𝟖.𝟑 | 𝐄𝐢𝐧 𝐏𝐚𝐤𝐭 𝐚𝐮𝐬 𝐁𝐥𝐮𝐭 𝐮𝐧𝐝 𝐊𝐮𝐩𝐟𝐞𝐫


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Valentins Bein pochte bei jedem Schritt, den er vorwärts wagte, denn es trug nun nicht nur sein eigenes Gewicht, sondern das eines zweiten. Totes Gewicht. 

Halbtot, korrigierte er sich. Denn unter der blut- und dreckverkrusteten Uniform hob sich seine Brust noch, klopfte ein leiser Herzschlag gegen Valentins Körper wie ein Vogel im Käfig. Noch.

Auf seinen Stock konnte sich der Graf in diesem Fall nicht verlassen; er wäre ihm bloß im Weg gewesen. Doch das machte sein Fortkommen umso schwerer.
Mühsam, als wäre er der Verwundete, schleppe er sich und den Bewusstlosen zu einer Gruppe Soldaten.
„Heiler", brachte er nur atemlos über die Lippen. „Arzt."

Bei Vesina, dieser Schmerz ...

Man wies ihm nur in Richtung der Akademie, deren Stufen er nun eine nach der anderen erklomm. Unter seiner festlichen Uniform brach ihm der Schweiß aus und jeder seiner Muskeln schien zitternd gegen die Anstrengung zu rebellieren. Auf seiner Zunge breitete sich der metallische Geschmack von Blut aus, dem die Abscheu noch eine bittere Note von Galle hinzufügte.

Es war mehr als bloß die Folge einer alten Wunde, hatte der Generalleutnant doch bereits wesentlich schlimmeres durchgestanden und kostete nur allzu gerne seine Grenzen aus.
Nein, das hier war anders, das wusste Valentin. Sein verräterischer Körper befand sich im Kampf mit sich selbst und sein Geist gab den grausamen Kriegstreiber.

Und aus irgendwelchen finsteren Tiefen wollte der Gedanke in sein Bewusstsein empor kriechen, dass er sich diesmal mehr Schaden zufügte als mit ein bisschen Medizin noch zu reparieren wäre und ihm all die vielen Freuden nehmen würde, ohne denen ihm das Leben nicht erträglich schien.
Dann bitte ich Zatsepina eben um den Gnadenstoß.

Sagen Sie Svetlina..., hatte Draganov begonnen. Wer war Svetlina? Was sollte er ihr sagen?
„Sie können nicht einfach sterben, ohne mir das zu sagen", stieß Valentin zwischen zusammengebissenen Zähnen aus. Wer auch immer dieses Mädchen war, das den Namen der Strahlenden Heiligen trug, es würde keine andere Nachricht erhalten, als dass Mikhail Draganov wohlauf war. Und wenn es das letzte war, was Valentin tat.

Einen Schritt. Und noch einen. Und noch einen.

Die Fenster der Akademie waren zersplittert, doch das Tor stand fest in seinen Angeln, schwer und unberührt von diesem Chaos. Es kostete dem Generalleutnant beinahe jede verbleibende Kraft, es aufzustemmen, ohne den Verwundeten aus seinem Griff gleiten zu lassen.

Drinnen hatten sich die ersten Verwundete eingefunden, auf Krankenlagern, die sorglos über Scherben errichtet worden waren. Ein grotesker Anblick, der an Kriegslazarette erinnerte.
„Einen Heiler, schnell!", rief er in die Halle.

„Generalleutnant, sind Sie verletzt?", fragte ihn ein älterer Kresnik. Es tat gut, sein vertrautes Gesicht zu sehen.
„Kümmre dich nicht um mich, Horymir. Er braucht Hilfe, schnell."

Damit legte er das Gewicht, das ihn auf seinem Weg immer wieder zu Boden hatte zerren wollen, und damit Mikhail Draganovs Leben in rettende Arme. Doch Valentin fühlte sich nicht leichter, denn sein Herz schien mit diesem Akt vielmehr von einer neuen Last zu Boden gedrückt, von der er nicht begriff, woher sie stammte.

Dass es ganz banale Angst hätte sein können, wollte er nicht einmal denken. Denn wenn Valentin Lisitsyn irgendetwas in dieser Welt fürchtete, dann war es die Angst selbst.


