragt eine mir entfernt bekannte, weibliche Stimme freundlich. Ohne eine Antwort abzuwarten, nimmt die Dame auf dem Stuhl gegenüber platz. Sie besitzt einen lasziven Unterton, als würde sie mich nach einem Fick fragen wollen. Schrecke etwas hoch. Derart in Gedanken versunken und den Blick auf mein Glas gerichtet, dass ich alles um mich herum ausgeblendet zu haben scheine. Mustere die Person vor mir. Äußerst knapp bemessendes, dunkles Kleid, welches nicht allzu viel von der überaus üppigen Oberweite des Neuankömmlings verdeckt. Dunkle, lockige Haare umspielen ästhetisch ihr hellhäutiges, beinahe blasses, mondförmiges Gesicht. Tiefblaue Augen blicken mir fest in meine Verschiedenfarbigen, ohne dass ich ihren Blick zu deuten vermag. Kann mich nicht erinnern, sie schon mal gesehen zu haben. Dennoch kommt mir irgendetwas an ihr gewaltig bekannt vor. Spanne mich an.
„Wer bist du?“, stoße ich mit Abscheu hervor.
„Ihr Männer seid alle gleich. So schnell vergesst ihr eine Lady“, erwidert sie und ihre vollen, roten Lippen formen für kurze Zeit ein leichtes Lächeln. Gemächlich, als würde sie meinen Körper für eine Nacht abchecken, wandern die stechenden Augen an mir herunter und wieder zurück. Hebe eine meiner Augenbrauen. Sie redet, als würde sie mich kennen. Bin mir jedoch ziemlich sicher, ihr noch nie im Leben begegnet zu sein.
„Wiederhole mich nur ungern. Wer bist du? Oder soll ich dir die Worte aus deiner scheiß Kehle schneiden!?“ Jetzt ist sie es, die ihre sauber zurechtgestutzten Augenbrauen erhebt. Kurz legt sie ihren Kopf schief.
„Du hast mich wirklich vergessen? Okay? Na gut. Du darfst mich gerne „Honey“ nennen. Ich leite eine, nun, autonome Gruppe des Syndikats“, erklärt sie sich etwas irritiert. Mustere sie. Diese Frau? Die sieht eher aus wie eine dieser Instagram-Nutten von früher. Das Syndikat also. Dann ist es wahrscheinlich, dass Honey Einauge gekannt hat. Ein Stich im Inneren. Einauge. Die Erinnerung an meinen verstorbenen Partner schmerzt. Fasse mich rasch wieder.
„Okay und weiter?“, murre ich, an meinem Drink nippend. Sie lächelt wieder. Lehnt sich etwas zurück und zupft an ihrem Ausschnitt, als müsste sie etwas wieder geradestecken.
„Weißt du eigentlich, dass du innerhalb unserer Gefilden in aller Munde bist?“, säuselt die zwielichtige Schwarzhaarige in fast schon erregter Stimmlage. Ist wohl ihre Art. Versucht damit scheinbar willensschwache Kerle um den Finger zu wickeln. Klappt wahrscheinlich bei den meisten auch.
„Bin ich das nicht immer? Gefürchtetster Serienmörder und so? Wollte Beptus auf die Welt loslassen? Habe beinahe den Messias getötet“, gebe ich unberührt zurück und nippe genüsslich an meinem blutroten Cocktail. Behalte meinen Gegenüber permanent im Blick.
Als würden meine Worte erotische Komponenten enthalten, beißt sich die dunkelhaarige Honey auf die linke Seite ihrer vollen Unterlippe. Lasziv stützt sie ihren blassen Kopf auf den linken Handrücken auf. Starrt mir unentwegt in die Augen.
