𝟖.𝟓 | 𝐄𝐢𝐧 𝐏𝐚𝐤𝐭 𝐚𝐮𝐬 𝐁𝐥𝐮𝐭 𝐮𝐧𝐝 𝐊𝐮𝐩𝐟𝐞𝐫

✥          ✥          ✥



Irgendwann wurde Amias den hungrigen Händen der Hölle entrissen.

Blinzelnd schlug er die Augen auf und sah in fremde, die ihn besorgt musterten.
„Er ist wach!", rief eine Frau aus.
Die Antwort darauf war bloß ein geknurrtes „Wichtig ist, dass er's auch bleibt". Amias meinte, die Stimme zu kennen.

Seine eigene Zunge klebte ihm am Gaumen und selbst als er die Lippen öffnete, entkam ihnen nicht mehr als ein Ächzen. Obwohl er hatte fragen wollen, wo er war, was geschehen war, was mit ihm geschehen würde.

Zu nichts davon war er fähig. Stattdessen merkte er, wie ihm seine Sinne bereits wieder entglitten: Seine Lider wurden schwer und die Augen blind, die Ohren taub gegen die Geräusche der Umwelt und seine Gedanken stumm.

Der langsam einsetzende Schmerz, der sich durch seinen gesamten Körper fraß wie ein grausamer Parasit, machte ihm die Entscheidung nicht schwerer. Der Prinz gab sich gerne den mütterlichen Armen der Bewusstlosigkeit hin, die ihn weit weg führte von dem Gefühl, dass jeder einzelne seiner Knochen zerschmettert sein musste.

„Verflucht!", stieß jemand aus, doch da war er schon nicht mehr im Stande, etwas zu begreifen.
Die folgende Ohnmacht war schwarz und bleiern. Keine Stimmen, keine eisigen Hände, bloß ein bodenloses Nichts, in dem er gefangen war. Wie der Tod; nur dass es nicht unendlich war.

Diesmal erwartete ihn in der Wirklichkeit kein Schmerz, sondern lediglich der Anblick eines pompösen Zimmers und, als er den Kopf unter einiger Anstrengung etwas zur Seite wandte, der einer auf einem Stuhl zusammengesackten Gestalt. Ihre Kleidung war die einer Kresniknina-Soldatin und ihr blondes Haar stand von ihren Zöpfen in alle Richtungen ab.

Mit einiger Verwirrung stellte er fest, dass seine Hände leer waren, obwohl er darauf hätte schwören können, dass sein Buch eben noch dort gewesen wäre. Er spürte sein plötzliches Fehlen, als wäre es ein abgetrenntes Körperteil.

„W-Wasser", brachte Amias mühsam über die Lippen. Obwohl das Wort kaum hörbar war und seine Stimme tönte wie das Kratzen einer Feder auf Papier, schoss der Kopf des Mädchens nach oben.

Es war Kapralka Svarozhina. Und der Raum, wie er jetzt realisierte, sein Schlafzimmer im Palast des Zaren.
„Ihr ... Ihr seid wach!" Trotz der tiefen Schatten unter ihren Augen breitete sich ein strahlendes Lächeln in Nadzhas Gesicht aus. „Ich hatte schon befürchtet ..."

Kopfschüttelnd schien sie den Gedanken zu vertreiben und hastete stattdessen mit einem atemlosen „Wartet" aus dem Raum, nur um wenig später mit einer Ridavka in der schwarz-blauer Uniform einer Heilerin und einem nervösen Khomiakov zurückzukehren. 

Dem Höfling entkam ein kleiner Jauchzer zwischen Verzweiflung und Freude: „Er ist wach!"
„Ja, das sehe ich", erwiderte die fremde Kresnitsa nüchtern und wandte sich sogleich Amias zu. Ohne zu wissen, was genau sie tat, spürte er doch die Magie durch seinen Körper klettern, wie eine warme Berührung, die ihn in seinem tiefsten Inneren erreichte.

Khomiakov sank vor dem Bett auf die Knie und sparte nicht an Tränen, die er über dem weißen Laken vergoss. 

„Eure Kaiserliche Hoheit ... Kresnik sei Dank!", schluchzte er ergriffen und es schien nicht viel zu fehlen, dass er dem Prinzen auch noch Hände und Füße geküsst hätte.

Die Verwirrung über diese abstruse Posse musste man Amias ablesen können oder aber Nadzha entschied sich ganz von selbst, ihm alles zu erklären.
„Diese Ved'ma hat ein Gebäude zum Einsturz gebracht. Kapitan Hrushka und ich mussten Euch aus den Trümmern ziehen und ... Ihr hattet so viele Verletzungen, dass es ewig gedauert hat, das alles zu heilen. Ihr wart einen Tag bewusstlos. Ich habe schon befürchtet, dass es sogar für Magie zu spät ist."

