𝟓.𝟏 | 𝐖𝐞𝐧𝐧 𝐊𝐞𝐭𝐭𝐞𝐧 𝐟𝐚𝐥𝐥𝐞𝐧


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»Ich denke nicht, dass ich grausam bin, Magier vernichten zu wollen. Ist es grausam die Ratten zu ertränken, die sich an deinen Vorräten bereichern und selbst dein Fleisch von kranken Knochen nagen würden, sobald du dich nicht mehr wehren kannst? Vor der Wilden Jagd von 345 trennte eine klare Linie Kresnik von Ved'mak, die durch dieses Ereignis für immer ausgelöscht wurde. Sie erinnert bis heute daran, dass der Feind in Form eines Freundes auftreten kann. Mit diesem Verrat begründeten sie selbst ihren vollkommenen Ausschluss aus dem Menschengeschlecht, wenn wir ihnen denn jemals vertrauen konnten. Wenn die Reihe an dir ist, sei kein Narr, Kind. Zeig kein Herz den Herzlosen, keine Gnade den Ungnädigen. Den Schlächtern gib die Schlacht.«

– Brief der Zaritsa Ivana „der Grausamen"
an Großfürst Aleksandr I
476 n. G. V.


DIE LETZTE klare Erinnerung an ein richtiges Leben in Freiheit war ihr Ausblick von den Schultern ihres Vaters hinab auf eine tausendköpfige Menge in einer Stadt, deren Namen sie nicht mehr kannte, die die Parade der Armee begrüßte. Mit leuchtenden Augen beobachtete sie die Soldaten, die mit ernsten Gesichtern in die Straße einbogen, als kümmerten sie die jubelnden Massen nicht weiter.

Nie hatte Zarja schönere Kleidung gesehen als die Uniformen in velischem Rot mit ihrem verzierten Dolman und dem um die Schulter geschwungenen Mentik. Über ihren Tschakos wehte die Flagge Velijas zur Melodie ihrer Hymne. Der goldene Wolf darauf schien Zarja direkt anzusehen.

„Papa! Papa! Ich will auch Soldat werden!"
Ihre Augen leuchteten beinahe so sehr wie die Orden und Pallaschs in der frostigen Herbstsonne.
„Wie viele Frauen siehst du dort?", fragte ihr Vater zur Antwort.
Zarja konzentrierte sich, blickte jedem Soldaten aufmerksam ins Gesicht, bis sich kleine Falten auf ihrer Stirn bildeten. Schließlich ließ sie die Luft aus ihren aufgeblähten Backen entweichen, beinahe ein Seufzen der Enttäuschung.
„Keine."

„Ganz genau, keine einzige. Und warum ist das so?"
Zarja sah fragend zu ihrem Vater hinab.
„Weil es nicht erlaubt ist. Frauen können tun was immer sie wollen...bloß nicht kämpfen. Nicht mehr", erklärte er sanft.
Zarja zischte. „Das ist eine blöde Regel. Ich will kämpfen! Wenn nicht dann...dann...will ich keine Frau mehr sein!"

Er lachte und Zarja spürte die Hitze in ihre Wangen steigen.
„Ich meine es ernst", bekräftigte sie und wäre sie nicht in dieser Position über dem Boden gewesen, hätte sie vermutlich mit dem Fuß gestampft, um ihre Worte zu bekräftigten.
„Das ist kein guter Grund zu verändern, wer du bist, Zaritsa. Wieso dich verändern, wenn du die Welt verändern kannst? Das hat Sveta Iskra gesagt."

Mit ein wenig Misstrauen musterte Zarja ihn, unsicher, ob er nur scherzte. „Und du glaubst, ich kann das?"
„Ich glaube, du bist zu jung für so etwas. Aber wenn du etwas wirklich willst, solltest du gegen alle Widerstände dafür kämpfen."
Dann werde ich Soldatin und Mamochka und Papa und alle anderen in der Stadt beschützen, hatte sie naiv gedacht, ohne sich zu fragen, wer sie denn beschützen sollte.

