𝟓.𝟐 | 𝐖𝐞𝐧𝐧 𝐊𝐞𝐭𝐭𝐞𝐧 𝐟𝐚𝐥𝐥𝐞𝐧
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In den Mauern des Palastes nannte man Amias hinter vorgehaltener Hand le démon, der Dämon. Die Lakaien wiegten sich in der Sicherheit, dass er es nicht hörte, doch dieses scheußliche Wort war ihm schon als Kind aus allen Ecken zugeweht worden wie ein stechend kalter Windstoß. Für sie war er das Teufelskind.
Dementsprechend hatte er immer gedacht, dass an ihm etwas Abstoßendes sein musste – ohne ganz zu wissen, was –, und er betrachtete die Welt aus den Augen eines Mannes, der sich dieser Tatsache durchaus bewusst war, aus denen eines schrecklichen Dämons. Hätte er gewusst, dass all das Geflüster den Palast doch nie verließ, und seine schwarzen, langbewimperten Augen außerhalb so manches Herz vor Wärme erweichten und nicht vor Angst, manche den fast grausamen Zug an ihm nicht einmal bemerkten, vielleicht wäre es tröstend gewesen. Vielleicht hätte er sich dessen aber auch nur geschämt.
Vor Amias erstreckte sich eine reichgedeckte Tafel, an dessen dargebotenen Delikatessen sich das Auge genauso wenig sattsehen konnte, wie an den goldenen Verzierungen des Raumes, dem exquisiten Mobiliar und den gewaltigen Lüstern, mit denen zarte Hälse schmückende Juwelen und die Brust bedeckende Orden um die Wette strahlen wollten. Egal, wohin man blickte, man entkam alledem nicht.
Siehst du zu lange hin, wirst du blind, schoss es Amias durch den Kopf, auf den diese Reize geradezu aufdringlich einströmten. Er wusste nicht, ob heute wirklich etwas anders oder er diesem Anblick schlicht zu entwöhnt war. In Ebrenis mied er solche Festlichkeiten wie die Pest und seine „Unpässlichkeit" wurde zur Regel. Ab und an fühlte er sich tatsächlich zu krank und schwach für solche Empfänge. Jetzt, erschlagen von dem Durcheinander aus Gelächter, Gespräch, Musik und dem Prunk, wünschte sich Amias in seine ruhige Bibliothek zurück, in der seine Gesellschaft neben Büchern höchstens noch aus ein paar ihrer Arbeit nachgehenden Dienern und dem Priester Pinabel bestand.
Angestrengt schweiften Amias' Blicke von der Zarenfamilie und seinem Vater, bei denen er saß, durch den Raum, seine Augen, obwohl es in jedem Winkel etwas neues zu entdecken gab, bereits alledem schrecklich überdrüssig.
Die Kleider der Damen glichen in manchem denen, die er auf ihrer Reise an Bäuerinnen und heute an Frauen von der anderen Flussseite gesehen hatte, und vielleicht war es gerade diese Ähnlichkeit, die die Unterschiede umso harscher akzentuierte. Statt den vielseitigen Sarafany, Vesten und Jäckchen, schmiegten sich ähnlich geformte Corsagen mit runden, manchmal einem auf dem Kopf stehenden Herz gleichenden, und trapezförmigen Ausschnitten eng an den Körper, die kunstvoller verziert waren als die schönste Festtagsgarderobe gewöhnlicher Leute.
An die sonst darunterliegenden Tuniken und Blusen erinnerten höchsten noch ein paar Rüschen und Spitzen, sonst drängte sich nichts außer Colliers zwischen Blick und zarter, nach erlesenstem Parfüm duftender Haut. Bänder und Gürtel aus Silber oder Gold betonten die Taille, wie es viel schlichtere bei den gewöhnlichen Leuten taten. Darunter ergossen sich teils mehrschichtige Kaskaden von feinstem Stoff.
Wie bei einem Kontusik waren die langen Ärmel geschlitzt, um die Arme zu entblößen, um deren Handgelenke wiederum Schmuck glänzte. Und als wäre dem nicht genug der Exploitation ihres Reichtums, ruhte auf den Häuptern nebst den ohnehin eindrucksvoll geflochtenen Frisuren das eigentliche Glanzstück der Komposition, an dem mehr als an allem anderen der Status einer jeden Frau abzulesen war: Der Haarschmuck. Kokoshniki in allen Größen, Farben und Formen, so meisterhaft gearbeitet als trüge jede der velischen Damen ihre ganz persönliche Krone.
