𝟓.𝟑 | 𝐖𝐞𝐧𝐧 𝐊𝐞𝐭𝐭𝐞𝐧 𝐟𝐚𝐥𝐥𝐞𝐧

✥           ✥           ✥




Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen die Dächer der Stadt auf der anderen Seite der Altinitsa berühren und golden erstrahlen lassen konnten, stand für Zarja fest, dass sie hier nicht bleiben konnte.

Den Hut tief ins Gesicht gezogen und ihren Zopf gut darunter verborgen, huschte sie durch die Schatten der Viertel, die nicht mehr ihr zu Hause waren, sondern sie mehr denn je wie einen Fremdkörper abstießen. Etwas Feindliches. Hier war sie nicht mehr sicher. Doch ihr schmerzender, müder und ausgehungerter Körper sehnten sich genau danach: Sicherheit, in der sie sich ausruhen konnte.

Doch wenn nicht hier, wo dann?
Eigentlich gab es nur einen einzigen Ort, an dem sie vielleicht noch willkommen war. Vielleicht.

Ihr Weg führte sie dorthin, von wo sie gestern in den frühen Morgenstunden gekommen war: Zum Güldenen Bär, der um diese Zeit freilich noch nicht geöffnet hatte. Ohne ihre Umgebung jemals aus den Augen zu lassen, als erwarte sie jeden Moment einen Angriff aus den Schatten, lief sie den Sveta-Svatava-Prospekt entlang, an der Universität vorbei und über den Rodion-Lisitsyn-Platz mit dem imposanten Reiterdenkmal. Das einzige in ganz Velija, das keinem Herrscher oder Helden aus alter Zeit gewidmet war, wie Jaromir ihr einmal erzählt hatte.

Jaromir. Sie hasste es, diesem Mann auch nur irgendetwas zu verdanken. Doch das tat sie. Ihr Geschick im Kampf, ihr langes Haar, ihr Wissen, das Gefühl von warmem Wasser auf ihrer Haut, statt der blassen Erinnerung davon, mit der sie sich im Lagerhaus doch nie über die Tortur jedes Bades hinwegtrösten konnte, dass ihr Körper noch ihr gehörte, vielleicht ihr Leben. Sie verdankte ihm zu viel.

Kein Wunder, dass er glaubte, sie würde bleiben oder zurückkommen. Etwas Besseres als das stille Verwelken unter seiner Hand hielt das Leben nicht für sie bereit. Eher krepiere ich auf der Straße.

Als sie die Rusalkabrücke erreichte, berührte die Altinitsa bereits Zarjas Licht – die Morgendämmerung, der sie wohl ihren Namen verdankte – und ließ das Wasser golden glitzern. Ein Anblick, der das Märchen um die dort von einem Wassergeist ertränkte Zarewna, die den Fluss nun ihrerseits als Rusalka heimsuchte, unvorstellbar erscheinen ließ.

Das hinderte aber den ein oder anderen der ersten Passanten nicht daran, eine kleine Opfergabe in den Fluss fallen zu lassen, das sie sicherlich mit Freuden entgegennahm. Denn Zarja wusste, dass ihre Existenz kein Märchen war.

All das war ein riesiger Umweg durch die schöneren Viertel Altingrads, der alleine dem Zweck diente, mögliche Verfolger abzuschütteln. Deshalb verweilte sie auch an keinem der Orte länger als nötig.
Alleine an der Alten Kathedrale hielt sie für einen Augenblick inne. Jelisaveta hätte in einem solchen Moment wohl gebetet.

Doch Zarja hatte den Göttern und Heiligen nichts zu geben oder zu bitten. Die, die sich ihrer annehmen würden, verehrte man nicht in den Heiligtümern Velijas, sondern in versteckten Schreinen und mit Gebeten, die diese nie verlassen durften. Denn sie war kein Mensch, keine Tochter Kresniks. Sie war ein Wesen der Finsternis, dessen Wort an den höchsten Gott einer Beleidigung gleichkommen musste, stammte sie doch von seinem Feind.