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Zarja war längst bewusst, dass ihre Bemühungen zwecklos waren. Noch bevor ihr treuer ‚Sharkolija' wieder lostrabte.

Ihre Kräfte waren im Schwinden begriffen und wenn sie sich nicht beeilte, hier fortzukommen, würde sie sich mehr Sorgen um sich selbst denn Nevena machen müssen. Vielleicht, redete sie sich selbst ein, war es sogar ein gutes Zeichen, dass sie sie nicht gefunden hatte. So wie sie die Ridavka kannte, war sie bestimmt schon längst verschwunden, irgendwo in Sicherheit. 

Vor ihr ging irgendein Aufruhr durch die Menschen, den sie im ersten Moment keine genaue Ursache zuordnen konnte. Es fielen weder Schüsse noch verwandelte eine Erdbeschwörerin die Stadt selbst in ihre Waffe. Der Anblick ihres Hengsts schien es diesmal auch nicht zu sein, denn sie schenkten ihm im Gegenteil überraschend wenig Beachtung.

Schließlich erkannte Zarja, was die Verwirrung unter den Männern auslöste.
Es war ein Mädchen, das sich durch die Menge von Soldaten boxte, die die unterschiedlichsten Reaktionen zeigten: einige wenige zuckten nicht mit der Wimper, andere – und zwar die meisten – starrten sie mit großen Augen an, wie man es zuvor bei Zarja getan hatte – als stünden sie der leibhaftigen Vesina gegenüber. 

„Vasilij, haben Sie meinen Bruder Vasilij gesehen?", wandte sie sich immer wieder an einen von ihnen.
Die Soldaten verneinten stumpf, steckten dann die Köpfe zusammen und murmelten ein verwundertes „Aber ... Aber das war doch ...", bis einem schließlich ein atemloses „Sveta Zinaïda" entkam.

Es klang geradezu ironisch, wie ein Spottname, doch kaum einem Velier wäre es in den Sinn gekommen, ihn als solchen zu verwenden. Für manche von ihnen war die Zarewna so wahrhaftig eine Heilige wie ein Sveti Medard, dessen rußgeschwärzte Ikone im Lagerhaus unentwegt von einer Kerze beleuchtet wurde. Ihre Geburt war ein Wunder gewesen und fiel auf den Tag der neugeborenen Sonne, des Jahreswechsels, des Gründungsfests Velijas. Doch der Name entsprang viel mehr als bloßer religiöser Symbolträchtigkeit.

Zarja erinnerte sich an Zinaïda als diejenige, die ihnen am Nationalfeiertag ein Festmahl bescherte, wie es den kalten Mauern des Lagerhauses sonst fremd war. 

„Sveta Zinaïda meint, dass bei der Feier der Geburtsstunde Velijas auch der Geburtstag aller Velier gefeiert werden muss und an einem solchen Tag darf keines seiner Kinder hungern", hatte Jelisaveta ihr erklärt.

Damals wusste Zarja nicht, wer diese Sveta Zinaïda sein sollte. Sie hörte von ihr zum ersten Mal, doch sie schien ihr bereits eine echtere und gütigere Heilige als Medard, der immer nur still zusah, wenn sie hier in seinem Haus litten.

Schließlich kam die junge Frau, in ihrem hübschen Kleid denkbar deplatziert zwischen all der Verwüstung, desorientierten und verwundeten Soldaten, vor Zarjas Hengst zum Stehen.
„Den Rozhanitsy sei Dank, du bist–"

Sie beendete den Satz nicht, sondern blinzelte stattdessen mit schönen blauen Augen zu ihr hoch, als müsste sie sich an Zarjas Anblick erst gewöhnen. Dabei wandelte sich ihr Gesichtsausdruck in Sekundenschnelle von Freude zu herber Enttäuschung.
„Oh, entschuldigen Sie. Ich dachte, Sie wären jemand anderes."

Konnte das tatsächlich die Zarewna sein? Wer sonst würde aber schon in einem solchen Aufzug herumirren? Zarja wusste nicht, was sie hier tat, doch eines war sie sich sicher: Wenn es sich hierbei um die Zarewna handelte, sollte sie bestimmt nicht alleine wie eine Zielscheibe durch dieses Chaos wandern. Nicht, dass das ihr Problem wäre.
Nicht Zarja Mrazovas, der Leibeigenen, Jaromirs Schatten.