„Du bist schon ein schlimmer Junge“, beginnt sie beinahe säuselnd ihre Antwort zu formulieren, atmet hörbar ein und fährt lächelnd fort: „Darum geht es mir nicht. Du hast etwas vernichtet, was ein Mensch allein nicht vernichten könnte“. Ihre Stimme klingt lobend. Glaube jedoch einen seltsamen Unterton herausgehört zu haben. Hebe eine Augenbraue hoch. Sie meint Reborn Sin.
„Hatte Hilfe“, gebe ich beiläufig zu, lehne mich etwas zurück und verschränke meine Arme. Bin mir mehr als unsicher, was sie von mir will. Wohin dieses nervige Geplänkel führen wird. Ihr zartes Lächeln bleibt bestehen. Schnalzen ist zu hören.
„Von Something Worse. Interessant, nicht?“, sie erhebt sich langsam und schreitet eleganten Schrittes um mich herum. Beugt sich zu mir runter, sodass ihre vollen Lippen mein linkes Ohr berührt. Spanne meinen gesamten Körper an. Bereit sie zu packen. Eventuelle Kräfte zu unterdrücken.
„Du bist der einzige Mensch, dem sich Worse zeigt. Welchem er geholfen hat. Das hat in unseren Reihen für ordentlich Furore gesorgt, mein Schöner“, haucht sie und ich kann es nicht anders, als erotisch finden. Muss kurz meine Augen schließen, um die körperumfassende Gänsehaut genießen zu können.
„Ey, Raphael! Lass dich doch nicht von einer Pseudo-Pornodarstellerin verführen. Du bist besser, als das“, protestiert Lars wild in meinem Kopf. Zurecht. Öffne erschrocken meine Augen. Danke Lars.
„Was möchtest du von mir, Honey?“, knurre ich, immer schlechter gelaunt. Spüre einen sanften Kuss auf meiner Wange. In einer fließenden Bewegung drehe ich mich zu ihr hin und greife zeitgleich mit meiner rechten Hand ihren Hals. Erschrocken weiten sich ihre Augen. Drücke etwas zu. Doch statt etwas zu zeigen, was ich für gewöhnlich in solchen Momenten gewohnt bin, verformt sich ihr erschrockener Gesichtsausdruck zu einem Lächeln.
„Du.. stehst also.. auf Würgen? Finde ich.. geil“, keucht sie und lässt Geräusche los, die ich als stöhnen identifiziere. Der Alten gefällt das auch noch!? Stehe auf und drücke Honey mit voller Gewalt gegen die nahegelegene Wand. Sie stöhnt lauter auf. Lässt ein „Weiter, Daddy“, entfahren. Geduld neigt sich dem Ende. Hole mit der freien Hand eines der speziellen Skalpelle aus meiner linken Manteltasche. Die Klinge ist rötlich verfärbt. Mein Blut klebt daran. Halte es ihr an den Mund.
„Beantworte meine Frage, ehe ich dir deine verfickte Zunge herausschneide. Mal schauen, ob du dann noch immer am stöhnen bist“, drohe ich ihr, und spüre, wie der unwiderstehliche Drang, diese Fotze einfach umzubringen, in mir hochsteigt.
„Ganz ruhig… Cowboy“, versucht sie, ihre mit schwarz lackierten Fingern „verzierte“ Hände beschwichtigend erhoben.
„Rede!“, brülle ich sie zornbebend an. Den Hals noch fester zugedrückt, beginnt sie endlich das um ihr Leben kämpfende Zappeln.
„Ok. Ok“, krächzt sie nun doch etwas ängstlicher. Lasse etwas an Kraft nach, damit sie in ordentlichen Sätzen reden kann. Sie hustet. Krallt sich an meinen Arm.
„Ich wollte dich… rekrutieren“, stößt sie nach Luft schnappend hervor. Augen weiten sich. Einige Momente lasse ich Stille einkehren, ehe ich brüllend zu lachen beginne. Garantiert bin ich mal wieder der Star der Barshow. Lasse sie los und schüttel mich vor lachen. Bekomme nicht mit was sie tut. Ist mir in dem Moment auch egal. War selten so amüsiert.