Mit den ersten Erinnerungen drängten sich dem Prinzen auch die Fragen auf, die seine schwere Zunge nicht formen konnte. Was war aus Zinaïda geworden? Wo war sein Buch?
Aber Nadzha schien es sich ohnehin, unaufgefordert, zur Aufgabe zu machen, ihn über alle Ereignisse in hektischen, sich überschlagenden Sätzen zu informieren.

„Wäre Euch etwas zugestoßen, Eure Kaiserliche Hoheit, hätte ich mir das nie verzeihen können!", warf Khomiakov bei erster Gelegenheit theatralisch ein.

Langsam dämmerte Amias, was all das zu bedeuten hatte: Nadzha hatte Angst gehabt, die Konsequenzen tragen zu müssen, wenn er in ihrer Obhut starb. Genug, um ihm nicht von der Seite zu weichen. Demselben Umstand hatte er dann vermutlich auch die fragwürdige Ehre Khomiakovs bemüht rührenden Auftritts zu verdanken.

„Wenn ich irgendetwas für Euch tun kann, Eure Kaiserliche Hoheit ..."
„Wasser", krächzte Amias.
Doch der Höfling hörte ihm gar nicht richtig zu. Als er ihn stattdessen abermals mit einem Schwall schöner, demütiger Worte überhäufte, warf die Ridavka ihrer Kameradin einen entnervten Blick zu. 

„Wäre es wohl möglich Gospodin Khomiakov zu entfernen? Wie soll ich mich denn so um meinen Patienten kümmern?"

Nadzha nickte und schleifte den immer ununterbrochen lamentierenden Mann hinaus, wo seine Stimme irgendwo in den weitläufigen Fluren verhallte.

„Das wird jetzt ein wenig weh tun, Eure Hoheit", warnte die Heilerin, nur einen Moment, bevor die zarte innere Wärme in eine lodernde Hitzewelle umschlug, die ihn zu verschlingen drohte.
Keuchend krallte sich Amias in das seidene Laken. Doch so schnell wie der Schmerz gekommen war, verflog er auch wieder – ohne die geringste Spur von sich zurückzulassen.

Der Prinz wollte die Kresnitsa mit einem vorwurfsvollen Blick bestrafen, aber seine Augen glänzten bloß erschrocken. Sollte ihre Magie ihm nicht helfen?

„Verzeiht, Hoheit, aber Heilung ist eine schmerzhafte Angelegenheit. Sie hat immer ihren Preis", erklärte sie, ohne dass in ihrer dunklen Stimme wirklich ein Hauch von Mitleid oder Bedauern mitgeklungen wäre. 

Immerhin ließ sie ihm endlich das Wasser bringen, nachdem er noch einmal versucht hatte, danach zu fragen. Es fühlte sich merkwürdig fremd in seiner ausgetrockneten Kehle an und er schluckte ungeschickt, als täte er das zum ersten Mal.

Als Nadzha das Glas, das fast zu zart und kunstvoll war, um es tatsächlich zu benutzen, neben ihm auf dem Nachttisch abstellte, fiel Amias' Blick auf den einzigen anderen Gegenstand dort. Eine Taschenuhr.

„Was ist das?"
Nadzha zuckte mit den Schultern. „Eure Taschenuhr, nehme ich an. Ihr habt sie bei Euch getragen."

Das war sie mit Sicherheit nicht, aber wichtiger als die Anwesenheit dieses fremden Objekts, schien dem Prinzen in diesem Augenblick abermals das Fehlen eines anderen.
„Und Die Verdammten?"
„Was?"
„Mein Buch."

Ein Schatten huschte durch Nadzhas honigbraune Augen und ihre Lippen pressten sich zu einer harten Linie aufeinander. „Verzeiht, aber als Ihr geborgen wurdet, war es nicht da."

Die Worte versetzten ihm einen Stich im Herzen. Nicht nur, dass Amias jetzt nichts lieber getan hätte, als sich den Worten eines seiner Lieblingsschriftsteller hinzugeben, um sich dieser Welt für ein paar Momente zu entziehen. Die Ausgabe, die er bei sich getragen hatte, war vom Marquis höchstselbst signiert worden und damit einer seiner kostbarsten Besitztümer gewesen.

Nadzha Svarozhina räusperte sich peinlich berührt in die Stille hinein, die so schwer über dem Raum hing, als wäre gerade eine Todesnachricht überbracht worden. „Eure Hoheit, Ihre Majestät Euer Vater, wünscht Euch zu sprechen. Er wollte sofort davon erfahren, wenn Ihr bei Bewusstsein seid, um Euch zu sehen."

„Mein Vater?", fragte der Prinz mit einiger Verwirrung, als hätte er dessen Existenz ganz vergessen. 