In Sveti Medard hatte Zarja jedes Gebet gefürchtet, glaubte sie doch, Kresnik würde sie aus Zorn wie alle anderen Schattenwesen mit seinem Blitz töten. Das war ebenso wenig geschehen, wie das Erhören ihrer Bitten.

Zarja schüttelte den Kopf. Wozu beten? Bis jetzt war sie immerhin auch ohne göttlichen Beistand zurechtgekommen.

Ohne die von drinnen auf die Straße flutende Musik, die sich mit Gelächter und Gläserklirren mischte, wirkte der Güldene Bär geradezu fremd, hatte Zarja das Gebäude doch nie in einer solchen gespenstischen Ruhe, ohne ein einziges Licht hinter dem Fenster und mit ordentlich verriegelter Tür gesehen. 

Selbst das über dem Eingang hängende Schild, neben dessen gewundener, anachronistischer Schrift die Silhouette eines Bären zu sehen war, wirkte vor diesem Hintergrund einsam. Nicht einmal die Wohnräume über dem Lokal, die von seiner Besitzerin bewohnt wurden, ließen ein Lebenszeichen bemerken: kein geöffnetes Fenster oder eine Regung hinter dem Glas, keine Geräusche, ... 

Nur für die Magierin, die durch die Wände hindurch ganz sachte das Babumm Babumm von zwei Herzen hörte, war klar, dass Nevena zu Hause sein musste. Sogar hier im Erdgeschoss, wenn sie sich nicht täuschte.

Unentschlossen wartete Zarja einen Moment, ehe sie hörbar an die Tür klopfte. Theoretisch waren sie beide so etwas wie Freundinnen, doch bisher, so wurde ihr nun schmerzlich bewusst, hatte diese Verbindung für Nevena durchaus Vorteile gehabt, weil sie ihr ermöglichte hier und da Informationen über Jaromir aufzupicken. Vielleicht ging es der Ridavka alleine darum und verlor Zarja ihre Nützlichkeit für sie, endete auch diese Freundschaft.

„Wir haben geschlossen", tönte es von drinnen.
„Ich bin es!" Nur mit Mühe konnte sie das Zittern in ihrer Stimme verbergen. Wann hatte sie das letzte Mal jemanden um Hilfe gebeten? Und wann war es jemand, dessen Unterstützung sie sich so unsicher war?

Kurz wurde es drinnen still, gefolgt von einem animalischen Brummen und Schritten, die sich der Tür näherten. Als wäre sie gerade eben erst aufgestanden, trug Nevena einen seidenen Morgenrock, über den sich ihr dunkles Haar ergoss, doch ihr Blick war hellwach und sprach davon, dass sie bereits mit irgendetwas beschäftigt gewesen war.
„Ich hoffe doch sehr, du bist hier, damit ich dir endlich gratulieren ka – verdammte Scheiße, was ist denn mit dir passiert?"

Zarja riss sich vom Anblick Nevenas Locken los. Es war schon ungewöhnlich genug, sie auf der Bühne offen zu sehen – natürlich, das machte den Reiz der Auftritte aus –, doch dort trug sie zumindest Kopfschmuck. Jetzt war da nichts und sie fühlte sich, als wäre das nicht für ihre Augen bestimmt. Aber vermutlich war das albern. Ridavische Sitten waren nicht velische.

„Sehe ich so schrecklich aus?", fragte Zarja mit einem schiefen Grinsen.
„Als hättest du ein Rendezvous mit einem Upyr hinter dir."
„Nein, nur ein paar Bewunderer von Jaromir", antwortete sie wegwerfend. „Wozu wolltest du mir gratulieren?"