„Schön, dass du das so amüsant findest, Sleepless. Ich meine es ernst. Das Purgatorium kann jemanden wie dich super gebrauchen“, setzt sie mit Nachdruck nach. Lachen erstirbt. Starre ihr ohne zu blinzeln in die Augen. Hebe leicht meinen Kopf an, um Honey von oben herab anzuschauen.
„Bin nicht interessiert. Werde mich nicht unterwerfen, um auf Geheiß anderer zu morden“, antworte ich kühl und setze mich wieder auf meinen hölzernen Barstuhl. Kurze Zeit danach tritt Honey in mein Sichtfeld, jedoch ohne sich auf ihren vorherigen Platz hinzusetzen. Sie dreht sich mir zu.
„Du darfst es dir jederzeit anders überlegen. Als kleiner Anreiz. Solltest du vielleicht mit dem Gedanken spielen, etwas unanständiges zu tun“, sie lässt eine Pause. Habe das Gefühl, dass sie ahnt, was in mir vorgeht.
„Dann empfehle ich dir ein nettes Büchlein. Das Grimoire. Ein Buch, das dir bestimmt bei jedem noch so sehnlichen Wunsch behilflich sein wird“, beendet die Anführerin des Purgatoriums ihren Satz, haucht mir zwinkernd einen Luftkuss zu und verlässt die Bar.
An dem Tag habe ich zum ersten Mal vom Grimoire erfahren. Seither habe ich Honey nicht wiedergesehen. Irgendwas in mir sagt, dass die Einladung ins Purgatorium nur ein Vorwand gewesen ist, um mir von dem Buch zu erzählen.
„Wir sind da“, reißt mich die wohlige Stimme Kaleidos ein wenig später aus meinen Gedanken. Realisiere, aus dem Fenster blickend, was mein Begleiter gesagt hat. Auf meiner Fensterseite ist ein grauer, nicht gerade einladend wirkender Gebäudeklotz zu sehen. Abgesehen von einem elektrischen Stahltor, welches ein großflächiges Rostbraun erkennen lässt, hat dieser Klotz nichts bemerkenswertes an sich. Und gerade das ist das Auffällige. Kein einziges Fenster. Kein anderer Eingang. Nur zwei verdächtig nach Exmilitär aussehende Wachen. Beide in ähnlichen, schwarzen Anzügen. Sonnenbrille auf. Rote Krawatten. Schwarze Anzughosen. Pistolenhalfter mit Waffe. Glänzende dunkle Schuhe.
„Und da komme ich rein?“ Unglaube legt sich in meine Stimme. Habe das Gefühl, dass ich es äußerst schwer habe, gegen die Gorillas zu packen, sollte ich mich als ungeladener Gast herausstellen. Doch in das bereits offenherzig blickende Gesicht des Logenanführers legt sich ein sanftes Lächeln. Eine wärmende Woge der Beruhigung breitet sich in meinem zweifelnden Inneren aus.
„Damit“, antwortet er, holt einen weißen Briefumschlag aus der Innenseite seines Anzuges hervor und hält ihn mir hin. Nehme ihn zu mir. Öffne ihn. Hole eine rote Chipkarte hervor. Drehe sie mit erhobenen Augenbrauen um.
„Da steht nichts drauf“, kommentiere ich.
„Gut erkannt. Da ist lediglich der Chip auf der anderen Seite. Mehr braucht es nicht. Den zeigen Sie dem Gentleman dort vor dem Tor und sagen, dass Sie die Sonnenloge vertreten“, erklärt Kaleido lächelnd.
„Sachen gibt‘s“, murmele ich und lasse die Chipkarte in meine Manteltasche gleiten.
„Und du?“, frage ich mit einem kurzen Seitenblick, während ich im Begriff bin, das Taxi zu verlassen.