Tatsächlich, bemerkte er jetzt, hatte er seit er vom Pferd geschossen worden war, kein einziges Mal daran gedacht, ob es ihm gut ginge.  Als die Kresnitsa in ihren ganzen Erklärungen erwähnt hatte, dass nicht nur die Zarewna Zinaïda, sondern auch der Imperator wohlauf waren, hatte er es beinahe überhört.

„Wenn Ihr Euch noch ausruhen wollt–" Der Ton, in dem Nadzha ihm dieses Angebot machte, war durchtränkt von einem Wunsch nach Wiedergutmachung.

„Nein, nein", wehrte er ab. „Mir geht es gut genug. Er kann mich sofort sprechen."
„Wir haben die Verantwortliche übrigens festnehmen können. Sie wird nicht straflos davonkommen." Mit einem letzten scheuen Blick auf ihn zurück, huschte die Magierin aus dem Zimmer.

Endlich alleine schälte sich Amias mühsam aus seinem Bett. Zwar war jeder seiner Muskeln schwach, aber vermutlich hätte es ihm schlechter gehen können. Um sich zu versichern, dass er äußerlich keinen ganz so erbärmlichen Eindruck machte, wie er sich fühlte, schleppte er sich zu dem goldgerahmten Spiegel, der einen großen Teil der Wand einnahm.

Die Augen, in die Amias' blickte, waren die eines Fremden.
Einerseits war das nichts Neues. Für einen jungen Mann von Adel in einer ausnehmend eitlen Gesellschaft verwendete er wenig Zeit auf sein Äußeres. Vielleicht empfand er deswegen immer eine gewisse Irritation bei seinem eigenen Abbild, das mit seinem Selbstgefühl im Widerspruch stand. Er fand sich darin nicht wieder.

Doch heute war es nicht ganz so wie immer – irgendetwas hatte sich an dem Menschen im Spiegel verändert, der Amias mit leeren Augen anstarrte. Die halbmondförmigen Schatten darunter waren beinahe genauso dunkel wie die Iriden selbst.

Man hatte ihn von seiner schmutzigen, zerstörten Kleidung befreit und stattdessen in ein velisches Hemd und Hosen gesteckt. Ungeschickt – seine Finger zitterten – öffnete Amias die Knöpfe und ließ den asymmetrischen Kragen aufklaffen, womit sich ein Fleck blasser Haut offenbarte, auf dem ein Bluterguss dunkel aufblühte. 

Nur ein paar Seiten und ein lederner Umschlag hatten ihn davor bewahrt, dass an derselben Stelle eine Kugel in seinen Körper gedrungen war.

Man hatte sich bei all den anderen Verletzungen nicht um diese Kleinigkeit gekümmert – und ein Teil von ihm war froh darüber. Wenn er daran dachte, wie sein Bruder Gérin stolz seine Narben aus Duellen präsentierte, wünschte er sich sogar, man hätte ihm ein paar mehr Kratzer und Schrammen gelassen. Erinnerungen an seinen Sieg. Denn das war es doch; schließlich hatte er überlebt.

„Amias!" Blancandrin stürmte ohne anzuklopfen in den Raum.
Schon in seiner Reflexion konnte der Prinz erkennen, dass er wesentlich gesünder aussah als er selbst und obendrein sehr unzufrieden. Sein kühler Blick traf Amias' im Spiegel und ließ sein Herz einen ängstlichen Satz tun.

„Du bist endlich wach." Du – die Anrede stieß Amias sofort sauer auf, denn er wusste es war keine Auszeichnung, kein Ausdruck von intimer Zuneigung, sondern vielmehr einer von Geringschätzung. 

Alle seine anderen Kinder verdienten ein „Ihr", ein „Prince" und „Princesse". Währenddessen sprach der Imperator mit ihm nicht viel anders als mit einem niederen Dienstboten. Dabei stand er weit unter diesen, denn einen schlechten Lakaien konnte er entlassen. Ein schlechter Sohn blieb, egal ob versteckt, enterbt und gehasst, eben doch ein Sohn.

„Und wie ich sehe, hast du dich von den zaristischen Schattenkindern gut versorgen lassen", stellte Blancandrin mit einem missbilligenden Zug um die Lippen fest.
Hatte ich denn eine Wahl?

„Falls es Euch beruhigt, ich fühle mich trotzdem miserabel", antwortete Amias, während er sich zu seinem Vater umwandte.

Die Augen des Imperators erkalteten zu zwei Winterseen. Das war nicht, was er hören wollte.
„Ich verbitte mir solche frechen Antworten."

Eine Welle von Erschöpfung spülte über Amias hinweg, die seine Glieder und seinen Kopf schwer wie Blei werden ließ.
„Weshalb wolltet Ihr mich sprechen, Eure Majestät?", fragte er leise.

