𝟔.𝟏 | 𝐕𝐨𝐧 𝐊𝐫𝐢𝐞𝐠 𝐮𝐧𝐝 𝐅𝐫𝐢𝐞𝐝𝐞𝐧

✥          ✥           ✥


» Lasst uns heute im Glanz der Sonne feiern den Frieden.
Lasst uns hüllen den Krieg in weißes Tuch.Lasst uns auf dem blutgetränkten Boden Rosen erlauben zu blühen. Lasst uns den hundertjährigen Frieden feiern.
Auf die nächsten hundert Jahre. Auf ewige Brüderlichkeit! «
– aus der Zeitung „Velischer Bote"
Sonderausgabe zu hundert Jahren Frieden zwischen Velija und Finience


ES WAREN ihn an der Nase kitzelnde Sonnenstrahlen, die Valentin Lisitsyn aus dem Schlaf rissen. Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, zogen sich seine Mundwinkel schon zu einem wohligen Lächeln hoch. Unter sich fühlte er die weichen Kissen, auf seinem Gesicht die gerade erst erwachende Sonne, die die Wolken hinter dem Fenster in zarten Orange- und Rosatönen färbte, und neben sich die Wärme eines anderen Körpers.

Was hatte er letzte Nacht getan? Wo war er?

Blinzelnd wandte er den Kopf zur Seite, weg vom malerischen Anblick, der sich am Himmel bot. Neben ihm ergossen sich glänzende Locken wie ein dunkler Heiligenschein wild über die Kissen, sich sachte hebenden Schultern und ein Köpfchen, von dem nur die Nasenspitze und eine rosige Wange unter diesem Wirrwarr sichtbar war.

Langsam sickerte die Erinnerung wieder zu ihm durch: Ein fröhlicher Abend, der im Zarenpalast begonnen hatte, führte weiter in die diversen Nachtbetriebe Altingrads. Er hatte Glück im Spiel gehabt, das ihn aber alsbald ennuyierte und durch den Zorn seiner Mitspieler in einem bitteren Streit zu eskalieren drohte.

Einer war sogar so dreist gewesen, Valentin Betrug vorzuwerfen. Der Gedanke entlockte ihm ein kleines Schmunzeln. Dahinter verbarg sich aber vielmehr Unversöhnlichkeit darüber, dass der Graf ihm seine Angebetete ausgespannt haben soll, wessen sich Lisitsyn nicht entsinnen konnte. Eine Antwort, die den anderen umso mehr in Rage gebracht hatte.

Das Ende dieser Geschichte blieb jedoch verschwommen. Valentin runzelte die Stirn. Er würde wohl Bjalski oder einen der anderen fragen müssen, ob ihm ein Duell bevorstand – falls deren Erinnerungsvermögen nicht noch mehr unter dem Avonçant gelitten hatte als sein eigenes. 

Was folgte, wusste Valentin jedoch noch sehr gut. Auf dem Heimweg hatte er beschlossen, dass es denkbar zu früh war, einfach nach Hause zu gehen und die Nacht enden zu lassen, weswegen er dort auch nie angekommen, sondern bei seiner Setja, die allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht hier war.

So lag er also in den spätesten Nacht- oder bereits den frühesten Morgenstunden – wer will denn schon so genau sein, jedenfalls diese unsägliche Zeit in der es nichts Gutes oder Schlechtes gab, nur Stille – auf einer Chaiselongue in ihren Gemächern und wartete auf sie. Gerade so weit aufgerichtet, dass er problemlos seine Pfeife paffen konnte, aber doch so, dass er den Eindruck formloser Nachlässigkeit erweckte. Seine Augen folgten den gen Zimmerdecke schwebenden Rauchkringeln, während er seinen Schnurrbart zwirbelte. 

Nur das Pochen in seinem Bein, das ihn daran erinnern wollte, seine Medizin zu nehmen, durchbrach den Nebel seiner Gedanken.
In seinen Taschen meinte er die Last seines heutigen Sieges zu spüren, obwohl es doch nur ein paar wenige Scheine waren, die den gesamten Wert mehrerer tausend Kruna trugen.

Für gewöhnlich hinterließ sie eine wohlige Wärme in Valentins Inneren, die heute allerdings ausblieb. Die einzige stammte alleine aus seiner Pfeife, deren süßlicher Geschmack ihn kurz darüber hinwegtrösten konnte, wie unbefriedigend die bedingungslose Liebe der Rozhanitsy manchmal war. 