Das lag nun fast genau fünfzehn Jahre zurück. Damals war sie erst vier. Nur wenige Monate später hatte sie erfahren, wie viel Blut durch die Adern eines zarten Körpers floss und dass auch ein menschliches Herz verstummen konnte. Und kurz darauf hatte ihr Vater sie mit dem falschen Versprechen zurückzukommen, vor dem Lagerhaus zurückgelassen. Von allen seinen Lektionen war ihr das vielleicht die wertvollste gewesen.

Zumindest dachte sie jeden Tag daran. Vertraue niemandem. Seit sie wusste, was sie war, noch nicht einmal sich selbst.

In kürzester Zeit war Zarjas Euphorie über ihre Freiheit von der harschen Realität erschlagen worden. So ungern sie es zugab, Jaromir hatte völlig recht. Ohne ihn fehlte ihr jeder Schutz vor einer Entdeckung ihrer Kräfte oder einem Racheakt eines seiner Feinde. Vermutlich würde sich in kürzester Zeit eine Menge finden, die sie lynchen wollte. 

Vielleicht konnte sie sich davor noch mit ihren Kräften bewahren. Aber wenn es darum ging, ein Dach über dem Kopf zu finden oder Essen oder Geld, kam sie damit bald an ihre Grenzen, wenn sie nicht endgültig als Ved'ma enttarnt und hingerichtet enden wollte. So lieb war Zarja ihr Kopf dann doch, dass sie ihn noch ein Weilchen behalten wollte. Doch weiter für Jaromir zu arbeiten war keine Option. Es wäre nur eine weitere, diesmal freiwillig eingegangene Gefangenschaft gewesen.

Nun irrte sie also ziellos durch Altingrad, mit Sicherheitsabstand zum Industrieviertel, wo sich die Nachricht ihres durchaus dramatischen Abgangs wohl schon zu verbreiten begann, während langsam Dunkelheit über die Stadt hereinzubrechen begann.
Was jetzt?
Erstens, Schlafplatz und Essen finden.
Zweitens, Untertauchen, eine neue Identität.
Drittens, Geld verdienen.

Für zweites hatte sie dank ihrer Nähe zur altingrader Unterwelt schon jemanden im Sinn, der ihr dabei helfen konnte. Letzteres hatte etwas Zeit. Blieb also die Frage nach Unterkunft und Essen.

Das Knurren ihres Magens erinnerte sie allzu deutlich daran, dass sie nach wie vor nichts Anständiges gegessen hatte und zunehmend hier draußen zu frieren begann. Sie fühlte nach dem Geld in ihren Taschen, ohne es hervorzuziehen, wohlwissend, dass es für alles in dieser Gegend zu wenig war. Jedenfalls, wenn sie damit noch ein Weilchen auszukommen gedachte.

Energisch beförderte sie einen Kieselstein aus dem Weg und stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen einen Fluch aus. Zarja wusste genau, was das bedeutete: Sie musste zurück. Auf die andere Uferseite, wo sich genug billige Gasthäuser aneinanderreihten, in denen sie satt werden und schlafen konnte – oder von einer wütenden Meute aufgespießt.
Die Freiheit beginnt schon richtig Spaß zu machen.

Die Magierin ergab sich ihrem Schicksal, welches auch immer sie dort erwarten würde, und huschte flüchtig wie ein Schatten selbst über eine der Brücken und ins Rattenviertel, das sie mit seinem üblichen Charme aus Vernachlässigung, Schmutz und Gestank begrüßte. Ab hier hatte sich selbst die nördlich so klare Altinitsa in eine finstere Brühe verwandelt, deren Geruch ihr in der Nase stach. Sich eng zwischen zwei schiefe Häuser quetschend erkannte sie bald das Drei Eichen, in dessen Nähe von einer einzigen solchen, und sei es auch nur ein mickriges Bäumchen, jede Spur fehlte, in all seiner nicht-vorhandenen Pracht. 

Liebevoll geführt war das Gasthaus dennoch das Beste, was die Gegend zu bieten hatte. Zumindest bekam man genießbares Essen vorgesetzt und ein Bett, und musste nicht damit rechnen, nachts in seinem Zimmer erdrosselt oder ausgeraubt zu werden – oder beides.

Zarja warf einen kritischen Blick auf einen Betrunkenen, der hoffentlich schlafend an das Gebäude gelehnt saß. Ein Kind huschte aus den Schatten auf ihn zu und leerte mit geschickten Fingern seine Taschen, obwohl es dort zweifellos nicht viel zu finden gab.