Für einen Moment schoss Amias ein Bild durch den Kopf: Dieser großgewachsene Mann wie er auf der Dubravskaja lag; von der Kugel getroffen, die für ihn selbst bestimmt war.
Das blonde Haar feucht und schmutzig, die blauen Augen weit aufgerissen und leer, das attraktive Gesicht von einem eingefrorenen Ausdruck entstellt. Oder statt seiner unter den Trümmern des Hauses.

Und er fragte sich, ob er traurig gewesen wäre, wenn Nadzha ihm berichtet hätte, dass sein Vater den Attentätern zum Opfer gefallen wäre. Wahrhaftig traurig, wie nach dem Tod seiner Mutter.
Amias fand keine Antwort darauf.

„Das fragst du noch? Nach allem, was du angerichtet hast?"
„Angerichtet?" Was konnte er bewusstlos denn angerichtet haben?

Der Imperator sah sich um, als befürchte er, belauscht zu werden und sank schließlich vor Amias auf die Bettkante. Seine Finger zwirbelten prüfend die goldenen Fransen der Tagesdecke.
„Du hast mich in die Verlegenheit gebracht, in der Schuld des Zaren zu stehen. Ich weiß, du verstehst nichts von Politik, also erkläre ich dir das ganze Ausmaß deines Scheiterns: 

Ein Attentat bei einem Staatsbesuch wirkt sich außenpolitisch nicht gerade günstig für das Land aus, in dem er stattfindet. Wir dagegen hätten Vorteile daraus schlagen können. Es wäre ein gutes Druckmittel gewesen und ein hervorragender Beweis, dass Magie ein stetiges Risiko birgt."

Blancandrin ließ von der Decke ab und seine hellblauen Augen verdunkelten sich; eine Vorahnung auf die negative Wendung, die nun folgen würde.
„So hätte es sein können. Aber im Gegenteil – wir verdanken ihr dein Leben. Wir stehen in Velijas Schuld."

Amias spürte, wie ein Zittern seine Hände ergriff, und verbarg sie sofort hinter dem Rücken. „Denkt Ihr etwa, das wäre meine Absicht gewesen?", fragte er tonlos. Was hätte er schon tun können im Angesicht einer Bande mächtiger Faie und unsichtbar durch die Menge schleichender Schützen?

Er hätte sich gewünscht, dass sein Vater die folgenden Worte mit Zorn aussprechen würde. Mit ehrlichem, offenem Hass, der ihm zumindest den Trost gegeben hätte, dass der Imperator irgendetwas für ihn empfand. Doch er tat es mit derselben kühlen Beiläufigkeit, mit der er Amias schon seit Jahren strafte.

„Es war ein Fehler, dich mitzunehmen. Wenn du es schon nicht schaffst, Aels Tradition zu folgen und als Held aus dieser Geschichte zu gehen, hättest du zumindest den Anstand haben können, dich erschießen zu lassen."

Amias hätte sich auch gewünscht, ihnen mit eben demselben Hass zu begegnen, doch in all seinem Zorn steckte immer noch, nach all den Jahren, die tückische Spitze des Schmerzes. Es war der gleiche Stachel, der in seinem Herzen steckte, seit ihn sein Vater vor Jahren einen Schmutzfleck auf der Blutlinie Seint Aels genannt hatte, an dem diese Worte gewaltsam zogen.

 Nach allem gelang es Blancandrin nach wie vor, ihn zu verletzen und Amias schämte sich dafür.

„Warum tut Ihr es nicht?", zischte der Prinz und hoffte, dass seine Stimme ihn nicht verriet. Diese Frage hatte er sich seit dem Tod seiner Mutter, seit er seinen wahren Wert kannte, unablässig gestellt. Jeden Morgen, wenn er die Augen aufschlug. Warum lebe ich noch?

Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte gewesen, dass ein Herrscher sich eines unliebsamen Kindes entledigte. 

Aber statt ihn im Schlaf erdrosseln zu lassen, sein Essen zu vergiften oder in der Badewanne zu ertränken und pietätvoll über den tragischen Unfalltod zu trauern bis man ihn schnell vergaß, ließ man ihn weiter und weiter und weiter leben, ohne einen Tag zu vermissen, ihn seiner Minderwertigkeit zu erinnern.

Blancandrin schnaubte. In seinem Blick, den hochgezogenen Augenbraue lag Missachtung. „Hast du etwa auch den Verstand verloren?"
Auch; so wie seine Mutter.

Energischer als er sich befähigt gefühlt hätte, durchquerte Amias das Zimmer bis zum Stapel Bücher, der auf dem kleinen Tischchen einen fragilen Turm bildete, riss das oberste davon auf und brachte ein goldenes Papiermesser zum Vorschein. Die Seiten waren stumpf und rund, aber die Spitze zulaufend wie ein Dolch.