Nevena verschränkte die Arme vor der Brust und die Andeutung eines Augenrollens bewegte ihre goldenen Iriden. „Jaromir ist nicht der einzige, dem hier in der Stadt nichts entgeht."
Ihre Lippen formten sich zu einem beinahe tonlosen „Oh", das sie doch nicht recht verlassen wollte, und bevor sie zu einer geistreicheren Erwiderung auch nur hätte ansetzen können, bat Nevena sie bereits herein.

„Komm rein. Mein Angebot ist wie immer. Nur auf Musik und Unterhaltung musst du noch eine Weile verzichten." Während die Barbesitzerin ihre Blicke prüfend über ihre beachtliche Sammlung von Flaschen schweifen ließ, trottete Robida auf Zarja zu und begrüßte sie mit einem freundlichen Brummen. Jegliche Nervosität fiel sofort von ihr ab, bei der Selbstverständlichkeit mit der Nevena sie behandelte.

„Zu früh für Alkohol oder noch spät genug, was meinst du?"
„Mir genügt auch Tee." Zarja zuckte die Schultern.
„Tee?"

„Ja, ein beliebtes Heißgetränk hier in Velija – und wahrscheinlich großen Teilen der Welt."
Nevena schüttelte den Kopf und zog eine Augenbraue hoch. „Ich weiß, was Tee ist. Ich bin es nur nicht gewöhnt, dass man ihn hier bestellt. Der hier", sie deutete auf einen glänzenden, wunderschönen Samowar, „durfte bisher nur als Deko herhalten."
Das war nicht weiter verwunderlich. Bei all seiner Beliebtheit, keiner kam der Gedanke bei einem solchen Angebot an seltener Importware einen klassischen Tee zu bestellen.

Obwohl der Güldene Bär nicht weniger mit der kargen Küche Jelisavetas hätte haben können, deren Möbel aus abgenutztem Holz bestanden und auf zuweilen krummen Beinen standen wie die alter Frauen und deren einzige „Dekoration" zum Trocknen aufgehängte Kräuter und eine Variation alter Pfannen und Kellen darstellten, fühlte sich Zarja durch das dampfende Glas sogleich in die langen Winternächte zurückversetzt, die sie in dem finsteren Räumchen zugebracht hatte.

Jelisavetas dünne Eintöpfe mochten nicht viel getaugt haben, doch nichts ging über ihren Tee. Was wohl aus ihr geworden war? Seit sie Sveti Medard verlassen hatte, hatte sie nie mehr von der Köchin gehört. Wie auch?

„Erzählst du mir, was passiert ist oder muss ich erst deine Gedanken lesen?", holte Nevenas Stimme sie in die Gegenwart zurück. Weg vom Lagerhaus, Jelisaveta und Erinnerungen an kalte Räume und heißen Tee.

„Ich dachte, du weißt schon alles?" Gespielt verwundert zog Zarja eine Augenbraue hoch. „Und, dass Ridavije sowas nur in Ammenmärchen können." 

Wie so einiges anderes. Man sagte dem Volk allerlei solcher Kräfte nach, weil sie Magiern meist gewogen waren und für manche genügte letztendlich ihr teils nomadischer Lebensstil und ihre fremde Kultur, um ihnen zumindest betrügerische Gauklerei, wenn nicht finstere Mächte und die Verbrüderung mit Ved'maki vorzuwerfen. Ja, manche behaupteten sogar, dass die Wilde Jagd vornehmlich von Magiern aus ihren Reihen getragen worden war.

Vorurteile, die nur dann kurz zu verstummen schienen, wenn man sich an ridavischer Kunst erfreuen konnte. Kurz. Denn während die hohen Herren sich davon nahmen, was ihnen gefiel, Nevena hier fleißig Beifall klatschten und ihr heimliche Liebesbriefchen zusteckten, hinderte sie das wohl kaum daran, in ihren Kabinetten über ihr Volk nur mit Argwohn zu sprechen.

Dessen wäre sich Zarja auch ohne Jaromirs Erläuterungen sicher gewesen, denn wären alle Schichten und Völker wirklich so freundschaftlich miteinander wie im Güldenen Bär, gäbe es keine Armut, keinen Hass und keine Kriege.