„Hey, lass das! Mach das du davonkommst!", verscheuchte es ein Mann mit drohenden Gebärden, der sobald diese Wirkung gezeigt hatten, sich seinerseits über den Sitzenden beugte und gleich seinen ganzen Mantel nahm. Als wäre es das gewöhnlichste der Welt warf er ihn über seine eigene, löchrige Jacke und ging mit einem strengen Blick Richtung Zarja, deren wachsame Betrachtung seiner Meinung nach die Normalität seines Verhaltens unrechtmäßig in Frage zu stellen schien, weiter.

Nun, es war nicht perfekt hier, aber allemal besser als an den meisten Orten in diesem Viertel.
Mit festem Schritt betrat Zarja das Gasthaus, das in schummriges Licht getaucht war, das vom an die Decke steigenden Rauch noch weiter erstickt wurde. Es war bereits gut besucht; an den meisten Tischen sammelten sich schon kleine Grüppchen, die aßen, tranken und spielten.

„Was soll das heißen, ich hab' verloren?", rief einer aus und ließ seine Handflächen auf die Tischplatte donnern, so dass die Flüssigkeit in den Gläsern einer stürmischen See gleich hochschwappte. „Das kann nicht sein!"
„Was, Ivan? Willst du sagen, ich hätte die Karten verzaubert?" Ein anderer lachte. „Du hast heute Pech, mehr nicht."
Der Streit verflüchtigte sich und ging in den theatralisch geseufzten Strophen einer Guslaritsa unter, die mit dem Stoff der alten Barden unterhalten wollte.

„Einmal Kasha und Kvas und ein Zimmer für heute Nacht." Zarja ließ ein paar Münzen auf die Theke fallen.
Mit einem undefinierbaren, aber zustimmenden Grummeln hieß der Wirt sie, irgendwo Platz zu nehmen, was sie zum Anlass nahm, sich sofort zu dem Tisch in der hintersten Ecke des Raums zurückzuziehen. Doch so weit kam sie nicht.

„Na, wen haben wir denn da?", gurrte eine raue Stimme hinter ihr in Begleitung dreier Herzschläge, die ganz dicht an ihrem Rücken trommelten.
Verflucht!
Schluckend wandte sich Zarja um.
„Jaromirs Schatten."

Die drei Männer waren alle nicht viel älter als dreißig und ihr Aussehen zeichnete sie als langjährige Bewohner des Elendsviertels aus; ihr Körperbau verriet regelmäßige schwere Arbeit. Zarja erkannte keinen von ihnen, auch wenn ihr Rädelsführer mit der in die Stirn gezogenen Schiebermütze und der Zigarette zwischen den verfärbten Lippen, sie an irgendjemanden erinnerte.

„Hast du's denn noch nicht gehört, Ivan? Unser kleiner Schatten ist jetzt alleine", meinte er, seinen Mund zu einem höhnischen Grinsen verziehend. „Hat man sowas schon gesehen? Ein Schatten ohne Herrn."

Zarja verschränkte die Arme vor der Brust und musterte den Mann ungerührt, nicht gewillt sich länger mit ihm auseinanderzusetzen als nötig. Auch wenn ihr genug davon auf der Zunge gebrannt hätten, war sie klug genug, ihm keine bissige Antwort zurückzuschleudern. Ein Streit würde diese Begegnung nur unnötig in die Länge ziehen und damit ihren leeren Magen von ihrem Kasha fernhalten.

„Ganz sicher nicht, Yasen!", fühlte sich sein Kumpan Ivan bemüßigt zu bestätigen, als das Schweigen nicht enden wollte, was von Yasen jedoch nur mit einem kurzen, nicht unbedingt billigenden Blick quittiert wurde. Statt ihn weiter zu beachten, wandte er sich wieder an Zarja.
„Wie geht's unserem Freund Jaromir eigentlich? Läuft das Geschäft?"

„Müsst ihr ihn selbst fragen." Sie wollte sich endlich an ihren Tisch setzten, doch Yasen stellte sich ihr mit einem Blick, der ihr einen kühlen Schauer über den Rücken jagte, in den Weg.
„Aber meinem Vater hast du für diesen Hundesohn Geld abgeknöpft, nicht?"