Amias drückte seinem Vater das kühle Metall in die Hände, die reflexartig davon zurückzuckten.
„Erstecht mich. Oder erwürgt mich und beschuldigt die Magie. Dann habt Ihr Euren nützlichen Tod."

Nur eine leise Stimme, irgendwo in seinem Hinterkopf, fragte ihn, was um Aels Willen, er da tat. Willst du sterben? Und der Teil von ihm, der darauf noch hörte, antwortete: Was, wenn ich es will?

In seinen Händen schien das Gold zu glühen. Doch der Imperator verschränkte die Hände vor der Brust und Amias schleuderte ihm frustriert das Papiermesser vor die Füße.
„Was hält Euch noch auf? Mein Leben belastet Euch? Beendet es!", stieß der Prinz schwer atmend aus.

Das Gold blieb unberührt auf dem Teppich liegen, nicht einmal sein Aufprall besaß ein größeres Echo als einen kurzen, dumpfen Laut; dennoch tötete es. Es schnitt durch den Schleier der Heuchelei und des Schweigens wie es das bei Buchseiten schon unzählige Male getan hatte. Wenn es noch irgendeinen Zweifel daran gegeben hatte, dass die Vaterliebe des Imperators mit Élainne de Tenval begraben wurde, so war er jetzt zerschlagen.

Geradezu quälend langsam erhob sich Blancandrin.
„Führ mich nicht in Versuchung", erwiderte kühl, machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Hätte Amias genau hingesehen, wäre ihm nicht entgangen, dass seine Hände zitterten.

Doch stattdessen blieb er wie eingefroren in der Zeit an seinem Platz stehen und starrte blind auf das glänzende Papiermesser, während in ihm der wilde Sturm erstarb. Ihn ersetze eine merkwürdige Leere; ein stilles Meer bei Nacht, so finster, dass es sich nicht vom Himmel unterschied.

Amias ließ es dankbar mit jedem Atemzug seine Lungen füllen.

Erst nach einer scheinbaren Ewigkeit löste er sich aus seiner Starre, hob das Papiermesser vom Boden und schob es leichtfertig an seinen Platz zurück, als hätte es keine Bedeutung. Abermals blieben seine müden Augen an der merkwürdigen Taschenuhr hängen.

Wem gehörst du?, fragte er still, während seine Finger sachte über das Silber strichen. Den Reiter, der sich unter seiner Berührung wie eine Landschaft aus Bergen und Tälern darstellte.
Nichts Teures, keine besondere Kunst lag darin und doch übte sie einen merkwürdigen Zauber auf ihn aus, der ihn alles andere vergessen ließ.

Unter anderen Umständen hätte er vermutet, dass sie einem Bewohner des eingestürzten Hauses gehören musste. Doch das war nicht die Art von Taschenuhr, die jemand, der sich eine Wohnung an der Dubravskaja leisten konnte, bei sich tragen würde. Wie konnte sie also bei ihm gelandet sein?

Die Zeit fliegt mit den Schwalben.
P.,
lautete die Gravur.

Es war ein Zitat aus der velischen Ballade Der Tod des Pavle von Belovo über einen der vielen legendären Helden.

Die Abendschwester Zarika schenkte
mit blutigen Lippen ihm den letzten Kuss
die Zeit fliegt mit den Schwalben
dorthin, wo das Blut des Helden floss
und die Wurzeln der Eiche tränkte
.

Amias schlief, die Uhr immer noch fest umklammert, ein und träumte wilde Träume von Schnee und Schwalben, dem Geschmack von schwarzem Tee und dem Flüstern fremder Wälder, während Tränen sein Kissen tränkten.



In einem anderen Teil des Palastes, saß der Zar inmitten des Luxus' schwerer Teppiche, edler Möbel und eines Himmels aus kunstvollen Mustern, an seinem schwach beleuchteten Schreibtisch. 

Die Lampe war heruntergebrannt, doch es kümmerte ihn nicht; die Düsternis entsprach seiner Stimmung, die mit jedem neuen Bericht nur finsterer wurde. Feldmarschall, Generäle der Armee wie der Kresniknina, Minister und nun der Chef der Geheimpolizei, der Strazha, gingen in dem Arbeitszimmer seit gestern unentwegt ein und aus und raubten Gerasim Chervenkov noch das letzte Bisschen Schlaf, das er unter diesen Umständen hätte finden können.

„Wir wissen bisher nicht viel über diese Frau", erklärte Taras Zatsepin in seiner gewohnten Nüchternheit. Überhaupt sah man ihm äußerlich an seiner geraden Haltung, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, dem ordentlichen schwarzen Haar und dem klaren Blick keine der endlosen Arbeitsstunden und innere Anspannung an. 