Die Männer dagegen zeigten sich in verzierten, langen oder kurzen Kaftanen und Galauniformen diverser Farben und Formen. Entweder offizielle oder, weil es für ihre Position im Staat keine vorgeschriebene Tracht gab, daran inspirierte frei erfundene Kreationen. Nach außen hin freilich simpler als die prächtigen Abendkleider, steckten in den Schnurverzierungen, Knöpfen, Pelzverbrämungen und Stiefeln ohne Zweifel ebenso viele Kruna wie in jenen. Auch die Gäste ferner Länder oder Personen, die deren Stil bevorzugten, standen den Veliern in nichts nach.
Alles hier war wunderschön und erhaben – und genau deshalb spürte Amias eine Verachtung dafür in sich brennen. Er hasste das Schöne wie es jemand tat, der sich in dessen Mitte seiner Hässlichkeit bewusst wurde. Keine physische, darum hatte Amias sich nie sonderlich gekümmert, doch er fühlte, dass er sich gegen diese Menschen in irgendeiner Weise abheben musste, nicht hierhin passte, störte – und damit wie ein Geschwür auf einem sonst makellosen Gesicht.
„Wie gefällt Euch unser schönes Altingrad?", die Stimme Gerasim Chervenkovs riss Amias aus den Gedanken, ließ ihn verkrampfen und zerschlug damit jegliche Hoffnung, Konversation zu entgehen. Genügte es denn nicht, dass alle ihn neugierig oder hungrig wie daywasische Löwen anstarrten, weil sie in ihm einen naiven, im Vergleich zum Thronfolger unscheinbareren Prinzen sahen und somit einen perfekten Zugang ins Herrscherhaus? Viele hätten alles dafür gegeben eines ihrer Töchterchen in die Imperatorenfamilie einheiraten zu sehen.
Amias setzte die vage Andeutung eines Lächelns auf. „Hervorragend, Eure Majestät. Jetzt verstehe ich, warum man sie die goldene Stadt nennt."
Der Zar lächelte väterlich, was auf seinem junggebliebenen Gesicht beinahe komisch aussah.
Zwar hätte Gerasim II mit seinen etwas über vierzig Jahren Amias zum Sohn haben können, aber er sah wesentlich jünger aus. Ein Eindruck, den seine leuchtenden warmbraunen Augen verstärkten. Ob dahinter wohl Magie steckte? Der Gedanke ließ seinen Magen zucken.
Er hatte gelesen, dass geschickte Faie, wie sie Kresniki in Finience nannten, das Aussehen so verändern konnten. Immerhin bediente man sich hier an allen Ecken großzügig an Zauberei; ob nun in den stickigen, übervollen Fabriken oder in Räumlichkeiten wie diesen; ob von ausgelaugten Arbeitern oder Mitgliedern der Kresniknina, die mit ihm an einem Tisch saßen.
„Du hast deinen Tag also angenehm verbracht?", fragte sein wirklicher Vater, der wiederum sehr wenig Väterliches an sich hatte, sichtlich erleichtert über Amias' adäquate Antwort.
Augenblicklich sank seine Laune. Was erwartete Blancandrin denn von ihm? Dass er nicht einmal auf simple Fragen höflich reagieren konnte?
„Oh ja! Ich hab das berühmte Ozvienskij Theater gesehen, die Zehn-Kresniki-Kathedrale, die Parks, die Museen – und ich habe großartig investiert", erklärte Amias mit einer Euphorie, die den Imperator sofort stutzig werden und sogar seine tiefe Ablehnung gegen die velische Religion vergessen ließ. Als sie angereist waren, hatte Blancandrin die Heiligtümer Altingrads mit verzogenen Lippen gemustert und ein leises „Götzen- und Dämonenanbeterei, widerlich. Irgendwann zivilisieren wir diesen Haufen Barbaren schon noch" gezischt.
Zum ersten Mal an diesem Abend probierte Amias von dem Essen, das bis jetzt unberührt vor ihm gestanden hatte.
„Investiert? Wie viel? Worin?" Zwar gab sich der alternde Herrscher den Anschein der Blasiertheit, als wäre das nur ein bedeutungsloses Tischgespräch, indem er sich seinerseits die Gabel in den Mund schob, doch in seinen blassblauen Augen erkannte der Prinz eine Warnung aufblitzen.
„Eine Sklavin."