Drei weitere Kreise aus weißem Rauch stiegen von seinen Lippen in die Luft, deren kurzes Leben der Graf mit gerunzelter Stirn beobachtete.
Es waren diese verfluchten Stunden der Stille, die sein größter Feind waren und Gefühle in ihm weckten, die ihm sonst fremd waren. Unzufriedenheit. Melancholie. Ein Verlangen, nach etwas, von dem Valentin nicht wusste, was es stillen konnte.

Womit auch, wenn hier doch nichts und niemand war außer Finsternis und das Schweigen der Welt.
Das Beste im Leben ist nichts als Rausch. Doch was war das Leben, wenn er ihm fehlte?

Mit einem sachten Geräusch öffnete sich die Tür und Valentin erkannte eine Gestalt in die Dunkelheit treten. Über unsichtbare Lippen kam ein kaum vernehmbares Seufzen als sie, ohne sich die Mühe machte, auch nur eine Kerze anzuzünden, ihren Kopfschmuck auf ihren Frisiertisch legte. Kleider raschelten als sie sich auf den Stuhl fallen ließ.
Schlagartig verflüchtigten sich seine trüben Gedanken wie Nebel unter den Fingern der ersten Sonnenstrahlen.

„Nafset! Nafset, komm hilf mir aus meinen Kleid–"
Mitten im Satz unterbrach sich die Zarin selbst, als hätte sie mit einem Schlag die Präsenz einer anderen Person – seine – wahrgenommen, und wandte sich hektisch um. Auch ohne, dass Valentin es sehen konnte, wusste er, dass in dem Augenblick, da sie seine entspannt auf der Chaiselongue ausgestreckten Umrisse erkannte, Schrecken ihre Gedanken bestimmte.

Mit einem besänftigenden Lächeln, von dem der Graf nicht sicher wusste, ob sie es sah, aber das sich auch in seiner Stimme widerspiegelte, sprach er in die Dunkelheit: „Lass dich von meiner Anwesenheit nicht stören."

Setenay atmete aus. „Ach du bist es, Valja. Warum musst du mich immer so erschrecken?"
Nun erhob Valentin sich aus seiner Position seine Pfeife beiseitelegend. Das nur durch einen kleinen Streifen in den Raum fallende Mondlicht folgte den zarten Vertiefungen, die seine Zähne im Mundstück hinterlassen hatten, als sie aufeinandertrafen.

Beinahe geräuschlos trat Lisitsyn auf die Zarin zu und beugte sich zu ihrer auf der Holzverzierung der Stuhllehne liegenden Hand, um einen flüchtigen Kuss darauf zu hauchen. Dabei strömte der betörende Duft ihres Parfums in seine Nase.

„Verzeih, das wollte ich nicht. Ich habe nur auf dich gewartet." Und nach einer kurzen Pause fügte er verschmitzt hinzu: „Wenn deine Zofe noch länger auf sich warten lässt, übernehme ich gerne ihre Aufgabe."
„Valja ..."

Langsam ließ er sich auf ein Knie sinken, hob ihren Fuß auf sein aufgerichtetes und begann die Schnüre ihrer Schuhe zu lösen.

„Du bist grausam, weißt du das?", flüsterte Setenay. Seine Anwesenheit schien im Gegenzug noch keinerlei aufheiternde Wirkung gehabt zu haben. Im Gegenteil, in ihren blauen Augen spiegelte sich Traurigkeit – anders noch als die übliche Entrücktheit –, ein Umstand, der ihn beinahe verletzte. Schließlich war der Graf es gewohnt, Freude zu verbreiten.

Verwundert sah Valentin zu ihr hoch. „Grausam? Weshalb?"

„Das weißt du ganz genau." Die Zarin runzelte die Stirn und schürzte die Lippen, was ihr hübsches Gesicht noch etwas reizender machte. „Du wirst nicht mehr lange hier sein. Bald schicken sie dich nach Finience. So weit, weit weg ... Das hier wird vielleicht unser Abschied sein und du tust so als wäre es nur ein Spiel."

Man hätte meinen können, eine Beziehung zwischen einem Grafen und der Zarin wäre schrecklich kompliziert. Doch tatsächlich war sie das nie gewesen. Zwar hatte Setenays und Gerasims Ehe mit einer Liebesheirat begonnen, aber wann genügte Liebe schon in einem Käfig aus Pflicht und Erwartungen, der so viele Sehnsüchte unerfüllt ließ? Die Trennung, natürlich bloß inoffiziell, erfolgte einvernehmlich und in Frieden. Für Nachkommen war immerhin gesorgt.