„Sie heißt Rozália Vardas, eine Kartal, stammt aus Tomnavar und war bei uns weder als Kresnitsa verzeichnet noch als auffällig."

Eine Kartal? Ging es hier um irgendeinen Nationalismus der Minderheit? Doch bisher hatte es nie Schwierigkeiten mit ihr oder dem Königtum Kartalia gegeben.

Der Zar vergrub das Gesicht in den Händen und spürte, wie sein Berater Bajun, der wie ein schattenhafter Wächter hinter ihm stand, eine Hand auf seine Schulter legte.

„Wie kann so etwas möglich sein?"
In diesen Worten lagen so viel mehr Fragen als bloß diese eine. Wie konnte es sein, dass jemand sie töten wollte? Wie konnte es sein, dass sich derart mächtige Magier organisierten und sich dem wachen Auge der Strazha entzogen? Wie konnte es sein, dass dabei so viel Schaden verursacht worden war, trotz all der Sicherheitsvorkehrungen?

Zatsepin behielt seine ausdruckslose Maske bei, doch ein Funke von Abscheu blitzte in seinen blauen Augen auf, als er erwiderte: „Wir vermuten die Iskra dahinter."

„Die Iskra?", wiederholte Gerasim, als hörte er den Namen das erste Mal.
Freilich kannte er diese Organisation, aber er hatte sie doch nie für mehr gehalten als einen kleinen Haufen Stammtischrevoluzzer, die in den Kneipen ihre Parolen grölten und eine tote Verbrecherin zur Märtyrerin erhoben, nur um dann doch jeder wieder brav nach Hause zu gehen und weiterzuleben. Unangenehm, aber harmlos.

„Ich versichere Euch, Eure Majestät, wir tun alles, um dieses Nest von Verbrechern auszumerzen." Die Zuversicht, mit der der Geheimchef der Strazha sprach, teilte der Zar nicht.
Erst Prizrak, das Phantom, das verurteilte Ved'maki befreite, der fragiler werdende Frieden mit Finience und jetzt das? Im Moment schien ihm die Welt ein Minenfeld und ein weiterer falscher Schritt ließe sie in einem Flammenmeer untergehen.

„Diesmal besser vor dem nächsten Angriff", bemerkte Bajun spitz und erntete einen eisigen Blick Zatsepins.
„Vielleicht sollten Sie Ihre unvergleichlichen Fähigkeiten dann in der Strazha unter Beweis stellen", erwiderte dieser, ehe er den Raum stürmisch verließ.

Bajun beachtete ihn nicht. „Und Ihr solltet Euch ausruhen, Eure Kräfte sammeln, Gosudar. Ich kann–"
„Nein, Bajun, kümmert Euch um meine Seti."
„Aber Ihr habt Schmerzen."

Der Zar vollzog eine wegwerfende Geste. „Meine Wunden sind alt; ihre frisch." 

Es waren die Schatten eines alten Unfalls, ein Sturz vom Pferd. Er hatte die Verletzung hunderte Male heilen lassen, bis keine sichtbaren Spuren davon geblieben waren. Doch kein Heiler hatte ihm die Schmerzen nehmen können, die ihn gelegentlich noch heimsuchten und nach Strapazen wie den gestrigen ganz besonders. Ein lästiges Kind, geboren in den zerklüfteten Felsen des Aspravischen Gebirges, das bloß sein Berater zum Verstummen zu bringen vermochte.

Es war eine unauslöschliche Erinnerung daran und damit an Setenay – an das Band, das damals noch zwischen ihnen existiert hatte.

Heute rief sie in ihrem Delirium nicht seinen Namen, sondern Valja. Und bei Kresnik, Gerasim war kurz davor gewesen, nach dem Grafen schicken zu lassen, wenn er ihr nur die Verzweiflung hätte nehmen können. Aber alles, was er tun konnte, war so zu tun als habe sie Vasja gerufen – ihren Sohn Vasilij –, um damit zumindest die Schande zu verdecken.

„Seht auch nach Zinochka und Vasja. Sie sind zwar nicht verletzt, müssen aber sicherlich einen Schock erlitten haben. Sie brauchen Euch mehr als ich."

Bajuns katzenhafte Augen zeigten unverhohlenen Zweifel, doch er neigte respektvoll das Haupt. „Wie Ihr wünscht, Herr."

Als er aus dem Raum schritt, war nicht das geringste Geräusch zu hören – keine Stiefel auf dem te'gredmesischem Teppich, kein Knarzen des Parketts, kein Rascheln seines schwarzen Kaftans. Bajun kam und ging lautlos.

„Eure Majestät", eine Kresnitsa steckte ihren Kopf in sein Studierzimmer, just in dem Augenblick, in dem der Berater es verlassen hatte.
„Ah, Poruchitsa Marenska?"
„Ihr habt mich rufen lassen."