Jedoch war sie das nicht mehr. Sie war Kalin Nikolajev, ein freier junger Mann, der gedachte, an die Shchetkin Akademie zu gehen, um in der Armee seinem Mutterland zu dienen. Was würde er tun?

„Sollten Sie sich nicht in Sicherheit bringen, Gospodich?"
„Ich suche jemanden", erwiderte Zarja schulterzuckend, aber ihre Hände um die Zügel zitterten.
„Das trifft sich gut, ich auch. Erlauben Sie, dass wir gemeinsam suchen?"

Beinahe wäre ihr ein schnaubendes Lachen entkommen. Erlauben? Was sollte sie schon der Zarewna erlauben, die ihr einfach befehlen konnte?
Allerdings nahm sich Zinaïda dann doch das Recht heraus, nicht auf die Antwort dieser Frage zu warten. Während hinter ihnen Schüsse fielen und jemand ihren Namen rief, sprang sie kurzerhand aufs Pferd – viel zu geschickt und schnell dafür, dass es schon einen Reiter gab.

„Los!"
Selbst, wenn Zarja gewollt hätte, sie hätte sich nicht weigern können.
In der Masse aus Flüchtenden trat ein Mann abrupt hervor und fasste sich in die Manteltasche.
„Tod dem Zaren! Tod den falschen Heiligen!", erscholl seine Parole, kaum all die anderen Geräusche durchdringend, ein todbringender Schrei verschluckt vom allgemeinen Lärm.

Zarja musste nicht sehen, was er in der Hand hielt.
Sofort trieb sie das Pferd an.
Arme schlangen sich fest von hinten um sie.
Der Schuss knallte.
Und Sharkolija galoppierte davon.

„Meine Güte, sind Sie verletzt?", japste Zinaïda.
„An Eurer Stelle würde ich mich weniger darum sorgen. Der Schütze hatte es nicht auf mich abgesehen."
Und der unfreiwillige Retter, den Ihr Euch gerade erkoren habt, kippt gleich vom Pferd, fügte sie in Gedanken bitter hinzu.

Nie hatte sie ihre Kräfte derart strapaziert und es begann sich in einem ziehenden Schmerz in ihrem Herzen bemerkbar zu machen, der nichts Gutes verheißen konnte.
Das einzige, das sie davon noch im Mindesten ablenken konnte, war die unwahrscheinliche Nähe des gegen ihren gepressten Körper der Zarewna.

Bisher war alles, was Zarja von der Zarenfamilie kannte, Hörensagen und das ein oder andere Bild. Diese unfassbare Distanz zwischen jemandem wie ihr und den Chervenkovs so radikal zu überbrücken, die Kronprinzessin jetzt zu sehen, zu hören, zu berühren, fühlte sich ebenso ungebührlich wie schlicht unglaublich an.

„Aber Sie bluten!", widersprach die Zarewna, sich näher zu ihr beugend, wobei ihre Locken Zarjas Nacken und Wange kitzelten. Ihr Herzschlag trommelte gegen Zarjas Rücken wie ein aufgeregt trabendes Fohlen.

Kurz zuckte ihr Blick zu der Wunde an ihrem Bein hinab, die sie nur notdürftig hatte versorgen können. „Ach das. Das ist schon ein wenig älter."
„Und Sie zittern wie Espenlaub, sind Sie sicher, dass ..."

„Mir wird es sicher gleich besser gehen, wenn ich weiß, dass Ihr nicht wie eine Zielscheibe durch einen Haufen Attentäter paradiert." Schön wär's, wenn das mein größtes Problem wäre. Allerdings käme ihr eine tote Zarewna auf ihrem gestohlenen Pferd wirklich nicht gelegen.

„Sagen Sie, woher haben Sie dieses Pferd? Ich bin mir sicher, dass ich es kenne."
„Gefunden", antwortete Zarja ehrlich, die Finger stärker um das Zaumzeug krampfend, als würde sie damit auch ihren unsichtbaren Griff um das Herz des Tiers verstärken können, das ihr doch immer wieder endgleiten wollte.