„Sie haben zum Ausdruck gebracht, dass meine Hilfe unerwünscht ist. Daher lasse ich Sie das alleine angehen“, erklärt der Dunkelhaarige und wenn er darüber enttäuscht ist, dann schafft er es, sich dies nicht anmerken zu lassen. Ein leichter Hauch der Nervosität macht sich in mir breit. Nicke ihm wortlos zu.
„Möchten Sie nach vollendeter Aufgabe wieder mitgenommen werden?“, fügt Kaleido sanftmütig als Frage hinzu. Schüttele den Kopf. Der Logenboss nickt zum Zeichen, dass er verstanden hat. Hält mir eine seiner gepflegten Hände hin. Schüttele sie kurz.
„Viel Erfolg bei Ihren künftigen Vorhaben. Es war mir eine Ehre Ihre Bekanntschaft zu machen“, verabschiedet sich Kaleido hochgradig freundlich bei mir. Nehme mir den Duplikator.
„Gleichfalls“, erwidere ich knapp und verlasse das noch gleichmäßig brummende Taxi. Ohne mich nochmal umzudrehen, gehe ich festen Blick auf die Wachmänner gerichtet zum grauen Gebäudeklotz. Die Beiden fixieren mich.
„Eintrittskarte!“, blafft mich einer der schwerbewaffneten Typen an. In der rechten Hand hält er ein schwarzes Kartenlesegerät. Überreiche wortlos die Chipkarte. Der bessere Kontrolleur mit Knarre hält sie an das etwas zerkratzte Display seines Gerätes, bis ein doppeltes Piepen zu hören ist. Mein Gegenüber richtet sein maskiertes Gesicht auf mich. Aus den Schlitzen seiner schwarzen Sturmmaske blicken mich braune Augen an. Kann nicht anders, als sie als „tote Augen“ zu assoziieren. Kurz wandern sie zu dem Duplikator. Für die Beiden muss das ziemlich seltsam wirken. Ein Typ mit einer ranzigen Gießkanne.
„Wen vertreten Sie, Herr Gärtner?“, murrt der Maskierte und versucht offensichtlich lustig zu sein.
„Die Sonnenloge“, erwidere ich knapp. Die Beiden werfen sich einen Blick zu. Dann hellt sich die Stimme der maskierten Wache direkt vor mir auf. Die Spannung in der Körperhaltung ändert sich. Wirkt angespannt.
„Oh verzeihen Sie. Das Syndikat ist jederzeit willkommen. Treten Sie ein“, spricht der Wachmann seltsam respektvoll. Hebe eine Augenbraue. Die zweite Wache schiebt eine Hand in seine Jackett-Tasche. Kurz danach ein erschreckend lautes Quitschen. Stahltor öffnet sich. Gibt den Blick auf Dunkelheit frei.
„Wen muss ich ansprechen, wenn ich mich nach einer gewissen Person erkundigen will?“, frage ich so beiläufig, wie ich kann.
„Ich kann Ihnen behilflich sein. Die Gästeliste ist äußerst übersichtlich“, antwortet der Wärter mit dem Lesegerät.
„Der Seeker. Ist er da?“ Wieder werfen sich die beiden Maskierten einen Blick zu, ehe der Türöffner von ihnen antwortet: „Er ist vor kurzem angekommen“ Herz macht einen Hüpfer. Grinsen breitet sich über meinem Gesicht aus.