Dazu kam, dass es zwischen Valentin und ihr nie irgendwelche Verbindlichkeiten gegeben hatte: Setenay erwartete von ihm nicht mehr und nicht weniger als sie hin und wieder aus ihrem Gefängnis der Einsamkeit und des Heimwehs zu befreien, solange sie beide mit dieser Konstellation glücklich waren.

Die größte Hürde blieb damit der Hofstaat, in dessen Augen Valentin nicht mehr als ein enger Freund der Zarenfamilie und dadurch gerngesehene Gesellschaft bei Festen, Ausritten der Zarin und allerlei weiterem sein durfte.

Die tiefe Freundschaft, die die Lisitsyns und die Chervenkovs seit Generationen verband, kam ihnen dabei mehr als gelegen. Natürlich hielt das einige nicht davon ab die hässlichsten Ondits zu verbreiten, die nicht weiter von der Realität entfernt sein konnten. Doch kompromittierendes Wissen, das in falschen Händen zu einer gefährlichen Waffe werden konnte, drang nie nach außen. Dafür wurde gesorgt.

Allerdings drohte die Situation nun etwaskomplizierter zu werden: mit seiner Versetzung nach Ebrenis.

Valentin unterbrach sich in seiner Aufgabe nicht, blickte aber zu ihr hoch. „Aber Setja! Du weißt, ich habe das nicht selbst gewählt."
Ihm selbst behagte der Gedanke nach Finience zu gehen nicht sonderlich. Doch andererseits wäre es zumindest ein Tapetenwechsel, ein kleines Abenteuer und letztlich war er wohl einfach ein zu unverbesserlicher Optimist, um nicht selbst darin etwas Gutes zu finden.

„Ja, ich weiß." Sie seufzte und ihre Finger suchten auf dem Tisch nach dem kleinen edelsteinbesetzten Zigarettenetui, entschieden sich dann jedoch anders.
„Deine schlechten Angewohnheiten färben auf mich ab", neckte sie ihn schmunzelnd.

Gespielt anklagend runzelte Valja die Stirn. „Was heißt denn hier schlechte Angewohnheiten?" Doch sein scherzhafter Ton verflüchtigte sich sofort, einem nachdenklichen weichend.
„Weißt du, was das Faszinierende daran ist? Mit jedem Moment, da man sie genießt, verflüchtigt sich der Tabak weiter zu Rauch und Asche – und lässt einen nach dem letzten Zug unbefriedigt zurück. Die perfekte Art eines perfekten Genusses, meinst du nicht?"

Während er sprach, erhob er sich, ihren Arm ergreifend und sie somit auch sanft auf die Beine ziehend.

„Deswegen will man davon also immer mehr? Kein sonderlich faires Geschäft." Setenays hier in der Dunkelheit nachtblaue Augen musterten Valentin aufmerksam, als suche sie in seinen Gesichtszügen die Antwort auf eine Frage, die sie nicht gestellt hatte. Währenddessen schoben sich seine Finger in ihr weiches Haar und lösten es mit ein paar geschickten Griffen, die sofort die Schwachstellen ihrer Frisur fanden. 

„Mir scheint Genuss immer ein gutes Geschäft. Was kümmert da schon dieser kleine Preis?", hauchte er.
Ihre Zofe Nafset würde, wie er wusste, in nächster Zeit nicht kommen und Valentin übernahm mit Freuden ihre Pflicht, ihrer Herrin aus ihrem Kleid und ihrem Korsett zu helfen —

So war er nun also bei seiner Setja. Wenn auch „seine" ihrer ungezwungenen Verbindung nicht unbedingt gerecht wurde. Schließlich teilte sie diesen liebevollen Titel mit so manch anderer, wie auch er in den Gedanken, heimlichen Briefen und in tiefster Nacht geflüsterten Worten einiger die Ehre besaß „mein Valentin" zu sein.