Vater? Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Der Anführer der kleinen Bande war Ihor Melnik wie aus dem Gesicht geschnitten; mit noch nicht vom Alter und Resignation verwaschenen Zügen zwar, doch die Ähnlichkeit war bis hin zu den grauen Iriden unverkennbar.

„Und meinem kleinen Bruder hast du gedroht."
Mit gefährlich funkelnden Augen trat Yasen noch näher an sie heran und Zarja schlug sein alkoholgeschwängerter Atem entgegen. Selbst, wenn sie in diesem Moment nicht die Kälte einer Klinge an ihrer Kehle gespürt hätte, wäre sie vor dem Geruch instinktiv zurückgewichen. Doch sie stieß sofort gegen Ivans Torso, dessen Pranken sich wie zuschnappende Handschellen um ihre Arme schlossen und sie damit an Ort und Stelle festhielten.
Verdammt, sie steckte in der Klemme!

„Ich möchte wetten, das Feuer in unserer alten Bäckerei hast auch du mit deiner Hexerei gelegt." Um seine Worte zu unterstreichen spuckte er ihr die noch brennende Zigarette vor die Füße, als hoffe er damit den Grundstein für ihren Scheiterhaufen zu legen. „Oder kannst du dich an das alles nicht mehr erinnern, tenochka?"

Bei allem, was sie sich zu Schulden kommen hatte lassen – lassen müssen, eine Wahl blieb ihr schließlich nicht – für den Brand war Zarja wirklich nicht verantwortlich; erst recht nicht mit ihrer Magie, der jedes Feuer ungerührt standhielt, geschweige denn, dass sie selbst eines zu erzeugen vermochte. Was nicht bedeutete, dass es kein anderer von Jaromirs Handlangern gewesen sein könnte. Es wäre bei Weitem nicht das Schlimmste, das der Fabrikant seinen Leuten befohlen hätte.

„Ich weiß davon nichts", presste sie wahrheitsgemäß zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und versuchte sich der bedrohlichen Gegenwart des Messers entziehen, was Yasen jedoch lediglich anstachelte, es fester gegen die dünne Haut ihres Halses zu drücken. Sein rasender Puls verriet ihr, dass nichts, was sie sagte, ihn von seinen Plänen abhalten konnte, und die sahen mit Sicherheit nichts Gutes für sie vor.
Aus einem winzigen Schnitt löste sich ein Tropfen Blut und bahnte sich seinen Weg ihre Kehle hinab.

Zarjas Blicke zuckten von der schmutzigen Klinge zu den anderen Gästen, die allesamt sehr konzentriert darauf schienen, nicht in ihre Richtung zu sehen. Keiner wollte sich in eine mögliche Messerstecherei einmischen. Nicht für eine Fremde und erst recht nicht für Jaromirs Schatten. Im Gegenteil, jene, die sie kannten, befürworteten Yasen Melniks Verhalten im Stillen.
Mit ihren Kräften hätte sie sich der drei Männer mit Leichtigkeit entledigen können. Doch vor aller Augen? Zu riskant.

„Und? Was wollt ihr jetzt tun? Mich lynchen?", fragte Zarja beinahe spöttisch, in der Hoffnung, dass sie sich mit ein paar albernen Drohgebärden zufriedengeben und wieder verschwinden würden, weil die Angst vor den grausamen Gerüchten letztlich doch über ihre Rachegelüste siegen würde. Doch sie glaubte selbst nicht daran.

Lynchen? Nettes Wort. Nein, wir schneiden dir den Kopf ab und schlagen ihn an die Pfeiler von Genadievs Haus, damit jeder sieht, wie wir hier mit Ved'my umgehen. Besonders, wenn sie für dieses Arschloch arbeiten."
Die Bewegung Yasens Lippen, während die Klinge drohend langsam ihren Hals hinab glitt und mit jeder Berührung Gänsehaut hinterließ, konnte man nicht mehr als Grinsen bezeichnen, vielmehr verzogen sie sich zu einem wölfischen Zähneblecken, als gedachte er sich wirklich einer Bestie gleich auf sie zu stürzen.