„Sehr gut“, gebe ich knapp von mir und setze mich in Bewegung. Je näher ich dem Tor komme, desto eher sehe ich, dass sich direkt dahinter eine Treppe befindet. Veranstaltung unter der Erde? Praktisch. Trete in das Gebäude ein. Ein Lichtpunkt am Ende der Treppe. Gehe langsam darauf zu. Je weiter ich schreite, desto kühler wird die überraschend frische Umgebungsluft. Habe mir das Ganze etwas stickiger vorgestellt. Kahle graue Wände. Glatt. Keine Anzeichen von Rissen oder anderen Unebenheiten. Meine Schritte hallen von den Wänden wieder. Geräuschpegel schwillt mit jedem Schritt deutlicher an. Stimmengewirr. Der Widerhall lässt nach. Komme unten an. Die grobe Lichtveränderung blendet meine Augen. Kneife sie kurz zusammen. Blicke mich, als ich mich an die Helligkeit gewöhnt habe, in dem Raum um. Sehe mich einer festlich eingerichteten Halle gegenüber. An der Decke hängen in, perfekter Symmetrie platziert, 6 irrwitzig große, Kronleuchter. Die wie Kristalle aussehenden Verzierungen funkeln unregelmäßig. Der Boden ist vollkommen mit schwarzem, nicht reflektierenden Gestein ausgelegt. Wie auch immer das funktioniert. Unzählige Stehtische, auf denen Blumen und Teller mit allerhand Speisen stehen. Am anderen Ende das Raumes ein langgezogener, mahagoniefarbender Tresen. Allerhand Getränke in den Regalen dahinter. Scheint die Bar zu sein. Zwei Anzugträger, die Drinks in glänzende Gläser füllen. Sehr wahrscheinlich die Bar.
„Fucking Hell. Was ist das denn für ein Bonzenverein“, murmele ich zu mir selbst.
„Das ist sowas von weit über unserem Standard“, sagt Lars in meinem Kopf
„Bin ich auch froh drum“, antworte ich ihm.
„Ach ich weiß nicht. Stell dir uns vor. Im Anzug. Häppchen essen. Über überaus wichtige Themen mit all den Menschen philosophieren“, witzelt Lars. Muss mich zurückhalten nicht loszuprusten.
„Der Stock muss dann aber wirklich tief im Arsch sitzen“, murmele ich zurück.
Erkenne um die 15 Menschen in Anzügen und Kleidern. Eine rothaarige Frau sticht mir besonders ins Auge mit einem noch intensiver wirkenden, gleichfarbigen Kleid. Fühle mich vollkommen deplatziert mit meinem dreckigen, löchrigen Staubmantel. Der abgetragenen blauen Jeans. Meinen dunklen Sportschuhen. Habe kein Ahnung wohin mit mir. Entscheide mich für die Bar. Beachte nur kurz das gemächliche Treiben um mich herum. Leute, die mich anschauen wie einen Sonderling. Wie sie hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln beginnen. Entweder erkennen sie mich, oder sie lästern über mein unpassendes Erscheinungsbild. So oder so irrelevant für mich. Auch das Barpersonal zeigt diese Reaktion. Bei näherer Betrachtung erkenne ich, dass die beiden Typen beinahe gleich aussehen. Sauber zu einem Zopf gebundene, hellbraune Haare. Bartlose, glänzend geschminkte Gesichter. Rehbraune Augen. Ihre Gesichter wirken wie glattgebügelt. Dunkle, makellos hergerichtete Anzüge. Beide tragen jeweils einen goldenen Ring an ihrem Ringfinger. Zwillinge. Starre den jungen Mann direkt vor mir in die Augen. Warte, bis er mich fragt, was ich möchte. Er erwidert wortlos meinen Blick. Hebt dabei seinen Kopf etwas. Schaut mich von oben herab an. Irgendetwas stimmt mit dem nicht.
„Auch dir einen schönen Abend. Habe nur eine kleine Frage“, murre ich, bevor das ungemütliche Schweigen mich wütend werden lässt.
„Was wollen sie“, erwidert der Barmensch direkt vor mir. Seine Stimme und die Art, wie er das „sie“ betont, triefen vor Abscheu. Merke, wie er es richtig zu kotzen zu finden scheint mit mir reden zu müssen. Finde ich gut. Habe also keinen Grund falsche Freundlichkeit zeigen zu müssen.