„Eine ... ungewöhnliche Investition", merkte der Zar an.
„Um sie freizulassen, selbstverständlich, und das arme Geschöpf aus diesen menschenunwürdigen Lebensumständen zu befreien. Und das zu einem Spottpreis." Amias konnte die Theatralik nicht daran hindern, sich in seinen Ton zu schleichen. Er sprach wie ein gönnerhafter Herrscher. Auf diesen Moment hatte er sich den ganzen Tag gefreut.
Blancandrin erblasste kaum merklich. „Wie viel?", fragte er tonlos und hoffte vermutlich, die Worte würden alleine zu seinem Sohn getragen werden und für alle anderem im allgemeinen Stimmengewirr untergehen.
„Läppische achthunderttausend Kruna. Ist das zu fassen?" Lachend schüttelte Amias den Kopf und trank, seinem Vater halb zuprostend, einen Schluck Wein.
Dem verschlug es wohl zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, die Sprache. Blancandrin Ael de Tenval de Finience war, ganz seiner Macht nach, ein unfassbar reicher Mann, den diese Summe nie in den Ruin treiben könnte, doch er war sparsam und achthunderttausend eben doch eine Menge Geld. Genug, dass es weh tat, es achtlos aus dem Fenster geworfen zu wissen.
Jegliche Farbe war dem Imperator aus dem Gesicht gewichen; seine Finger klammerten sich verkrampft um sein Glas, das dazwischen wie ein Blatt im Wind zitterte. Seine Lippen öffneten sich, wie um zu einer Antwort anzusetzen, fanden allerdings keine, weshalb sie in dieser Position verweilten. Zu Hause hätte sich sein ganzer Zorn auf Amias entladen, hier konnte er das nicht.
Ein unaufdringliches, aber doch merkbares Schweigen befiel das Kopfende der Tafel. Gerasim löste den Blick von der Zaritsa, die recht still neben ihm saß, um ihn auf den Imperator und seinen Sohn zu richten. Setenay Idarovna Chervenkova tat es ihrem Ehemann gleich, ebenso wie sein engster Berater Bajun, ein Magier, der dem Zaren nie von der Seite zu weichen schien. Selbst im Angesicht des Imperators nicht, zwischen dem und den anderen Kresniki eine rücksichtsvolle Distanz herrschte.
Nicht nur dieser Umstand bewies seinen Status. Man munkelte, er gehöre zu den ersten Kresniki oder gar den Alten – Wesen, die vielleicht so lange existierten wie die Erde selbst. Nur so viel wusste man, als dass er uralt war, am Leben und jung gehalten von einer Magie, wie sie nur den wenigsten jemals zur Verfügung stand, auch wenn so manche Magier Wege kannten, ihre Rechnung mit dem Tod verspätet zu begleichen.
Alles an ihm von seinem rabenschwarzen Haar, den fast unnatürlich attraktiven Gesichtszügen bis zu den goldenen Augen unter immer schweren Lidern schien diese Kräfte zu verströmen. Nun fixierte dieser ungerührte, dadurch jedoch nicht weniger bohrende Blick die Tenvals, als könne er in jedem ihrer Gesichtszüge, jeder Bewegung, jedem Wimpernschlag lesen wie in einem offenen Buch.
Selbst die bis eben noch mit irgendeinem Hochadeligen parlierenden ältesten Kinder des Zaren, vergaßen ihr angeregtes Gespräch und taten es den anderen gleich.
Khomiakov, dem die Szene mit Sicherheit nicht entging, bangte ihm doch schon seit dem Morgen davor, fiel wahrscheinlich irgendwo in Ohnmacht.
Alles wartete, wie in einer sich plötzlich um sie geschlossenen Glaskugel, neugierig auf die Reaktion des Imperator, während dahinter das Fest weiterlief. Doch die fröhlichen Stimmen schienen mit einem Mal ein bisschen weiter entfernt.
Wie die Ruhe selbst führte Blancandrin sein Glas an die Lippen, entschied sich aber ob seiner bebenden Hand anders und stellte es, kurz nachdem es sie berührt hatte, wieder ab. Seine Miene schien sich plötzlich zu lichten und er brach in ein herzhaftes, aber zurückhaltendes Gelächter aus.
Kopfschüttelnd wandte er sich an den Zaren. „Wirklich ein Prachtkerl, mein Sohn, aber er hat einen eigenartigen Sinn für Humor. Habt damit ein Nachsehen."