Ein verschmitztes Grinsen hob Nevenas Mundwinkel, fast wie jenes, das sie von der Bühne ihrem Publikum manchmal zuwarf. „Willst du es denn darauf ankommen lassen?"
„Nachdem ich deinen Feuertanz gesehen habe? Nein, lieber nicht", erwiderte Zarja lachend. Zwar scherzte sie bloß, aber das hinderte nicht ein Fünkchen Wahrheit sich in ihre Worte zu schleichen. Schließlich wusste sie wirklich nicht, wozu Nevena imstande, was Magie und was Spiel, was real und was Illusion war.

„Nun?"
Nevena füllte sich Tee nach und musterte sie schließlich über die frisch dampfende Tasse hinweg, mit einem Blick, der ihr sagen sollte, dass sie diese Geschichte endlich hören wollte und sich durch nichts abschütteln ließ. 

Zarja tat es ihr also gleich, löffelte kräftig Warenje in die dunkle Flüssigkeit und erzählte ihr die kurze, im Nachhinein durchaus unspektakuläre Geschichte. Von dem reichen Fremden, der sie anscheinend willkürlich aus der Sklaverei gerettet hatte, von ihrer Begegnung mit Yasen Melnik und ihrer ungemütlichen Nacht in einer Hausruine.

„Was gedenkst du nun mit dieser neugewonnen Freiheit anzustellen?", fragte Nevena als sie geendet hatte, ihre lange, kleine Pfeife paffend, die sie sich während der Erzählung gestopft hatte. Kleine Rauchwölkchen quollen zwischen ihren roten Lippen hervor und verflüchtigten sich sofort im Raum.

Zarja dachte nicht über die Antwort nach, bevor sie aus ihr herausschoss: „Zur Armee."
Nicht nur, weil sie sich das geschworen hatte, bevor man ihre Freiheit verkauft hatte, sondern auch, weil es eine perfekte Möglichkeit war, unterzutauchen. Für Zarja Mrazova war die Stadt im Moment nicht sicher genug. Nicht, bis Gras über ihre Arbeit für Jaromir gewachsen war.

Wahrscheinlich hätte sie damit gerechnet, dass Nevena verwundert reagieren würde, oder vielmehr, dass jeder das würde, doch es zeigte sich nicht der Hauch davon in ihren feinen Gesichtszügen.
„Wie eine Paljenitsa, ja? Das gefällt mir. Ich fürchte nur, das ist aktuell etwas aus der Mode gekommen. Wie willst du das anstellen?"

Aus der Mode bedeutete allerdings auch, dass es einmal möglich gewesen war und es wieder sein konnte. Hatte sie nicht selbst eine Soldatin der Kresniknina im Güldenen Bär gesehen? Natürlich, das war etwas anderes. Ihre Fähigkeiten legitimierten sie dazu. Zarja hatte von ihren Kräften keine Achselschnüre zu erwarten, sondern höchstens eine einzige um den Hals.

Aber ... Wenn du etwas wirklich willst, solltest du gegen alle Widerstände dafür kämpfen. „Ich hab schon einen Plan, keine Sorge. Bis es so weit ist –"
„Bis es so weit ist, bleibst du hier und lässt mich erst einmal um dein Gesicht kümmern."

Zarja winkte ab. „Nicht nötig, ist nur ein Kratzer."
Doch Nevena gab ihr mehr als deutlich zu verstehen, dass sie keine Widerrede duldete, als sie ein Tuch mit Alkohol tränkte, um die Verletzung zu versorgen. Die Flüssigkeit brannte darauf wie Feuer und Zarja biss die Zähne zusammen.
Robida drückte tröstend ihre Nase gegen ihr Bein.