„Wo finde ich den Seeker?“, frage ich eine ganze Spur kälter. Die aalglatten Zwillinge werfen sich einen vielsagenden Blick zu, ehe der vor mir antwortet: „Jemand wie sie will zum Seeker?“
Die Stimme des Barkeepers schäumt vor Arroganz. Mir wird warm. Wut steigt in mir empor.
„Wenn du weißt, was gut für dich ist, wirst du mir sagen, wie ich den Seeker finde“, knurre ich, während sich meine rechte Hand in der Manteltasche um den kalte Stahl eines Skalpells legt. Der arrogante Hurensohn beginnt zu lachen. Sein Zwillingsbruder steigt lauthals mit ein.
„Schwerer Fehler“, kommentiert Lars in meinem Kopf seufzend die Reaktion der Beiden. Alles in mir bebt. Körper zittert vor Zorn. Da legt sich eine Hand sanft auf meine Schulter. Eine neue Stimme neben mir.
„Meine Herren. Behandelt man so einen Gast? Dazu noch einen so berühmten, welcher ein Günstling des Syndikats ist?“, spricht der Neuankömmling. Mein Blick wandert zur Seite. Sehe mich neben einem leicht nach vorn gebeugten, glatzköpfigen Mann. Er ist einige Zentimeter größer als ich. Seltsame Ausstrahlung. Obwohl er größer und genauso breit gebaut ist, wie ich, wirkt er durch die Beugung etwas gebrechlicher. Auch der feine dunkle Anzug, wie ihn jeder hier trägt, hat an ihm eine deutlich mächtigere Wirkung. Augenblicklich verändert sich der Gesichtsausdruck der Zwillingen vollkommen.
„Aber-“
„Nichts aber. Auch wenn der Dresscode nicht erfüllt worden ist, sollten Sie mit Sleepless nicht so reden“, fällt der Unbekannte dem sichtlich verdutzten Barkeeper ins Wort. Lockere den Griff um mein Skalpell. Merke, wie meine Wut allmählich abebbt. Die Augen der beiden Braunhaarigen weiten sich etwas, als sie meinen Namen hören. Sie scheinen zu begreifen. Der Haarlose wendet sich mir zu und ich blicke in eine graue Vollmaskierung. Mittels einer subtilen Handgeste bedeutet er mir, ihm zu folgen. Etwas in mir sagt, dass es richtig ist, ihm zu folgen. Gemeinsamen Schrittes entfernen wir uns von dem Tresen und lassen die Zwillinge ohne weitere Worte zu verlieren hinter uns. Durch eine Seitentür in einem ruhigeren Raum angekommen, der lediglich zwei tiefblaue Sessel besitzt. Werde gebeten mich zu setzen. Als ich dem nachgekommen bin und der ältere Mann im schwarzen Anzug es mir gleichgetan hat, beginnt er umgehend zu sprechen: „Ich habe gehört, dass Sie mich suchen, junger Mann?“ Herz schlägt schneller. Dachte ich es mir doch. Er ist es. Sitze dem Seeker gegenüber, welcher mich mit stechendem Blick mustert. Dann wandert dieser hinab zu dem Duplikator.
„So ist es. Und du kannst dir garantiert denken, worum es mir geht“, erwidere ich, hebe den Duplikator auf meinen Schoß und starre die Maske des Seekers an. Wenn er den Gegenstand, der wie eine weiße Gießkanne aussieht, erkennt, lässt mein Gegenüber sich das zumindest nicht anmerken.
„Aaah. Nach diesem Stück suche ich bereits sehr lange. Ich nehme an, dass Sie mir das nicht einfach so überlassen möchten?“, fragt der Seeker, die Hände vor seine graue Maske gefaltet. Beginne breit zu lächeln.