„So ist das mit der Jugend", meinte Gerasim lediglich milde lächelnd und Amias fragte sich, an welches seiner Kinder er dabei dachte. Welcher ist der missratene Chervenkov? Sveta Zinaïda, die lebende Heilige, wohl kaum. Aber vielleicht waren Makel wie er der Zarenfamilie auch fremd.
Blancandrins schauspielerisches Talent genügte, um alle anderen zu täuschen, Amias jedoch nicht. Seine Blicke verhießen, dass das Verhalten des Prinzen noch schwere Konsequenzen nach sich ziehen würde. Aber was bedeutete das schon? Diesen köstlichen Moment Rache war es wert gewesen, versicherte er sich selbst. Und doch zog sich sein Herz unter diesem Ausdruck in den hellen Augen seines Vaters schmerzhaftzusammen.
Aus irgendeiner Richtung vernahm Amias ungewöhnlich hektische Schritte, die er nicht recht zuordnen konnte, bis ein hochgewachsener Mann an den Zaren herantrat, sich zu ihm hinabbeugte und ihm kaum hörbar, aber eindeutig eindringlich etwas zuflüsterte.
„Eure Majestät ... ein unglücklicher Vorfall ... der Ved'mak ... Unruhe ... Sie vermuten Prizrak ..."
Mehr als diese Bruchstücke vermochte der Prinz nicht auszumachen, doch es war nur ein einziges Wort, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Prizrak, der Geist. Amias hatte davon schon gehört. Eine Legende, behauptete man, weiter nichts, von einem mysteriösen Retter, der sich Faie annahm und noch von der Richtbank befreite. Ja, eine Legende, ebenso wie diese Aufrührer, die Iskra, deren halb zerrissenes Plakat mit dem stilisierten Funken heute der Wind vor ihre Kutsche getragen hatte.
„Danke, Zatsepin, ich werde..."
„Das Ozvienskij Theater, sagt Ihr? Dann seid Ihr bestimmt ein Freund der Kunst?", ging die geflüsterte Antwort des Zaren in der weichen Stimme der ältesten Zarewna unter. Widerwillig wandte sich Amias ihr zu, doch der Mann entfernte sich ohnehin bereits wieder still und eilig von ihnen und damit seine Chance auf mehr Information.
Zinaïda Chervenkova besaß eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihrer Mutter und stand ihr damit in Schönheit in nichts nach. Doch während Setenays blaue Augen immer wie in weite, jedem anderen unsichtbare Fernen gerichtet schienen und ein Schleier zarter Traurigkeit sie umhüllte, gründete die ihrer Tochter nicht in Melancholie, sondern lebenssprühender Freude. So nahe am selben Tisch sitzend hoben einander diese polaren Gegensätze umso deutlicher hervor.
Das Volk verehrte sie schon jetzt wie eine Heilige, noch bevor sie überhaupt den Thron bestiegen hatte, geschweige denn durch ihren Tod verklärt werden konnte. Eine Heilige und ein Dämon am selben Tisch, wie amüsant.
Lakaien füllten ihre Gläser. Mit Armen, die sich plötzlich zu leicht und zu schwer zur selben Zeit anfühlten, griff Amias unbeholfen danach.
„Ähm ... natürlich. Aber ich ziehe die Wortkunst der musikalischen vor", antwortete er gezwungen höflich und sehnte sich das Ende dieses Empfangs vorbei. Er hatte seinen Spaß gehabt und nun gab es absolut nichts mehr, das ihn noch bei diesen Leuten mit ihren gezwungenen Unterhaltungen hielt.
Zinaïda ließ sich allerdings nicht von seinem kühlen Ton abschütteln und noch weniger davon, dass das Souper beendet wurde und man sich in einem anderen Saal sammelte. Mit steifen Beinen erhob sich Amias von seinem Platz. Wenn er gedacht hatte, damit dem weiteren Gespräch zu entkommen, hatte Amias sich getäuscht. Und selbst wenn, folgte ihm nun auch schon wieder Khomiakov wie ein Schatten, ein überaus lästiger.
„Ein Literaturliebhaber? Dann habt Ihr bestimmt bereits von der neusten Veröffentlichung von Leokadija Tolstoja gehört."
„Anzhej Kalinin, nicht?"
„Genau."
„Nein. Ich meine, ich habe nicht davon gehört. Nicht nur. Ich habe es auch gelesen. Es ... Es ist ein Meisterwerk unserer Zeit. Ich bevorzuge allerdings Yevgenija Pichugina."