„Wohin bringen Sie mich? Ich dachte–"
„In Sicherheit." Vorausgesetzt, sie täuschte sich nicht und wenn nicht, schaffte es überhaupt noch so weit. Denn ihre Sicht begann bereits zu verschwinden, ihr Zittern war zu einem unkontrollierten Beben angeschwollen und das Ziehen zu einem Schmerz, der sie glauben ließ, ihr eigenes Herz müsste im nächsten Moment einfach stehen bleiben. An ihrer Brust brannte die Berührung mit dem Buch des Asenkijs als wäre es glühendes Eisen.

Und als das Pferd die Stufen zur Militärakademie endlich erklomm, begrüßt von einem dunkelhaarigen Kresnik, der ihnen mit einem Jungen in Uniform bereits entgegeneilte, wurde Zarja schwarz vor Augen. 

„Vasilij!", rief Zinaïda aus. Na, was für ein netter Zufall.

Jedoch musste sie auf den herzerwärmenden Anblick des Wiedersehens verzichten. Das Band zwischen dem Hengst und ihr zerriss endgültig. Sie spürte es kaum noch, nahm nur noch am Rande wahr, wie sie von dem starken Rücken zu rutschen begann und die hellen Stufen auf sie zu rasten.

Das Ende ihrer Suche war ebenso wenig glorios wie die Suche selbst: Sie fiel bewusstlos vom Pferd.


✥           ✥           ✥



Folgte man der Kirche Kresniks, so gab es weder Himmel noch Hölle. Kein Urteil nachdem Tod, das die Seelen der Schlechten verdammte und die der Guten belohnte. Sie alle landeten in derselben Unterwelt, die Wurzeln desselben Baumes die in ihr dunkles Firmament gestreckten Äste.
Am Ende waren sie alle gleich.

Bisher hatte Mikhail Draganov dies geglaubt – sofern man überhaupt davon sprechen konnte, dass er irgendetwas glaubte, mehr als bloß die Möglichkeit einzuräumen, dass es so sein könnte. Ihm war es logischer erschienen als die Höllenvorstellungen der Vargije oder die Heimkehr in die Arme der großen Mutter der gläubigen Ridavy. Wieso sollte auch der Tod urteilen, wo es das Leben nicht tat? 

Nun aber war er geneigt, es doch zu glauben. Denn, wenn er tot war, dann war das hier die Hölle und zwar seine ganz persönliche.

Obwohl es Nacht war, war der Himmel in ein schauriges Rot getaucht. Bloß schwarze und weiße Rauchschwaden äfften das Sternenzelt nach, und augenblicklich krochen sie in Mikhails Körper. Ihre Krallen schabten seine Kehle hinab bis in seine Lungen.
Ohne viel mehr zu sehen als durch Hitze verzerrte Silhouetten einer fernen Stadt, wusste er, wo er war. Kein Ort; ein Moment; ein Verbrechen

Alles in ihm forderte die Flucht. Doch er konnte nicht laufen, nicht schreien, nicht einmal den Ruß, der seine Lungen langsam von innen schwärzte, aus seinem Inneren husten.

Das Knistern und Krachen war beinahe so laut wie die Stimmen. Keine fröhlichen. Das hier war keine Nacht, in der man sang, tanzte und über Feuer sprang. Keine Lieder erklangen, sondern Schreie und der bestialische Gestank verbrannten Fleisches lag in der Luft wie der giftige Atem der Schlange selbst. 

Es war eine widerliche Verhöhnung des Mittsommerfestes, das der Jugend und der Liebe huldigte und Kresniks göttliche Hochzeit mit Vesina feierte.

Die Welt war erleuchtet von gierig züngelnden Feuern, die sich so hoch erhoben, als gelüstete es ihnen danach, selbst die Grenzen der Menschenwelt zu überwinden und an den Toren des Götterreichs zu lecken. Als wären ihnen die armen Opfer, die sie mit Haut und Haar verschlangen, ihnen das Fleisch von den Knochen schmolzen nicht genug.

Inmitten all dieses Leids saß ein kleines Mädchen, Zopf, Wangen und Kleidchen rußgeschwärzt, und weinte. Von allen Seiten näherten sich die Flammen, doch Mikhail konnte sich nicht rühren, um zu ihm zu laufen und es zu retten. Das Kind würde sterben wie alle anderen.