„So ist es“, gebe ich grinsend zurück. Ein Hoch breitet sich in mir aus. Jetzt nur nichts überstürzen. Die stechenden Augen des Seekers bohren sich in die Meinen.
„Ich schätze der Wert dessen, was Sie begehren deckt sich mit dem Duplikator auf Ihrem Schoß?“, spricht der glatzköpfige Mann wissend. In seiner Stimme schwingt reines Interesse mit. Mein Lächeln soll seine einzige Antwort sein.
„Für gewöhnlich trenne ich mich nur äußerst ungern von einem Stück aus meiner Sammlung. Dennoch ist der Duplikator als Tauschobjekt nicht zu verachten. Was ist Ihr Begehr, junger Mann?“
Die Aufregung steigt immer weiter. Es ist wie eine wunderbare Vorfreude. Mein Ziel ist zum Greifen nahe.
„Das Grimoire“, gebe ich vielsagend zurück. Stille. Der Seeker scheint nachzudenken. Abzuwägen.
„Das ist ein äußerst gefährliches Artefakt. Apokalyptisch in den falschen Händen. Sie gehören zu den gefürchtetsten Menschen, die je auf dieser Erde gewandelt sind. Jedoch“, er hält kurz inne. Wahrscheinlich betrachtet er den Duplikator.
„Der Duplikator in Ihren Händen ist ein mindestens genau so gefährliches Artefakt. So oder so besitzen Sie mehr Macht, als gut für diese Welt wäre. Aber der Fakt, dass Sie vor einem Jahr die Welt von Reborn Sin befreit haben, spricht dafür, dass Sie doch einen gewissen Wert in der Erhaltung der Erde sehen“, denkt der Seeker laut. Offenkundig in einem Dilemma verstrickt.
Tippe, immer ungeduldiger werdend mit meinem Fuß auf den Boden. Lautes Durchatmen unterbricht die entstandene Stille.
"Schön. Der Tausch findet statt"
Herz springt bei den Worten. Endlich. Es wird geschehen. Der maskierte Seeker erhebt sich von seinem Platz. Langsame Schritte. Zur rechten Wand. Er tippt wahllos erscheinende Positionen an. Klickendes Geräusch als Resonanz. Vor dem Seeker schiebt sich zischend ein quadratisches Stück Wand in der Größe eines A2 Plakates zur Seite. Ein schwarzes, sehr alt aussehendes Buch kommt in Sicht.
"Ganz schöner Zufall, dass ausgerechnet hier das Buch zu finden ist", kommentiere ich skeptisch. Es könnte überall sein. In den tiefsten Tiefsten. Hinter fünffach gesicherten Safes. Aber es ist ausgerechnet hier.
"Es gibt keine Zufälle in meiner Welt, mein junger Freund. Ich habe meine Methoden, die Dinge dort zu haben, wo immer ich sie haben möchte", erwidert mein Geschäftspartner kryptisch. Vorsichtig, als könnte das Grimoire bei jeder noch so entfernt unsanften Berührung zu Staub zerfallen, greift der Seeker in das Versteck. Entnimmt mein Objekt der Begierde. Wendet sich wieder mir zu. Besieht sich des Werkes, bevor er auf mich zukommt.
"Was immer Sie mit diesem Buch zu tun gedenken. Seien Sie gewiss, dass dieses Objekt jede Menge unerwünschter Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird", spricht der glatzköpfige Sammler in mahnender Stimmlage. Und als wären diese Worte Teile einer sich erfüllenden magischen Formel, bricht es panisch von Lars aus meinem Kopf hervor: "Sleepless! Schüsse hinter dir. Lass dich zu Boden fallen!"