„Du kannst es nicht irgendwie heilen, oder?", fragte Nevena, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. Ihre kühlen Finger bändigten den tobenden Brand in ihrer Wange ein wenig.
„Wie sollte ich auch –", setzte Zarja an, ehe sie die Erkenntnis wie ein Schwall kalten Wassers traf, das sich im nächsten Moment zu Flammen entzündete.

„Du weißt es." Ihre Stimme war zu einem rauen Hauchen herabgeflaut, das die unzähligen Worte, die ihr durch den Kopf schwebten nicht zu tragen vermochte.

„Dass du eine Krevnitsa bist? Ja." Krevnitsa, Blutmagierin, das Wort ätzte sich in sie wie Säure in ihren Magen. Ihm haftete das Gewicht der Ketten, die Schärfe des Beils und der Gestank des Todes an. Die Bedeutungsschwere, über ein Leben zu entscheiden. Ihr Leben. Jegliche Form von magischen Kräften war in der Regel ein Fluch und kein Segen, aber diese führten auf direktem Wege aufs Schafott.

„Wie ...?", krächzte Zarja tonlos. Ein unsichtbarer Strick um ihren Hals schnürte ihr die Kehle zu. Sollte Nevena sie verraten, wäre das ihr Ende – und warum sollte sie es auch nicht tun? Innerlich wappnete sie sich für einen möglichen Fluchtversuch.

„Jetzt sieh mich nicht so an, als wäre ich von der Strazha. Es ist meine Aufgabe zu wissen, mit wem ich es zu tun habe." Nevena schmunzelte, doch die bloße Erwähnung der Sicherheitsabteilung Velijas ließ Zarja das Blut in den Adern gefrieren.

Für einen Moment spürte sie weder den Stuhl unter sich, noch das Tuch an ihrer Verletzung; sie befand sich überhaupt nicht mehr im Güldenen Bär sondern einem schwarzen Nichts. Da war nur ein winziger Fleck Licht und aus ihm troff wie aus einem hungrigen Maul Blut.
Nur ein Alptraum ...

Zarja blinzelte und die verschwommenen Umrisse des Lokals begannen langsam wieder an Form zu gewinnen.
„Sieht so als würde sich das entzünden. Ich sollte–", Nevena unterbrach sich selbst. „Geht es dir nicht gut?"

„Alles bestens", zischte Zarja aus zusammengebissenen Zähnen, um das Beben ihrer Lippen zu verbergen. Betont ruhig griff sie nach ihrem Podstakannik, dem Glashalter, doch sie musste ihn nur ein wenig anheben, da drohte der Tee auch schon überzuschwappen und über ihre Finger zu rinnen. 

Wahrscheinlich sah sie gerade schrecklich aus. Sie spürte ihre Kleidung kühl und feucht an sich kleben und es hätte sie nicht überrascht, wenn mittlerweile das letzte Bisschen Farbe aus ihrem Gesicht entflohen war. Dennoch dachte sie nicht daran, von ihrer Aussage abzuweichen.
„Kannst du die Wunde nicht einfach ausbrennen?", setzte sie stattdessen nach, schroffer als es ihr lieb war.

Nevena überhörte ihren Ton gekonnt, musterte Zarja allerdings mit hochgezogener Augenbraue. „Nein. Außerdem werde ich dir mit Sicherheit nichts im Gesicht ausbrennen."
Bemüht nonchalant, obwohl jeder einzelner ihrer Muskeln vor Anspannung brannte, zuckte Zarja mit den Schultern. 

„Wieso nicht? Du kannst Feuer doch gut genug kontrollieren. Oder willst du mir jetzt wieder weismachen, deine Auftritte wären bloß Zaubertricks?" Nun war die Grobheit aus ihrer Stimme gewichen, machte dafür aber einem beinahe kindlichen Trotz Platz, der ihr noch unliebsamer war. Es ist nicht fair, dass du mein Geheimnis kennst und ich deines nicht, schien aus jedem ihrer Worte zu triefen.