Finstere, leere Augenhöhlen richteten sich auf ihn und starrten ihn beschuldigend an. Ja, sie alle, jeder dieser geschändeten Körper auf seinem Scheiterhaufen, klagte ihn dieses Verbrechens gegen die Menschlichkeit an – und Mikhail konnte nichts dagegen tun, als sich von der Hitze, dem Gestank, den Todesschreien verschlucken zu lassen.

Das, was ihn aus diesem Alptraum wachrüttelte und die Szenerie stattdessen durch grelles Licht ersetzte, war nichts Sanftes, sondern ein derart grausamer Schmerz, dass Draganov wenige Sekunden später beinahe wieder in die Ohnmacht zurückgesunken wäre.

Auch diese wurde nicht freundlich verscheucht, sondern mit ein paar Klapsen auf seine Wange und dem üblen Gestank irgendwelcher Riechsalze.

„Ist ja gut, ist ja gut. Ich bin wach." Mit einer schwachen Armbewegung wehrte er sowohl die Person als auch das blendende Licht fahrlässig ab.
„Schön geträumt?", fragte eine freche Stimme, die ihm nur allzu vertraut schien. Lisitsyn.

Mit einem Schlag kümmerte Mikhail so etwas Banales wie das Stechen der Lampen in seinen Augen nicht mehr, nicht einmal, der mögliche Schmerz, den ihn seine kommende Bewegung kosten würde. So schnell, dass ihm dabei schwindelig wurde, richtete er sich in seinem Bett auf und packte den Kragen des Generalleutnants.

Valentin sah ihn perplex an, bemühte sich aber nicht, sich zu befreien.
„Rotovnik ... haben Sie Rotovnik gefunden? Lebt er? Und der Zar ..." Die Eindringlichkeit seiner Worte zerbrach in tausende Scherben und was blieb war lediglich ein raues Husten, das ihn derart schüttelte, dass er fürchtete, sich gleich vor die Stiefel des anderen zu übergeben. Sein Schwindel trug dabei nicht besonders zum Gefühl bei, dies verhindern zu können.

Der Rauch, schoss es ihm durch den Kopf, bis sein Verstand endlich Trugbild von Wirklichkeit trennte. Da war kein Rauch. Du wurdest angeschossen.

Lisitsyn drückte ihn vehement zurück ins Kissen.
„Keine Sorge, er lebt. Aber er hat viel Blut verloren und sein Bein ... Nur Kresnik weiß, ob es wieder richtig heilen wird. Die Zarenfamilie ist in Sicherheit und wohlauf. So sehr man das sagen kann unter diesen Umständen."

Erst jetzt gab Mikhail seinen Widerstand vollends auf und ließ sich in die harte Umarmung des improvisierten Krankenlagers sinken. Nun erkannte er auch wo er war – diese Täfelung gehörte zum Inneren der Shchtektin Akademie. Sein Kopf sank zur Seite, so dass er sich Angesicht in Angesicht mit der hölzernen Darstellung eines Wolfes befand.

„Man sagt, der Zarewitsch hätte einen Heiler geholt?" In den Worten des Grafenklang eine Frage nach, die Draganov nicht beantwortete.
Nun, da seine Sorge um Rotovnik und die Chervenkovs gewichen war, gab sie anderen Gefühlen Platz, sich in seinem Herzen einzunisten. Scham. Schuld. Selbsthass.
„Wie viele Opfer?", fragte er gegen die Wand gerichtet.

Ein Seufzer entwich Lisitsyn. „Es wird noch gezählt. Hundert. Vielleicht mehr."
„Aus unseren Reihen?"
„Leutnant Junevich, Polkovnik Anatolenko, ..."

Bei jedem Namen der fiel, verkrampfte sich Mikhails Kiefer mehr. Einige davon hätte er Freunde genannt. Und er? Was hatte er getan, außer sich verwunden zulassen und dann feige zu verkriechen? Ihm war es nicht gelungen, den Schützen zu stoppen, einen Heiler für Rotovnik zu holen oder diese Magierin aufzuhalten.