Zufrieden seufzend verschränkt er die Hände hinter dem Kopf und genoss die angenehme Ruhe und Friedlichkeit des Moments, wofür sonst in seinem Leben nicht viel Platz blieb. Er hätte eine Ewigkeit so bleiben können, ohne näheres Gefühl für Raum und Zeit, Verpflichtung–

Eine bittere Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht, der jede restliche Verschlafenheit vertrieb. Die Parade! Hektisch richtete sich Valentin im Bett auf und angelte nach seiner Taschenuhr auf dem Nachttisch. Das Ziffernblatt verdeutlichte ihm schonungslos, was er bereits befürchtet hatte: Es war viel zu spät!

Ohne einen weiteren Moment an diesmal sehr süße Tagträumereien zu verschwenden, sprang er auf und begann seine Uniform zusammenzusammeln, die unordentlich im Raum verteilt lag und sie – möglichst den Eindruck sie gerade in aller Eile übergeworfen zu haben vermeidend – anzuziehen.

„Was machst du? Gehst du schon?", hörte er aus der Richtung des Bettes ein Murmeln.
„Ja", antwortete Valentin atemlos, damit beschäftigt bisher erfolglos einen seiner Stiefel unter dem Bett hervorzuholen, der in der Hitze des Gefechts wohl irgendwann dort gelandet war.

„Es ist viel zu früh. Komm wieder her ..." Die schlaftrunkene Stimme ließ sich noch nicht von seiner eigenen Unruhe anstecken.

„Ich kann nicht. Ich muss gehen."

Erst jetzt drehte sich Setenay ruckartig zur Seite, richtete sich ein wenig auf und sah Valentin mit glänzenden Augen an, in denen neben der Müdigkeit ein Hauch eines Vorwurfs zu erkennen war. „Seit wann hast du es morgens so eilig als wäre der Kashchej hinter dir her? Bleib doch noch ein bisschen."

Mit einem besänftigenden Lächeln trat Valentin ans Bett zurück und schob ihr eine Locke aus der Stirn. „Ich muss. Man erwartet mich. Im Gegensatz zu dir muss ich bei den letzten Vorbereitungen für die Parade helfen – und habe keine Handvoll erlesenster Zofen des ganzen Landes, die sicherstellen, dass ich passabel aussehe."

„Und wenn ich dir befehle hier zu bleiben?", fragte Setenay und blinzelte aus ihren dunklen Wimpern zu ihm hoch.
Valentin biss sich auf die Unterlippe, jedoch dauerte der Kampf, den er mit seinem Pflichtgefühl ausfocht, nur wenige Augenblicke an, mit dem zu erwartenden Ausgang, dass jenes die Niederlage davontrug.

Seine Hände verfingen sich in ihrem Haar. „Selbst wenn ich dann noch die Wahl hätte, wäre dein Wunsch mir Befehl", hauchte er ihr ins Ohr. An seinen Lippen spürte er ihren Herzschlag unter der dünnen Haut ihres Halses pulsieren – und sich seinem eigenen gleich beschleunigen – bevor sie ihre Wange streifend wieder zu Setenays Mund zurückkehrten.

Ihre Finger nestelten wie geistesabwesend an dem kleinen Sonnenrad, das an einer Kette um Valentins Hals pendelte. Ein Talisman, geweiht in Kresniks heiligem Feuer, den er immer am Herzen trug, obwohl seine Lippen öfter hübsche Mädchen und Männer küssten als die Ikonen der Heiligen und Götter, und deren Namen sie öfter in Momenten der Leidenschaft denn des Gebetes verließen.

Doch die velischen Götter erzürnte das nicht. Aus ihren fernen Gefilden lachten sie höchstens über diesen unaufhörlichen Zelebranten der Kupala-Nacht.
Und selbst seine Vorgesetzten würden ihm doch bestimmt verzeihen, dass er noch einen letzten Moment hier verweilte ...

Als sie sich aus dem Kuss lösten, seufzte Setenay wie in dem Wissen, es wäre das letzte Mal. Der Laut beschwerte die Stimmung im Raum – und damit auch Valentins Herz. Für einen Augenblick blieben seine Augen an ihrem Nachttisch hängen, auf dem eine Ausgabe von Georgi Altinins Gedichtsammlung „Tausend kleine Tode" lag, die er selbst innig liebte.

Vielleicht hatte das Büchlein gerade deshalb den Weg hierher gefunden, weil sich die Leserin dadurch erhoffte, ihm ein wenig näher zu sein und ihn besser zu verstehen – ein Gedanke, der jemandem wie Lisitsyn nie in den Sinn gekommen wäre, und so freute er sich nur darüber, dass es ihr auch gefiel, ohne die tiefere Bedeutung dahinter zu verstehen.