Die Ridavka konnte die Kalkulationen, die in ihren Gedanken vorgingen nicht verbergen, kräuselten sie doch sichtbar ihre Stirn, verhärteten den Zug um ihre Lippen ein wenig und verliehen ihren Blicken Schärfe – oder sie bemühte sich nicht, es zu verstecken. Schließlich wich die Spannung mit einem langen, tiefen Atemzug aus ihrem Körper und ihre spitzbübische Gelassenheit kehrte zurück.
„Wie denkst du denn, dass ich es mache?"
Natürlich würde sie es ihr nicht einfach sagen ...

„Feuermagie", antwortete Zarja sofort, vermutete aber bereits einen Moment später in eine Falle getappt zu sein.
Nevena hob eine ihrer Hände. Wo eben noch nichts gewesen war, spross eine winzige Flamme empor. Nicht größer als die einer Kerze, stetig und unbewegt von unsichtbaren Luftzügen und golden wie die Augen, in denen sie sich spiegelte.
Zarja hielt den Atem an. Das war Magie. Kein Trick, egal wie gut, konnte das bewirken.

„Fass sie an."
Sofort wich Zarja zurück, als hätte sie sich alleine durch diese Worte bereits verbrannt.
„Ich meine es ernst, fass sie an", wiederholte Nevena mit einer merkwürdigen Ruhe, die in ihr das Gegenteil auslöste.
So erpicht auf Verletzungen bin ich auch wieder nicht. Ich passe."

„Vertraust du mir, Zarja?" Nevenas Blicke hielten ihre gefangen.
Nein, wollte sie antworten, und der Flamme noch weniger. Sie hatte beide seiner Seiten kennenglernt: Das Feuer, das zerstörte, und jenes, das erschuf; das, das tötete, und das, das rettete.

Doch trotz der Wärme, das es ihr in Winternächten gespendet hatte, hatte sie Freundschaft mit der unnachsichtigen Kälte draußen geschlossen. Zwar war sie grausam, aber sie war es immer. Von ihr wusste Zarja, was sie zu erwarten hatte. Und während ihre Finger steiffroren, schenkte der Frost ihr zumindest Ruhe.
Vielleicht lag es in ihrer Natur. In ihrer Erinnerung nannte ihre Mutter sie immer Snegurochka, das Schneemädchen, und als solches musste sie das Feuer fürchten.

Aber Nevenas seidige Stimme schien ihrerseits eine Art von Magie zu besitzen, die die Worte in Zarjas Kehle gefangen hielt und ihren Kopf zu einem ungeschickten Nicken zwang.

Ihre Finger zitterten, als sie sich der Flamme näherten, ein Instinkt, der sich nicht unterdrücken ließ, und als sie sie schließlich berührten, zuckte sie zusammen.
Doch der Schmerz wollte nicht kommen.
Das Feuer war kalt.

Verwirrt blinzelnd zuckten Zarjas Blicke zwischen der Flamme und Nevena hin und her. Wie konnte das sein? Sie war doch hier, leuchtete in ihren Augen, verlieh ihrem Haar rötlichen Glanz – aber sie verströmte nicht die geringste Wärme und hinterließ auf Zarjas Fingern nicht die Andeutung von Licht. Ein so eindeutiger Widerspruch, das ihr Verstand sich dagegen wehren wollte. Keine Feuermagie. Aber was, bei den Rozhanitsy, war es dann?

Nevena schloss ihre Hand, erstickte die Flamme darin und befreite Zarja aus dem Bann der Faszination.
„Du siehst, selbst, wenn ich wollte. Mit diesem Feuer kann ich nichts verbrennen. Jedenfalls nicht dich." 

Schulterzuckend griff ihr Gegenüber nach ihrem Tee, während sich in Zarjas Kopf immer noch die Bilder der Flamme drehten.
„Es war kalt ...", flüsterte sie und strich mit den Fingerspitzen gedankenverloren über ihre Hand, als suchte sie dort nach Spuren, wo keine sein konnten.

