𝟐.𝟏 | 𝐉𝐚𝐫𝐨𝐦𝐢𝐫𝐬 𝐒𝐜𝐡𝐚𝐭𝐭𝐞𝐧
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»Die längste Zeit der Geschichte teilte sich das Land des Kontinents Agvila in seine vielen kleinen Herrschaftsgebiete. Erst unter der Hand Ivan des Großen entstand das glorreiche Reich Velija. Er einte die Völker und erschuf eine Kultur, die in Sprache und Sitte allen jenen zuvor überlegen war. Zu seiner Residenz wählte er eine kleine Stadt aus Holz und Stein, die er als eine aus Gold zurückließ. Heute nennen wir sie Altingrad - das glänzende Herz unseres Landes.
Seit Ivan dem Großen feiern wir mit dem ersten Tag des neuen Jahres auch die Erstehung des Kaiserreichs, die ewige Einheit.«
aus »Chronik des Veliskaja Imperija«
Bogumir Semjonovich Andonov
456 nach der Gründung Velijas
Altingrad, 9 Jahre später
ALTINGRAD UND Shirokov hätten bei Tag unterschiedlicher nicht sein können. Doch wie sagte man so schön? Nachts sind alle Katzen schwarz. Und so hätte man sich zu dieser Stunde bei der Durchquerung der schmutzigen Gassen genauso im Rattenviertel Shirokovs wähnen können. Letztendlich, befand Zarja, obwohl sie bloß diese zwei Städte kannte, dass diese Gegenden sich in jedem Ort glichen. Rußverschmutzte Häuserwände, von denen der Verputz bröckelte, wohin man sah. Männer, die ihre Sorgen im Alkohol ertränkten und sich damit eine weitere schufen, torkelten noch spät nachts nach Hause, falls sie denn so etwas besaßen. In dunklen Ecken lauerten Räuber oder Obdachlose hatten dort ihr Lager gemeinsam mit den Ratten aufgeschlagen. Und überall in den Gassen fand man Schmutz und Müll, den man lieber keiner genaueren Betrachtung unterzog.
Der Gestank von Hoffnungslosigkeit und Armut haftete allem an, hatte sich bis in den letzten Stein des unförmigen Pflasters gefressen und selbst die Herzen derer, die das Viertel bewohnten, nicht verschont. Er zeigte die Hässlichkeit des Leids, das bei den Adligen, die ihres hinter affektiertem Pathos verbargen, kein Mitleid, sondern lediglich Abscheu erwecken konnte. In ihrer Welt der Schönheit war Reales fremd oder kam sogar einer Beleidigung gleich.
Im Dunkeln aus der Ferne hätte man Zarja hier für fehl am Platz gehalten: Ein gut gekleideter Gentleman des Bürgertums. Aber bei genauerer Betrachtung wäre dem geschulten Auge aufgefallen, dass Hose, Weste und Mantel längst aus der Mode gekommen waren und begannen fadenscheinig zu werden – und dass es sich um eine Frau handelte. Also kein feiner Herr, der sich dummerweise in diese Gegend verirrt hatte oder hier nicht ganz so feinen Geschäften nachging.
Was dieser Aufzug eigentlich sollte, verstand Zarja selbst nicht ganz, wusste doch jeder, der es musste, wer sie war: Jaromirs Schatten. Was übersetzt bedeutete, sein unfreiwilliges Mädchen für alles. Vielleicht meinte er, Männerkleidung ließe sie bedrohlicher erscheinen.
Zarja beschleunigte ihren Schritt und wich geschickt einer Lache undefinierbarer Flüssigkeit aus, die sie lieber nicht an ihren Stiefeln wissen wollte. Angewidert rümpfte sie die Nase, als ihr ein widerlicher Geruchentgegenwehte. Hier war es noch grauenhafter als im angrenzenden Industrieviertel, das sie ihr Zuhause nennen durfte – und das bedeutete so einiges. Eigentlich hätten sie sonst keine zehn Pferde dazu bewegen können, einen Fuß in diesen Bereich Altingrads zu setzen, in dem man für weniger als einen Malo getötet werden konnte, lief man dem Falschen über den Weg.