„Diese Ved'ma?", fragte er schließlich, um diese innere Stimme zu übertönen, die ihn einen Versager und Dummkopf schalt, in der vagen Hoffnung, eine gute Nachricht zu erhalten.

„Im Gewahrsam der Kresniknina. Es heißt, Kapitan Zatsepina soll sie festgesetzt haben. Doch sie war nicht allein. Die anderen Ved'maki sind geflohen. Von den gewöhnlichen Schützen haben wir nur einen und der ist tot."
Ausgerechnet Zatsepina. Wenn sie hiervon wüsste ...

Valentin stieß zischend die Luft aus. „Ich wünschte, ich hätte bessere Nachrichten – oder mehr Informationen, aber da draußen ist gerade die Schlange los."

Für einige Herzschläge herrschte unangenehme Stille im Raum, die nur von ihrer beider Atemzüge gefüllt wurde. Aber Draganov wagte kaum, sie zu durchbrechen. Lisitsyns Anwesenheit war ihm plötzlich unangenehm, wie er da wie ein besorgter Nahestehender an seinem Bett saß und dabei wusste, dass er ihn dorthin gebracht hatte. In Sicherheit.

Hatte er nicht kürzlich erst gedacht, dass der Graf seine Position nicht verdiente? Hatte er sich nicht darüber gegrämt, selbst immer noch den Titel eines Polkovniks zu tragen? Jetzt stand er in der tiefsten Schuld dessen, den er angezweifelt hatte und erwies sich selbst für nichts als unwürdiger als den Rang eines Generals.

Doch trotzdem geboten ihm Ehre und Anstand zu sprechen.
„Ich ...", setzte Mikhail steif an.
Obwohl er nicht wusste, ob er dort auf etwas treffen würde, was ihm gefallen würde, richtete er nun endlich den Blick auf Valentin. Worte der Dankbarkeit waren wertlos, wenn man seinem Gegenüber dabei nicht einmal ins Gesicht sehen konnte. 

Der Graf saß mit immer noch zerrissener Uniform und unordentlichen Locken vor ihm, nach wie vor denselben halbbesorgten, halblächelnden Ausdruck in seinen grünen Augen, und versetzte Mikhail schlagartig unter die Kutsche zurück, wo eben dieser Anblick dicht über ihm geschwebt und ihn mit ungeahnter Freude erfüllt hatte. Die bloße Erinnerung daran hätte ihm die Schamesröte ins Gesicht treiben können, wenn er dazu geneigt hätte.

„Ich bin Euch zu Dank verpflichtet, svjetlost'."
„Nicht doch. Kameraden helfen einander. Freunde auch."

Warum mussten Valentins bescheidene Antwort und dieses Lächeln ihm das alles noch schwerer machen? Mikhail wollte wütend auf ihn sein, weil er ihn gerettet hatte, wie ein hilfloses Kind, doch wusste er selbst, dass sein einziger Zorn ihm selbst galt.
Schließlich war es nicht Lisitsyns Schuld, dass er ihn derart erbärmlich erlebt hatte.

„Wissen Sie, ..." Valentin drehte nachdenklich seinen Stock in den Händen, den er sich von irgendjemanden hatte bringen lassen müssen. Bei der Parade hatte er ihn nicht bei sich. „Ich habe darüber nachgedacht, das Angebot abzulehnen. Vielleicht braucht man mich hier mehr als in Finience?"

„Und diese grandiose Chance verstreichen lassen?", erwiderte Draganov mit größter Mühe, die Bitternis daran zu hindern, in seinen Ton zu schleichen. Dabei wusste er nicht einmal, woher sie kam.

Valentin bedachte ihn mit einem merkwürdig ernsten, langen Blick, bevor er lächelnd die Schultern zuckte. „Ach, vermutlich haben Sie recht. Ich ziehe eben immer noch den Feuerstrom der Reben den Geschützen vor und davon wird es in Finience wohl mehr als genug geben."
Lisitsyn erhob sich.

„Sie sollten sich jetzt ausruhen."
Nein, alles nur nicht das.

Diesmal meinte Mikhail das erste Mal eine Unregelmäßigkeit in seinem Schritt festzustellen und eine neue Verzweiflung, mit der er sich an den elfenbeinernen Fuchs klammerte, der den Gehstock schmückte. An der Tür hielt Valentin inne.
„Sie wollten mir vor der Parade noch etwas sagen. Es schien Ihnen wichtig."