Valja lächelte und schlug einen aufheiternden Ton an. Es gab kaum etwas, das er weniger ertrug als Trübsinn.
„Sehen wir uns beim Pferderennen? Du weißt, mein Sharkolija und ich treten dieses Mal an."

„Hm ... Vielleicht. Gerasim wird natürlich kommen, aber ich weiß nicht, ob mir danach ist", antwortete sie, gespielt ausweichend und ihr Blick zuckte zu seinem Medaillon-Ring mit dem Familienwappen, in dessen Fach nicht etwa die Locke eines geliebten Menschen verwahrt wurde, sondern eine Strähne aus der Mähne seines Pferds. Manche wollten ihn sogar damit beleidigen, dass sein bester Freund in Wirklichkeit Sharkolija war, aber Valentin konnte darüber nur lachen – und ihnen zustimmen.

„Aber was täte ich denn dort, wenn du nicht bei den anderen bist und uns...mir zuwinkst?" Valentin bedachte sie mit einem Blick, der für gewöhnlich jeden schmelzen ließ.
Schmunzelnd schüttelte Setenay den Kopf. „Na schön, ich komme."

Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, während er ihr wie förmlich mit einer kleinen Verbeugung die Hand küsste, als wären sie sich irgendwo sonst begegnet und nicht im Schlafzimmer. „Auf bald, Eure Majestät."

Dann schlich er sich geschickt wie eine Katze aus dem Palast und auf die Straße, von jenen Augen, die ihn jetzt so hier noch nicht erblicken sollten, ungesehen. Seine Sinne erwachten vollständig und richteten sich auf das, was ihm heute bevorstand. Wenn er seine Paradeuniform holen und noch rechtzeitig kommen wollte, musste er sich beeilen. Eilig folgte er dem Adergeflecht aus Straßen und kleinen Gassen durch die Stadt, vorbei an späten Heimkehrern aus Kneipen, ihre Geschäfte öffnenden Velier und einem großen schwarzen Hund, der Futter suchend durch die Stadt streunte.

Das Geld, das er gewonnen hatte – wie viel war es noch? Zehntausend? – landete mit einem „Kaufen Sie sich etwas Hübsches" in der bisher noch von lausigen zwei Malo gefüllten Kappe eines Bettlers, der mit diesem Tag des hundertjährigen Friedens auch noch sein ganz persönliches Glück würde feiern dürfen.

Noch. Denn Glück und Frieden sind fragile Dinge, die unter dem zartesten Beben zersplittern können.

Doch all das kam Valentin gar nicht in den Sinn und für die Zarin war in diesem Augenblick das größte vorstellbare Unglück die Papirossa, die Lisitsyn auf ihrem Nachtisch, direkt neben dem Buch zurückgelassen hatte.

„Lisitsyn, wo haben Sie denn die ganze Zeit gesteckt? Ich habe schon befürchtet, dass wir einen Suchtrupp zusammenstellen müssen", begrüßte ihn Draganov halb amüsiert, halb vorwurfsvoll in den Hallen des Palastes, in dem nun – zumindest dort, wo es der hohe Besuch nicht bemerken würde – geschäftiges Treiben zur Vorbereitung der Festlichkeiten herrschte. 

Schließlich handelte sich nicht nur um ein weiteres, pompöses Willkommen für den Imperator, sondern den hundertsten Jahrestag ihres beschlossenen Friedens. Diesen gemeinsam in Altingrad zu begehen, Zar und Imperator Seite an Seite, war eine Erneuerung und Bestätigung dieser Freundschaft vor dem Volk, vor dem Adel, vor der gesamten Welt. 

Unzählige Abgesandte und Aristokraten aus allen Ländern hatten sich zu diesem Zweck hier eingefunden und morgen würde keine Zeitung nicht darüber berichten. Dieser Tag würde in die Geschichte eingehen, das wusste jeder, und dementsprechend wollte auch niemand verantworten, dass irgendetwas ihn überschattet könnte und war nervös mit seinen Aufgaben beschäftigt. Außer Valentin Lisitsyn, der schien als wäre es ein Tag wie jeder andere.

„Für mich wird das nicht nötig sein. Ich musste nur meinem Ruf nachkommen, andere zu überraschen", erwiderte der Graf schmunzelnd.
Mikhail zog die Augenbrauen zusammen. „Für wen denn dann?"
„Ich bin gerade der Zaritsa begegnet. Sie hat mich gebeten, nach ihrer Tochter zu suchen."