„Aber doch hoffentlich nicht mit diesem mickrigen Messer? Damit sägt ihr ewig an mir rum", erwiderte Zarja bemüht nüchtern, während ihr das Herz bis zum Hals schlug, wo eben jenes Messer ruhte, das definitiv nicht zu mickrig war, um sie damit zumindest ins Vyraj zu befördern.
Diese Kaltschnäuzigkeit im Angesicht seiner unbestreitbaren Übermacht stieß Yasen nur einen Augenblick vor den Kopf. Doch das war Zarja genug.

Mit aller Kraft schwang sie ihre Beine hoch und rammte ihre Stiefel in Melniks Torso, Ivan, der sie nach wie vor festhielt, dabei ihr unfreiwilliger Komplize, weil sein Griff ihr Halt gab. Yasen krachte gegen einen der Tische hinter ihm. Irgendjemand schrie überrascht auf und die meisten Gäste hatten es sofort eilig das Gasthaus zu verlassen. Die Musik verstummte.

Ja. Nichts wie weg hier! Hektisch versuchte sich Zarja endgültig aus dem gelockerten Griff zu winden. Nicht schnell genug. Etwas Kaltes glitt über ihre Wange, dem sofort ein Brennen folgte. Warmes Blut floss ihr über Lippen und Kinn und tropfte auf die unebenen Holzdielen unter ihr.
Gerade als sie sich in Freiheit wähnte, schnappten die menschlichen Fesseln wieder um ihre Arme zu. Schmerzhafter als zuvor.

„Hiergeblieben, Schlangengeburt." Ivans widerlich heißer Atem streifte ihren Nacken.
„Hab mich immer gefragt, wie Hexenblut aussieht", spottete Yasen, der sich offensichtlich wieder aufgerichtet hatte. Alleine seine leicht gebückte Haltung verriet die Schmerzen in seinem Brustkorb.

In ihrem eigenen kochte Zorn. Der Geschmack von Blut sammelte sich in Zarjas Mund. Metallisch. Intensiv. Stechend. Als trüge sie die Klinge, die ihr diesen Schnitt zugefügt hatte, selbst auf der Zunge. Sie spuckte es Yasen vor die Füße.
„Wonach sieht's denn aus?"
„Freches Miststück", zischte er und holte mit dem Messer zu einem Stoß aus, der ihr ein Ende setzten sollte.

Nur Sekunden bevor es sich in ihren Körper bohren konnte, warf Zarja sich mit ihrem gesamten Gewicht zur Seite. Überrascht ließ Ivan sich mitziehen. Entgegen ihren Vorsätzen streckten sich ihre Kräfte nach Yasen oder vielmehr dem Blut, das durch seine Hand floss. Als wolle sie seinen Fingern damit aus der Ferne einen Stoß versetzen, zuckten ihre eigenen – und Zarja hoffte, dass etwas geschehen würde. 

Blut so zu kontrollieren war eine andere Sache als ein winziger Impuls. Komplizierter. Erforderte mehr Konzentration. Gezielten Einsatz ihrer Energie. Bisher hatte sie das nie an einem Menschen angewandt, sah man von jenem Wintertag am Teich ab, an dem sie Grigorijs Herz beinahe für immer zum Stillstehen gebracht hätte. Sie konnte bloß hoffen, dass ihr erster Versuch erfolgreich sin würde. Denn im Gegensatz zu ihren kleinen tierischen Testobjekten im Keller des Lagerhauses und finsteren Gassen waren jene wesentlich komplexer konstruiert und besaßen einen stärkeren Willen.
Zarja wappnete sich gegen den Schmerz.

Doch Yasens Hand zuckte kurz und wich von ihrem vorherigen Kurs ab. Das Messer verfehlte sie. Seinen Freund Ivan dagegen nicht. Er stieß einen Schrei, gefolgt von Flüchen aus – und ließ Zarja endlich frei. Seine Hand presste er stattdessen auf seinen Oberarm, wo sich der Stoff seiner Kleidung rot zu verfärben begann.

All das konnte nicht länger als ein paar Sekunden dauern. Zarja wirbelte herum, zielte mit einem Tritt gegen Yasens Hand, die das blutige Messer festhielt. Im schummrigen Licht kurz aufblitzend segelte es quer durch den Raum. Zuerst hörte Zarja den scheppernden Aufprall der Klinge, dann den einer Faust in ihrem Gesicht. 