Überrascht blinzelte der Polkovnik zu ihm hinüber. Das fiel ihm gerade jetzt ein?
Allem Fingerspitzengefühl entgegen, das er sich für diese Angelegenheit vorgenommen hatte, platzte er mit der Antwort ungeschickt heraus. „Ich weiß von Ihnen und der Zarin."

Nun war es an Valentin überrascht zu blinzeln.
„Heute mit der Zesarewna haben Sie sehr vertraut gewirkt. Vielleicht zu vertraut als die meisten angebracht finden würden."

„Zwischen Zinoch ... Zarewna Zinaïda und mir ist nichts, das Verboten wäre."

„Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie da tun? Welche widerlichen Gerüchte das nach sich zieht? Sie können darüber die Schulter zucken und es belächeln, wie Sie es immer tun. Sie muss es schließlich nicht stören, als Bettwärmer der halben Zarenfamilie zu gelten, aber was bedeutet das für den Ruf eines Herrschers? Für den Ruf einer Thronerbin, die jetzt noch als Heilige verehrt wird? Wir beide wissen, wie fragil diese Ehre für einen lebenden Menschen ist. Mir steht vermutlich kein Urteil zu, aber bei allem Respekt, muss ich Ihnen sagen, dass das, was sie da tun, rücksichtlos ist."

Als die Stille mit einem Schlag auf sie niederfuhr, wurde Draganov bewusst, dass er seinem ganzen Frust Luft gemacht hatte und dabei zu weit gegangen war. So durfte er nicht mit einem Vorgesetzten sprechen. Wenn sein glorreicher Erfolg beim Attentat ihm den Pallasch an die Brust gesetzt hatte, dann war das nun der Todesstoß für seine Karriere. Aber jetzt war es zu spät für Reue.

Er wusste nicht, welche Reaktion er von Valentin erwartet hatte. Vermutlich einen tadelnden Scherz. Doch der Graf schwieg.

Erst jetzt bemerkte Mikhail die finsteren Halbmonde unter seinen Augen. Es schien als habe er in diesen wenigen Stunden ganze schlaflose Nächte durchlitten. Über sein Gesicht huschte ein leidender Ausdruck, von dem Mikhail nicht wusste, ob ihn seine Worte verschuldet hatten oder doch etwa eine unbemerkte Verletzung.

„Nun, dann kommt mein Aufenthalt in Finience doch mehr als gelegen", erwiderte Valentin sanft, mit der Andeutung eines wehmütigen Lächelns um die Lippen, ehe er den Raum verließ und Mikhail mit der Stille und einem nagenden Gefühl in der Magengrube zurückließ.


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𝐀 𝐍 𝐌 𝐄 𝐑 𝐊 𝐔 𝐍 𝐆 𝐄 𝐍

Was haltet ihr von dem kleinen Valja und Misha Drama? (Das Gif sagt mehr als tausend Worte)

Und was hat es wohl mit Mikhails Traum auf sich?

Wie immer, teilt gerne alle eure Gedanken!

Langsam aber sicher steuern wir auf das Ende des ersten Akts zu (der nach meinem Plan eigentlich so viel kürzer hätte sein sollen) und ich merke immer mehr, wie sehr ich dieses dämliche Attentat unterschätzt habe und spiele sehr mit dem Gedanken, viel davon wegzukürzen ^^" (Der Fakt, dass ich mittlerweile mit unterschiedlichen Farben für unterschiedliche POVs arbeiten muss, damit ich nicht die Übersicht bei Word verliere, sagt eh schon alles)

Generell läuft in dieser Geschichte so gar nichts nach Plan - neuer Plot drängt sich dazwischen, Szenen dehnen sich weiter aus als gewollt... Die ganzen Überarbeitungen am Ende werden meine persönliche Hölle. 

Ich hoffe, zumindest ihr seit noch begeistert dabei :'D

Etwas, das jetzt aber hoffentlich besser und übersichtlicher ist: Das Glossar! Das hat nämlich ein ordentliches Makeover bekommen. Schaut für Infos also wie immer gerne vorbei 

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