Seine Stimme gehorchte ihm nicht mehr, sträubte sich, als spräche er zum ersten Mal und müsste jeden einzelnen Gedankenmühevoll in einen annähernd sinnvollen Satz pressen – und selbst dieser quälte sich geradezu über seine Lippen.
Was tat er denn da bloß? Amias kannte die Antwort auf diese Frage, nämlich das, was er meistens tat, wenn er aus seiner vertrauten Welt gerissen wurde: Er verwandelte sich in eine tollpatschige Kreatur. Ein Pelikan, den man in einen Käfig steckte. Ein zuckender Fisch ohne Wasser. Es war nur einer der vielen Gründe, warum er sich lieber in Stapeln von Büchern verkroch.
Amias schluckte das Gefühl der Beschämung hinunter.
Zinaïda Chervenkova schenkte dem keine Beachtung. Ihr strahlendes Lächeln spiegelte sich in ihren Augen wider. Sie schien ehrliche Freude an ihrer Unterhaltung zu finden.
„Also bevorzugt Ihr Verse? Nun, Finience hat selbst wundervolle Schriftsteller. Ich lese gerade Dahlen ..."
Als ihr Gespräch abrupt mit allen anderen Stimmen erstarb, hatte Amias gerade begonnen Gefallen daran zu finden. Außer mit Pinabel sprach er nie über Bücher, sprach er nie über irgendetwas. Selbst, wenn ihm, warum auch immer, danach gewesen wäre, es hätte doch niemand zugehört.
Offensichtlich musste Amias etwas Entscheidendes verpasst haben, denn die gesamte Aufmerksamkeit der Anwesenden richtete sich auf einen jungen, hochrangigen Kavalleristen, der nun sein Glas zum Toast in den Schein der Lüster hielt, in dem auch seine grünen Augen leuchteten.
„... auf die Bruderschaft unserer Länder. Lang lebe der Frieden! Lang lebe der Zar!"
Die Gläser wurden gehoben, geleert und zersplitterten zu Füßen in tausende Scherben, auf dass sie zu keinem geringeren Hoch mehr gehoben werden könnten. Das sich darin brechende Licht ließ die Splitter wie Kristalle erstrahlen. Seltsam, wie Zerstörung etwas schöner machen konnte.
Der Fremde bewegte sich mit einer irritierenden Leichtigkeit durch die Menge, als befände er sich nicht an Hof, sondern unter den engsten Freunden: Er sammelte mit ungezwungener Plauderei ein beachtliches Grüppchen begeisterter Zuhörer um sich, rauchte, als könne niemand daran Anstoß finden und unterbrach sich darin gerade noch, um die Zarin mit einem nonchalanten Handkuss zu begrüßen. Der Rauch verließ seine Lippen nur Sekunden, bevor er sie berührte. Niemand schien Anstoß daran zu finden, ganz im Gegenteil.
„Wer ist das?", raunte Amias Khomiakov zu.
„Graf Valentin Rodionovich Lisitsyn, Eure Majestät. Ein altes, traditions- und prestigeträchtiges Geschlecht, noch aus Zeiten Ivan I. Seine Schwester und er sind die Kinder des großen Rodion Lisitsyn und zukünftigen Erben des umfassenden Vermögens. Auch wenn man munkelt, dass die alte Gräfin ohnehin nur auf dem Papier darüber verfügt. Eine seltsame Person. Sie lebt recht zurückgezogen und bescheiden. Man sagt–"
Amias winkte ab. Ihn interessierte der Klatsch über irgendwelche Adeligen nicht.
„Und dieser Lisitsyn?"
„Eine herausragende Persönlichkeit, ist das. Hat sich in einigen Kriegen in der ganzen Welt verdient gemacht, heißt es. Aber nun soll er sich aus dem aktiven Dienst völlig zurückziehen. Ich habe gehört, er wird als Diplomat nach Finience geschickt."
Das wiederum ließ Amias aufhorchen. Seine Blicke folgten dem jungen Grafen durch den Raum und für einen Moment glaubte er, dieser blinzelte wie verschwörerisch zu ihm zurück. Irritiert runzelte der Prinz die Stirn, doch da hatte sich auch schon eine junge Frau in der Uniform der Kresniknina vor Lisitsyn geschoben. Diesmal, da war sich Amias sicher, täuschte er sich nicht, als er meinte in ihren grauen Augen Blitze funkeln zu sehen, die ganz alleine ihm galten.