Stechender Schmerz schoss durch ihre Wange und vernebelte ihr für einen Moment die Sicht. Etwas traf sie hart in den Oberkörper. Mit einem Keuchen wich die Luft aus ihren Lungen und beinahe wäre ihr Zarjas Mageninhalt gefolgt. Sie biss die Zähne zusammen und schluckte den Schmerz zusammen mit frischem Blut hinunter, doch ihre Lippen zitterten.
Durch Yasens Züge huschte Genugtuung sich für ihren vorherigen Tritt gebührend gerächt zu haben. Hätte er jetzt zugeschlagen ...
Doch er tat es nicht.

Er genoss die Wirkung seines Treffers einen verhängnisvollen Moment zu lange.
Zarja zögerte nicht. Ihre Handkante raste gegen Yasens Hals, durch den sein Puls hämmerte. Sie legte alle Kraft hinein, die sie aufbringen konnte. Fleisch knickte unter ihr wie ein zusammenstürzendes Kartenhaus weg. Ihre Faust zuckte nach vorne. Ein widerliches Krachen ertönte in ihren Ohren. 

Mit einem letzten Tritt beförderte Zarja Yasen seiner Waffe folgen lassend durch den Raum. Donnernd landete er in einem Tisch und einigen Stühlen, die längst verwaist waren, und sackte unter dem Scheppern von Geschirr zu Boden.

„Was stehst du da noch rum? Schnapp sie dir, verdammt, Janko!", brüllte Ivan seinem Freund zu, der von der Attacke überrumpelt mit großen Augen auf die Szenerie starrte. Allerdings ließ er nicht von seiner Wunde ab, um selbst einzuschreiten, also beachtete Zarja ihn nicht weiter.
Stattdessen wandte sie sich sofort an diesen Dritten, der sich immer noch mehr verwirrt als wütend auf sie stürzen wollte. Das stand seiner Geschwindigkeit jedoch nicht im Weg. Seine Hand glitt dabei in seine Tasche – ohne Zweifel auf der Suche nach einer Waffe.

Aus den Augenwinkeln erkannte Zarja etwas Glänzendes auf der Tischplatte neben sich.
Ein Messer!
Ohne einen weiteren Gedanken daran und damit auch Zeit zu verschwenden, griff sie danach und schleuderte es nach vorne. Hoffentlich hatte sie nicht gerade ein Buttermesser erwischt ...

Allerdings waren ihr die Rozhanitsy hold: der längst geflüchtete Gast hatte sich für Fleisch entschieden. Die Klinge bohrte sich in Jankos Bein, das unter ihm nachgab. Seine Lippen formten einen halb erstickten Schmerzenslaut, während er fiel.

Das muss reichen. Im Gegensatz zu den drei Männern hatte Zarja nämlich nicht vor heute einen Mord zu begehen. Mit einem letzten prüfenden Blick, der ihr versicherte, das alle mehr oder minder außer Gefecht waren – obwohl das Wimmern und Stöhnen für sich sprach –, griff sie ihre Tasche und eilte auf den Ausgang zu.

Um Yasen, der ihr den Weg versperrte, hatte sich eine rötliche Lache gebildet, die seine Kleider tränkte. Zarjas Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Sie hatte doch nicht ...

Neben ihm entdeckte sie eine zerbrochene Flasche billigen Wein, die er mit sich gerissen haben musste, und atmete erleichtert aus.
Du darfst deinen überaus netten Bruder noch behalten, Dima, schoss es ihr durch den Kopf.

Hatten diese drei Idioten wirklich gedacht, sie würden irgendetwas mit ihrem Tod bewirken? Dass sie dann Helden wären? Oder auch nur, dass sie sich dadurch von den verfluchten Ketten, die sie alle an ihren zugedachten Plätzen hielten, befreien könnten? Sie wäre bloß ein bedeutungsloser Sündenbock, der ihnen für einen Moment die Befriedigung gegeben hätte, Macht zu besitzen – und morgen buckelten und krochen sie wieder vor Jaromir, dem Zar des altingrader Rattenviertels, in der Hoffnung, dass er sie und ihre Familien nicht ins Verderben stürzte.