„Die Zarewna ist nicht hier?", fragte Mikhail, obwohl er gar nicht wusste, um welche der Prinzessinnen es sich handelte. An welche er auch intuitiv gedacht hätte, es war mit Sicherheit nicht diese.

„Zarewna Zinaïda scheint noch nicht von ihrem Ausritt zurück zu sein."
Die lebende Heilige, pflichtbewusste Tochter des Zaren, konnte man sich wohl schwierig an einem solchen Tag als diejenige vorstellen, die Chaos in die geregelten Abläufe brachte.

Während sie sprachen, traten sie hinaus in eine goldene Sonne, die an dem großen Fest heute teilhaben zu wollen schien. Und es dauerte auch nur wenige Momente bis, eben dieses Licht im Rücken in geradezu halsbrecherischem Tempo auf ihrer weißen Stute auf die beiden zukam.
Wahrhaftig wie die Darstellung einer Heiligen.

Draganov spannte sich neben Valentin an und sog scharf die Luft ein, als erwarte er bereits einen unabwendbaren Unfall, doch Lisitsyn legte dem Fürsten beruhigend eine Hand auf die Schulter.
„Keine Sorge, sie reitet, als wäre sie wie die Zaritsa in Aspravje aufgewachsen."

„Valjusha!", entrang sich ein Jubeln ihrer Kehle, das das donnernde Traben übertönte.
Zina zwang ihr Pferd zu einem allzu abrupten Halt, was die Stute aufbäumen, ihre Hufe in die Luft schlagen und wieder zu Boden trommeln ließ. Kieselsteine stoben wie winzige Geschosse auf, doch der Graf kümmerte sich wenig darum. Schließlich stand der hübsche Schimmel still.

 Während all dem hielt sich die Prinzessin wie selbstverständlich im Sattel, als könne nichts sie von dem Tier unter sich trennen, bevor sie jetzt elegant zu Boden sprang und den winzigen Abstand zu den beiden Männern überbrückte. Oder vielmehr zu Lisitsyn.

„Valjusha!", wiederholte sie erfreut seinen Kosenamen und warf sich ihm wie ein kleines Mädchen in die Arme.
Wärme durchflutete Valentins Herz und ein strahlendes Lächeln erhellte sein Gesicht, als er die überschwängliche Begrüßung erwiderte.
„Zinochka."

„Eigentlich sollte ich dir für dein schlechtes Benehmen böse sein", nuschelte die Prinzessin noch halb in seine Kleidung, ehe sie sich ein Stück aus der Umarmung löste. „Du bist viel zu selten hier! Und wenn, dann sehen wir uns kaum. Gestern am Ball hast du kaum ein Wort mit mir gewechselt – und dann warst du auch schon wieder verschwunden."

Zwar sah Valentin in ihren strahlendblauen Augen, dass sie nicht wirklich wütend war, höchstens ein klitzekleines Bisschen beleidigt, aber doch spürte er einen kleinen Stich bei diesen Worten. Vermutlich hatte Zina recht. In den letzten Wochen hatte er sie vernachlässigt. Zu häufig hatten Kameraden ihn eingeladen oder andere Verpflichtungen sich zwischen sie gestellt und jetzt verließ er Altingrad bald für längere Zeit.

„Tut mir leid, Zinochka, ich werde es wieder gutmachen. Wie wäre es, wenn–"
Ein leises, aber doch sehr unmissverständliches Räuspern unterbrach ihn, und er wandte sich Draganov zu, der die beiden mit einem scharfen, durchdringlichen Blick musterte, der einer stillen Mahnung gleichkam.

Zina, die den Polkovnik bisher nicht bemerkt hatte, wich augenblicklich einen weiteren Schritt vor Valentin zurück, verfiel in eine gerade Haltung und ernsten Gesichtsausdruck. Doch auf ihre Wangen schlich sich ein wenig Röte, die sicherlich nicht dem Tempo ihres Rittes geschuldet war. Das Mädchen war verschwunden und statt seiner stand vor den Offizieren die zukünftige Thronerbin.

„Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit, Polkovnik. Mit wem habe ich die Ehre ...?"
„Aber nicht doch, Eure Hoheit. Ich wollte Euer fröhliches Wiedersehen nicht stören. Fürst Mikhail Romanovich Draganov." Mikhail verneigte sich tief.
„Roman Draganovs Sohn? Wie geht es Ihrem Vater? Ich hoffe, er erfreut sich wieder bester Gesundheit?"

Valentin sah, wie sich Mikhails Lippen ein wenig fester aufeinanderpressten. „Er erholt sich, auf unserem Gut in den Bergen."
Nun war es an Lisitsyn das Gespräch zu unterbrechen, denn offensichtlich war sein Vater nichts, worüber Draganov sprechen wollte. „Zinochka, wir sind hier, weil deine Mutter dich schon überall sucht. Du musst bereit sein für die Parade."

Ein entschuldigendes Lächeln stahl sich ins Gesicht der Prinzessin. „Ich wollte viel früher zurück sein. Es war wirklich nicht meine Schuld."
Obwohl sie beide unähnlicher nicht sein konnten, meinte Lisitsyn in diesem Augenblick etwas von sich in der jungen Frau vor sich zu erkennen und er wusste beim besten Willen nicht, ob ihm das gefiel. Was auch immer sich in ihm regte, er überspielte es gekonnt, indem er Zinaïda spielerisch anstupste.

„Erzähl das lieber deiner Mutter. Los, sie warten alle schon."
„Natürlich. Wir sehen uns später. Gospodin Polkovik", wandte sie sich zuletzt an Draganov, machte einen hastigen Knicks und war schon davongeeilt. 

Als ihre Schritte schon längst verklungen waren und Valja, der Stute liebevoll über den Kopf streichend, einen Stallburschen herbeirief, verharrte Mikhails Blick streng und unnachgiebig auf ihm. In dem dunklen Braun lag derselbe merkwürdige Ausdruck wie zuvor.
„Ich weiß, mir steht kein Urteil darüber zu, svjetlost'...", setzte er leise an.

„Hier sind Sie!" Es war Ergenas Stimme, die ihn unterbrach, und seine Worte ungesagt bleiben ließ. „Man sucht schon nach Ihnen. Sie wollten sich doch nicht etwa vor der Parade drücken, Lisitsyn?"
Valentin antwortete auf den leicht spöttischen Ton der Kresnitsa mit einem Lachen. „Ich doch nicht. Sie wissen doch, Kapitan, ich liebe das Rampenlicht!"

Dass Draganov die ausgelassene Stimmung nicht teilen konnte, bemerkte der Graf nicht, ebenso wenig wie die ihm auf er Zunge brennende Warnung, die er angesichts der Parade missmutig hinunterschluckte. Im hektischen Treiben beachtete niemand den Schwarm schneeweißer Raben, der an diesem Tag über Altingrads Dächer hinwegjagte.

__________________________________

𝐀 𝐍 𝐌 𝐄 𝐑 𝐊 𝐔 𝐍 𝐆 𝐄 𝐍

Bin ich ein bisschen nervös, das hier zu posten? Vielleicht. Das ist jetzt Version 3 dieses Kapitels (ja, es ist echt nicht normal, wie oft ich das neu geschrieben habe) und sie hat so viel Symbolik, so viel Charakterisierung von Valentin und so viel unterschwellige Dramatik, die mir wichtig war zu etablieren ...

Vielleicht macht mich das etwas nervös. Vielleicht liegt es an der Beziehung, die ich schildere. Und weil ich Valentin als Charakter echt gerne mag und ein bisschen Angst habe, dass die Leser das anders sehen. Oder weil ich Angst habe, man könnte mein Worldbuilding langsam aber sicher langweilig finden ^^"

In dem Fall muss ich die Trauriger-Valja-Karte spielen ...

Nein, im Ernst, sagt mir gerne ehrlich, was ihr davon haltet. Und keine Angst: Wie hier ohnehin schon durch so viel foreshadowing wie möglich angekündigt, kommt bald wieder Action und Drama.

Wie vielleicht aufgefallen sein könnte: Das jetzt schon mehrfach angesprochene Aspravje existiert noch nicht auf der Karte. Updates in dieser Hinsicht folgen hoffentlich bald, aber wie der Name schon sagt, befindet sich das Land beim Aspravischen Gebirge.

Außerdem hatte ich zu viel Spaß damit und hier eine beachtliche Anzahl literarischer Anspielungen und Zitate eingebaut. Wer alle findet kriegt ... einen virtuellen Kecks :'D

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top