Habe ich das? Wann? In Gerasims Erinnerung verschwammen gestern und heute, Tag und Nacht, vor dem Attentat und nach dem Attentat schon längst zu einem unentwirrbaren Knäul.

Der Anblick der Wasserbeschwörerin erschien dem Zaren geradezu befremdlich in seinem Zustand. Goldrote Locken ergossen sich ordentlich auf Zarni Marenskas schwarze Uniform und wenn ihr blasses Gesicht auch Spuren von Sorge trug, so sah man ihr an, dass sie nicht in den Kampf involviert gewesen war. 

Doch als sie näher trat und sich auf seinem Schoß niederließ, erkannte Gerasim über den himmelblauen Iriden einen feuchten Schimmer, der den honigfarbenen Kranz um ihre Pupillen leuchten ließ. 

„Du siehst erschöpft aus, Gero", flüsterte Zarni und ihre Finger, benetzt von einem fast unsichtbaren Film kühlen Wassers, strichen über seine Stirn.
Gero, das war alles, was er war, in diesen gestohlenen Momenten. Kein Zar, auf dem das gesamte Gewicht Velijas lastete, bloß ein einfacher Mann.

Wann habe ich aufgehört, das bei Setenay zu sein? Wann hat sie aufgehört, es bei mir zu sein?

Sein Blick streifte das große Gemälde – ein echter Zdravkov-Aspravan – das die Wand schmückte und die Zarin in all ihrer Schönheit darstellte. Wie die Göttin Mutter Velija selbst. Meistens fand Gerasim Trost in ihren blauen Augen, neuen Mut in ihrem anmutig gehobenen Kinn und Ruhe im Verfolgen der kunstvoll verflochtenen Haarsträhnen.

Heute aber erkannte er in dem Bild nur stille Anklage und er begriff, dass er auch durch die Zärtlichkeiten der Wasserbeschwörerin keinen Frieden erlangen würde. Lediglich Ekel.
Von jedem ihrer Küsse troff Gift, das sich tief in sein Innerstes ätzte. Was er hier tat, war falsch, das wusste er. 

Dieses Mädchen trug seinen Namen als Vatersnamen, war ihm verpflichtet, und er schreckte nicht davor zurück, sich nachts an ihr zu wärmen? Selbst dann nicht, wenn man ihn brauchte? Was für ein Mann war er? Was für ein Herrscher?
Einer, der sich und seine Familie beinahe in den Tod geführt hat.

Ihre Berührungen wurden ihm derart unerträglich, dass er Zarnis Finger sanft mit seinen umschloss und sie von sich schob.
„Nicht jetzt", war alles, was er flüsterte und sie nickte nur verständnisvoll, obwohl sie sicher rein gar nichts verstand, und verließ das Büro, um wieder Prouchitsa Marenska zu sein und er selbst wieder Zar Gerasim II.

Für wie lange, wusste Chervenkov selbst nicht. Vielleicht wäre morgen schon wieder alles beim Alten. Doch heute schämte er sich und wusste, dass er nirgendwo Trost finden könnte, außer in Armen, die ihm schon lange nicht mehr offen standen; nirgendwo außer in verwelkender Erinnerung.


✥           ✥           ✥

Von der großen Erdbeschwörerin, die ganz Altingrad zum Beben brachte, war nicht mehr viel übrig, als Ergena die kleine Zelle betrat. Rozália Vardas hing an dem Stuhl, an den ihre Arme gebunden waren, wie eine Leiche.

Ihr braunes Alltagskleid, ähnlich geschnitten wie ein Kaftan, so dass man bequem damit reiten konnte, war zerrissen und blutdurchtränkt. Schmutz und Schweiß überzogen ihre Haut mit einem ungesunden Glanz und ihr Gesicht war verhangen von verklebten Haarsträhnen.
Kresnik und die Rozhanitsy wussten, was man mit ihr angestellt hatte, aber sie hätte genauso gut tot sein können.

Nur der schwache Strom von Energie, den Ergena fand, verriet ihr, dass das nicht der Fall war. Mehr noch, die Erdbeschwörerin war wach und hatte ihr Kommen bemerkt.
Schweigend ließ sich die Kapitan auf einen Stuhl ihr gegenüber fallen und die drückende Stille ihren Dienst tun.

Rozália schwieg, hob nicht den Blick, doch ein nervöses Zucken schoss durchihre Muskeln. Furcht vor dem, was kommen würde.
Gut, stellte Ergena mit einem kleinen Lächeln fest. Angst war die tückischste Feindin und damit ihre beste Komplizin.

„Nicht einmal ein ‚Guten Tag' übrig für eine alte Bekannte?"
Rozália hob den Kopf ein wenig, um ihr vor die Füße zu spucken. Mit einer Stimme wie eine rostige Rasierklinge stieß sie dazu noch ein paar wüste Beleidigungen in Kartal aus, die den sonst so hübschen Rhythmus und die Harmonie der Sprache zerstörten.