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𝐀 𝐍 𝐌 𝐄 𝐑 𝐊 𝐔 𝐍 𝐆 𝐄 𝐍
Und da haben wir endlich die letzte im Bunde der Charaktere, die im Einführungskapitel schon erwähnt wurden: Zina. Einen kräftigen Applaus bitte. Was haltet ihr bis jetzt von ihr? Und natürlich von allen anderen hier erstmals vorgestellten Herrschaften? ;)
Und noch viel wichtiger: Von Amias? Ich weiß nicht recht, ob ich seine Darstellung hier mag. Dafür, dass die Beschreibung "wütender Bücherwurm mit Sozialphobie" neben ihm auch erschreckend gut auf mein 14-jähriges Ich passt, ist es überraschend schwierig das zu Papier zu bringen.
Generell hält sich meine Zufriedenheit mit dem Kapitel noch in Grenzen. Ich habe irgendwie die Sorge, dass es langweilig geworden ist (sagt die, die vor kurzem noch Mikhail ein halbes Kapitel über Weltpolitik und Postenschacher hat philosophieren lassen).
Ich fürchte, diese Author's Note wird ein bisschen ein Infodump dazu wie ich das World Building hier gestaltet habe, aber sei's drum, ich hoffe, es wird spannend.
First things first: Ja, die velischen Werke, die ich genannt habe, sind ganz unkreative Anspielungen auf Tolstojs "Anna Karenina" und "Jevgenij (oder Eugen, wie manchmal übersetzt) Onegin" von Puschkin. Aber andererseits sind so einige Dinge in dieser Geschichte unkreative Anspielungen.
2. Hier kam auch mal etwas mehr Info zu velischer Kleidung, worunter man sich nach den Beschreibungen hier hoffentlich halbwegs was vorstellen kann, dass dann im Kopf der Leser hoffentlich auch ästhetisch aussieht.
Für alle, die an dieser Stelle aussteigen: Man liest sich (hoffentlich) im nächsten Kapitel!
(Warnung! Es folgt ein "kleiner" Worldbuilding-Exkurs)
Es hört sich total banal an, aber tatsächlich war die Frage nach velischer Mode (und überhaupt der Optik des Reichs), keine, die ganz einfach zu klären war, weil all das im 19. Jahrhundert stak „westlich" beeinflusst war, wie es in meiner Geschichte, wo es keine so universalen Einflüsse gibt, eben nicht ist. Letztendlich hab ich mich für abgewandelte und „weiterentwickelte" Kleidung des alten russischen Adels, der Szlachta und slawischen Volkstrachten entschieden, die auch Aspekte uns bekannter Mode aus dem 19.Jahrhundert beinhaltet wie das Korsett. Weil das die Formen vieler dieser Kleider komplimentiert, ergab das für mich Sinn.
Man darf sich das ganze also nicht 1:1 wie die russische Hoftracht des 19. Jahrhunderts vorstellen, aber einige Elemente sind auch darin enthalten, wie die Ärmel.
Natürlich ist „slawische Volkstracht" ein absolut vager Begriff, weil es so viele, ganz ganz unterschiedliche lokale Variationen gibt. Auch das wollte ich schon für Velija anklingen lassen, weil das bei der Größe des Reichs nur Sinn machen würde. Demnach gibt es auch bei der Bekleidung des Adels eine gewisse Varietät an Formen und Stilen, um je nachdem den Bezug zu einer gewissen velischen Region zu zeigen oder, oft viel simpler, einfach aktuellen rein ästhetisch motivierten Modetrends zu folgen.
Ich wollte also möglichst das Spannungsfeld zwischen Traditionsbewusstsein/Lokalität und einer gewissen Entfremdung davon(durch Reichtum, gewisse internationale Einflüsse, etc.) illustrieren, dadurch, dass zwar volkstümelnde Kleidung getragen wird, aber doch gewisse kulturelle Grundgedanken hinter Elementen verloren gehen und dem Wunsch der Obrigkeit weichen, einfach fancy auszusehen. Ich hoffe, damit ist mir der Spagat zwischen Realität und Fantasy halbwegs gelungen.
Für alle, die bis hierher gelesen haben: Danke! Ich weiß, ich mach Mikhail langsam alle Ehre, also lass ichs jetzt echt gut sein. Das nächste Kapitel sollte wieder schneller kommen, wo man sich (hoffentlich immer noch) wieder in den Kommentaren trifft ;)
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