Ohne darüber nachzudenken, befolge ich auf der Stelle seinen Rat. Im selben Augenblick brechen ohrenbetäubende Knallgeräusche hinter mir los. Auch der Seeker geht zu Boden. Jedoch nicht, weil er sich rettet. Bewegungslos liegt der Glatzkopf getroffen am Boden. Zwei Beinpaare kommen vor mein Sichtfeld. Erschrocken heb ich meinen Blick. Erkenne die Körperformen der Beiden. Es sind die maskierten Wachmänner vom Tor. Einer der Beiden hält ein Maschinengewehr auf mich gerichtet. Vermutlich sind die Waffen irgendwo zwischengelagert gewesen. Vorhin waren die beiden Gorillas noch nicht derart schwer bewaffnet.
"Bleiben Sie besser liegen, Sleepless. Wir sind nicht Ihretwegen hier", knurrt der Angreifer, der vorhin ebenfalls meine Karte gescannt hat. Balle meine Hände zu Fäusten.
Kribbelnder Zorn in mir. Will hochspringen und diesen Hurensöhnen zeigen, mit wem sie sich gerade anlegen. Doch wenn ich mich bewege, bin ich tot. Dann habe ich auch nichts gekonnt. Muss mitspielen. Bleibe liegen.
Der andere Maskierte hebt den erschossenen Seeker vom Boden, samt Grimoire. Während er das tut, rutscht der Ärmel seines Jacketts hoch. Ein Tattoo in Halbmond-Form kommt zum Vorschein. So eines hatte doch...
"Ihr seid von der Mondloge", sage ich fassungslos.
"Scheiße. Er hat dein Tattoo gesehen, du Vollidiot", blafft der Waffenhalter zum Leichenträger.
"Fuck und jetzt?", kommt vom Anderen, der hastig mit der Buchhand seinen Ärmel wieder runterkrempelt.
"Wir dürfen ihn nicht töten. Ausdrücklicher Befehl"
"Verschwinden wir", sagt der Leichenträger eilig und wartet auf keine Erwiderung. Bekomme einen Tritt in mein Gesicht. Flimmern vor meinem Auge. Mir ist schwindelig.
"Dein Glück, Kleiner", knurrt der Maskierte direkt vor mir. Seine Stimme klingt hallig. Den zweiten Tritt spüre ich nur kurz, bevor ¬ich das Bewusstsein verliere.
Epilog
"Musste das wirklich sein?"
"Leider ja"
"Hätten Sie diesen Zugriff nicht ein wenig sanfter über die Bühne bringen können?"
"Dann hätte es nicht diesen, nun, Effekt gehabt"
"Und die Objekte?"
"Genau hier", antworte ich und zeige lächelnd auf das Grimoire und den Duplikator
"Was möchten Sie dafür?"
"Nichts. Sie gehören beide Ihnen, mein werter Seeker", erwidere ich und betrachte den maskierten Sammler auf dem schwarzgepolsterten Sofa vor mir.
"Nichts auf dieser Welt ist kostenlos"
"Nun denn. Sagen wir so. Es kann sein, dass ich eines Tages bei irgendeiner Sache Hilfe benötige. Dann freue ich mich darauf Ihre Hilfe in Anspruch nehmen zu dürfen, Seeker", sage ich und falte meine behandschuhten Hände zusammen, nachdem ich mir über meinen stoppeligen Drei-Tage-Bart gestrichen habe. Der eifrige Seeker scheint einige Augenblicke über meine Worte nachzudenken. Dann nickt er.
"Wir haben ein Geschäft"
"Freut mich zu hören"
"Nun denn. Sleepless ist ein sehr eigensinniger Charakter"
"Da sagen Sie was", ich lächele etwas breiter. Erinnere mich an gemeinsame Zeiten.
"Ich frage mich, was er mit dem Buch vorhatte"
"Nichts Gutes. Darum habe ich gehandelt"
"Er ist gefährlich"
Ich schweige.
"Was gedenken Sie, mit Sleepless zu tun, Einauge?"
Mein Blick festigt sich. Erhebe mich von meinem Platz.
"Das ist meine Sache. Aber es wird bald geschehen"
Fortsetzung folgt...
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