Erhoffte sie, dass sie es nicht verstand oder war sie bloß instinktiv zu ihrer Muttersprache zurückgekehrt? Ergena jedenfalls verstand jedes einzelne Wort; der Zar er zog seine Kresniknina gut. Das war einer der Teile ihrer Ausbildung, die sie besonders genossen hatte.

„Man hat dir hier unten noch keine Manieren beigebracht, wie ich feststelle", erwiderte sie nüchtern in Kartal.
„Euch da oben auch nicht."

„Dabei bieten wir doch nichts als Gastfreundschaft – wenn du dich endlich entschließt zu reden."
Die Erdbeschwörerin reckte trotzig das Kinn. „Ich hab euch nichts zu sagen."

„Auch nicht für eine Begnadigung? Du weißt wie deine Zukunft aussieht. Man wird dich foltern. Tag für Tag. Dich gerade so am Leben halten, bis du redest. Oder bis die Strazha ihren eigenen Weg gefunden hat. Weißt du, sie ist gut darin Dinge zu finden. Kameraden, Freunde, Familie, ... vielleicht darfst du sie bald hier begrüßen, bevor ihr gemeinsam hängt", erklärte Ergena säuselnd. „Alles, was du liebst, versammelt auf dem Schafott."

Rozálias Mundwinkel zuckten.
„Es sei denn, du redest."
„Eine Begnadigung?", wiederholte die Erdbeschwörerin wie um sich zu versichern, dass sie sich nicht verhört hatte.

„Eine Begnadigung", bestätigte die Kapitan. „Und alles, was dir kostbar ist, bleibt unangetastet."

Ein abfälliges Lächeln spaltete Rozálias Lippen.
„Wie schade, dass mir nichts als Velija kostbar ist – und sie hat der Zar sich zu seiner Hure gemacht. Solange ihr ihm also nicht seine gierigen Finger abschneidet, könnt ihr meine Wünsche nicht erfüllen."

Ungebrochen. Sie würde nicht reden. Nicht so.

Beinahe bewunderte Ergena sie für ihren Mut. Beinahe. Sie dachte an Anatolenko. Welchen Wert besaß Mut, wenn er an eine verdorbene Sache verschwendet war?
Und eine Verschwendung war es in der Tat, wusste sie doch, dass nicht alleine die Geburt darüber entschied, wer Ved'mak und wer Kresnik war. In einer anderen Welt hätte Rozália Vardas dem Zaren in der Kresniknina dienen können, der Menschheit, doch sie hatte sich zu Verrat entschieden.

Der Kapitan entkam ein Seufzer. „Wie schade", wiederholte sie Rozálias Worte, „wie schade."
Dann schlossen sich ihre Finger um das Kinn der Erdbeschwörerin. Ihr Körper, die vielen Ströme von Energie, pulsierten unter Ergenas Haut.

„Nimm es nicht persönlich."
Sie meinte es so. Das hier war ein alter Kampf, Kresnitsa gegen Ved'ma, Kresnik gegen die Schlange. Ein Kampf, der immer gewonnen werden wollte, aber nie ganz enden würde. Es lag in ihrer Natur.

Vor ihr erstreckte sich Rozália wie ein unsichtbares Netz.
Eine Karte, dachte Ergena; und sie kannte sie in und auswendig, wusste, wie sie gehen musste, um ihr Ziel schnell zu erreichen und auf ihrem Weg nichts als Zerstörung zurückzulassen.

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𝐀 𝐍 𝐌 𝐄 𝐑 𝐊 𝐔 𝐍 𝐆 𝐄 𝐍

Ich weiß, die Länge dieses Großkapitels ist schon lächerlich (8.5) Aber, es ist vorbei versprochen, genauso wie der erste Teil der Geschichte - wohooo!

Theorien und Gedanken nehme ich wieder gerne an! (Wirklich, ich weiß nämlich zu 90% der Zeit nicht, ob meine Anspielungen viel zu offensichtlich oder praktisch nonexistent sind) 

Sonst:
1. Man möge mir für die nächste schreckliche Ballade in dieser Geschichte verzeihen ^^"

2. Es gibt Updates im Glossar (und ja, ja, ich weiß, langsam brauchts echt eine neue Karte)

3. Ich hab die Ränge von Soldatinnen, wie man sehen kann, verweiblicht, weil es in einer Welt, in der es früher Soldatinnen gab und Sexismus anders funktioniert, irgendwie unlogisch gewesen wäre, wenn die Sprache so maskulin geprägt ist. Ich weiß nicht, ob das Sinn ergibt...

Bis nächste Woche! (hoffentlich)

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