„Was, bei Veles, geht hier verdammt nochmal vor?", donnerte der Wirt, der mit ihrem Kasha und Kvas aus der Küche getreten war. Die Kellnerin lugte nur vorsichtig über die Theke hervor, ehe sie wieder blitzschnell in ihrer Deckung verschwand. Nur eine Sekunde später war der Zorn des Mannes verraucht. Das Blut wich aus seinem Gesicht, das sich damit der Leichenblässe des versteckten Mädchens anglich.

Zarja nahm ihm das Getränk aus der Hand, bevor es ihr entgleiten konnte, und stürzte es in einem Zug hinunter.
„Sie wissen ja, Männer und ihr Kartenspiel", erwiderte sie mit einer wegwerfenden Geste auf die Frage, die der Wirt längst vergessen hatte, „immer müssen sie's übertreiben. Lassen Sie lieber einen Arzt holen."

„Aber –"
Sie musste schrecklich aussehen. Eine gerade aus der Chernitsa gestiegene Rusalka, die nun bei ihm Kvas bestellen wollte, hätte er wohl nicht schockierter anstarren können.
„Die Rechnung für den Schaden geht auf ihn." Zarja deutete süß lächelnd auf den bewusstlosen Yasen Melnik, ehe sie leichtfüßig über seine Beine sprang, sich in der Bewegung eine Flasche Schnaps griff und aus den Drei Eichen verschwand.

Draußen begrüßte sie eine eisige Brise, die sich direkt bis in die Knochen zu fressen schien.
So viel zu Essen und einem Dach über dem Kopf.
Nach diesem Vorfall konnte sie keinen Augenblick länger hierbleiben – und auch nirgendwo sonst, wo man sie potentiell kannte, was ihre Optionen erheblich einschränkte. Wenn nicht einmal dieser Ort für sie sicher war, dann war es in ganz Altingrad vielleicht keiner.

Mit von dem Kvas nur mäßig gestillten Hunger verkroch sich Zarja in einer zugigen Hausruine, die für diese Nacht noch keinen obdachlosen Bewohner gefunden hatte, wo sie behelfsmäßig die Verletzung an ihrer Wange mit dem hochprozentigen Alkohol und einem Verband aus sauberen Strümpfen versorgte. Hoffentlich entzündete sich der Schnitt nicht. Eine weitere hübsche Narbe für ihre Sammlung würde sie aber wohl behalten dürfen.

In dieser Nacht schlief Zarja zum Heulen des Windes, der durch die Ritzen und kaputten Fenster ins Haus kroch und sie erzittern ließ, unablässigem Magenknurren und dem heißen schmerzhaften Pochen ihrer Wunde. Ein süßes Wiegenlied der Freiheit, das ihre Angst nicht übertönen konnte.

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𝐀 𝐍 𝐌 𝐄 𝐑 𝐊 𝐔 𝐍 𝐆 𝐄 𝐍

Ja, ihr seht richtig, das auf dem Gif ist Genya. Weil wegen Redhead-Power und weil diese Szene schon unheimliche perfekt zur Kampfbeschreibung gepasst hat. Das Setting ist nur etwas zu „hübsch", aber hey zumindest auf dem Gif darf Zarja also super gestylt sein.

Das Kapitel ist mal wieder etwas länger geworden, aber dafür hab ich versucht möglichst viel von Zarjas Vergangenheit bis mal wieder etwas Action unterzubringen. Sogar ein paar mehr Infos zu Zarjas Magie, die bisher nie reingepasst haben, und von denen bald mehr kommen sollte. Hoffentlich ergab das alles auch halbwegs Sinn.

Kleine Info: Ich hab „Rozhanitsi" zu „Rozhanitsy" geändert, um in der Transkription korrekter und konsistenter zu sein. Zugegeben nervt mich diese ganze Transkriptionsfrage immer ein bisschen und ich wünschte, ich könnte einfach č, ž, đ etc. verwenden, um mir einen Teil davon zu erleichtern ... Aber ich gehe mal davon aus, damit würde ich Leser eher vergraulen, oder? Was meint ihr? ^^"

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