„Wäre es dir lieber gewesen, wenn ich es etwas wärmer mache?" Eine Augenbraue der Ridavka schoss fragend in die Höhe und brachte zusammen mit der völligen Unschuld in ihrer Stimme das Fass zum Überlaufen. Wollte sie sich etwa über sie lustig machen?
„Ja! ... Oder nein. Oder ... keine Ahnung. Aber sollte Feuer nicht warm sein?"

Robida schien ihre Unruhe zu spüren, denn sie legte sorgenvoll den Kopf schief und musterte Zarja aus glänzenden schwarzen Augen. Sofort vergrub sie ihre Finger in dem weichen Fell, nicht nur um die Bärin zu beruhigen, sondern auch sich selbst.

„Sollte Blutmagie nicht Blut kontrollieren können?", erwiderte Nevena in einer Gegenfrage. Konnte sie denn nie lockerlassen? Doch um Antworten zu erhalten, musste Zarja, wie es schien, erst selbst solche liefern. Das Geschäft gefiel ihr nicht.

Umso mehr ließ sie sich Zeit, noch mehr Warenje in den Tee zu löffeln, und schließlich einen genüsslichen Schluck von dem Getränk zu nehmen, das auf ihrer Zunge die Süße der eingekochten Früchte hinterließ.
„Nicht mein eigenes Blut."

„Verstehe ...", Nevena ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, der ohne Gäste und mit Sonnenlicht, das durch die Buntglasfenster fiel, wie ein völlig anderer wirkte als vorletzte Nacht. Gewöhnlicher. Fröhlicher. Weniger wie ein Ort, dem ein Hauch des Verbotenen anhing, und mehr wie ein Zuhause.
„Ich hätte auch nichts anderes erwartet. Eine andere Krevnitsa, die ich kannte, konnte es auch nicht."

Ungeduldig trommelten Zarjas Finger auf die Tischplatte.
„Aber wie hast du das gemacht?"
Ein kleines Lächeln hob Nevenas Mundwinkel, als sie antwortete: „Illusion, ganz einfach. Du bist nicht die einzige, deren Kräfte ein Verbrechen sind."

__________________________

𝐀 𝐍 𝐌 𝐄 𝐑 𝐊 𝐔 𝐍 𝐆 𝐄 𝐍

Ja, ihr seht richtig. Ein neues Kapitel schon wieder! Regelmäßige Updates - ein Wunder ist geschehen :'D

Eine Runde Applaus, bitte

Und ja, ich hab es getan: Das Geheimnis um Nevenas Kräfte ist gelüftet. Ich hoffe, dass das nicht irgendwie zu früh kommt, aber die Szene hat sich einfach so entwickelt und es hat sich passend angefühlt Zarjas und ihre Beziehung so etwas weiter auszubauen. Was meint ihr?

Ich hab auch wieder versucht, etwas worldbuilding unterzubringen, vor allem mit der Bedeutung von Haaren in velischer Kultur, was auch an echten Traditionen inspiriert ist. Generell wollte ich da einiges an Symbolkraft unterbringen und im nächsten Kapitel dann auch eine kleine Anspielung an ein echtes Märchen ^^
Zum velischen Begriff für Blutmagier: Krevnik oder weiblich Krevnitsa kommt tatsächlich von slawischen Wörtern für Blut. Und fun fact, "krvnik" heißt in einigen Sprachen Henker oder Mörder, was, finde ich, dem ganzen noch eine schöne weitere Nuance gibt, die sehr gut zum velischen Bild von Blutmagiern passt.

Weil ich gehört habe, dass es da wohl ein bisschen Verwirrung wegen Namen und Charakteren gibt, hab ich übrigens noch eine entsprechende Sektion zum Glossar hinzugefügt!

Dieses Kapitel ist allen Tee-mit-Marmelade-Trinkern da draußen gewidmet

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top