Nur waren es keine Pferde, gegen die sie hätte ankämpfen müssen, sondern Jaromir. Keine besonders kluge Idee und schon gar nicht, wenn man bedachte, dass ihr Leben ihm gehörte. Das hatte das Sklavendasein nun einmal so an sich, der eigene Wille zählte nicht.
Ihr Weg endete vor einem der schäbigen Häuser, das sich von den anderen in keiner Weise unterschied: dieselben verwitternden Wände, dieselben notdürftig geflickten Fenster, die nur einen schmalen Lichtschein auf das Pflaster fallenließen. Bloß, dass diese Familie hier heute Besuch erwartete.
Zarja atmete einmal tief durch, dann erhob sie ihre Faust und klopfte drei Malkräftig gegen die Holztür, die dem überraschend ungerührt entgegenstand, obwohl man hätte meinen können, der leistete Windstoß könne sie aus den Angeln reißen.
Drinnen verstummte Geplauder. Stille.
„Wer ist das? Sag bloß, du hast dir wieder Ärger beim Spielen eingehandelt", flüsterte eine Frau.
„Ich hab' nicht gespielt. Das ist Jaromir." Diesmal eine männliche Stimme.
„Mach schon auf, Ihor. Oder willst du ihn verärgern?" War das Zorn? Angst? Resignation?
„Ihn" – natürlich. Wen interessierte denn schon sie?
Zaghaft wurde die Tür geöffnet und ein kleiner Mann lugte auf die Straße, der halb kahle Kopf lediglich von ein paar weißen Haarsträhnen bedeckt, die Konturen seines Gesichts dafür von einem dichten Stoppelbart verwaschen. Seine kleinen grauen Augen musterten sie von oben bis unten und flackernden erkennend auf, während sein Herz einen spürbaren Satz machte. Er wusste, was das bedeutete.
Doch statt das Wort zu erheben oder auch nur irgendwie zu reagieren, starrte er sie für ein paar weitere Wimpernschläge stumm an.
„Was, Ihor? Willst du eine alte Freundin nicht reinbitten?", fragte Zarja mit gekünsteltem Lächeln.
„Nein, will ich nicht", sagte sein donnernder Puls, während seine Lippen ein „Natürlich, kommen Sie" hervorpressten.
„Wie freundlich." Sie drängte sich an dem Mann vorbei, inspizierte mit wachsamem Blick die Stube, in der sich zwei Augenpaare auf sie richteten, und ließ sich schließlich, als bemerke sie all das gar nicht, auf einen der Stühle fallen. Ohne ein Angebot abzuwarten, so als stünde ihr das zu. Mit einem leisen Krachen landeten ihre Stiefel auf dem Tisch.
Hinter ihr konnte sie Ihor den Protest, der ihm auf der Zunge lag, gerade noch im letzten Moment herunterschlucken hören. Selbst seine Frau, der dieser Ort bereits mit Anfang dreißig einen Teil ihrer früheren Schönheit und Lebensfreudegeraubt haben musste, runzelte unwillig die Stirn, während der kleine Junge, der vor dem mickrigen Kaminfeuer spielte, bloß verwirrt darüber schien, dass seine Eltern das einem Fremden erlaubten, aber nicht ihm.
Als Zarja eine ihrer Hände ein wenig hob, glaubte sie, das Ehepaar instinktiveinen Schritt zurückweichen zu sehen und während sie sich ihre Handschuhe, einen nach dem anderen, von den schmalen Fingern zog, und sie auf die unebene Tischplatte warf, beobachteten sie jede ihrer Bewegungen. Eine ihrer Augenbrauen schoss verächtlich in die Höhe. Was erzählte Jaromir bloß über sie? Dass sie mit einem Fingerschnippen jedermann töten konnte?
„Kommen wir gleich zum Geschäftlichen."
„Wir machen keine Geschäfte mit Jaromir." Ihor schloss die Tür und trat wieder in ihr Sichtfeld.
Ein leises Seufzen verließ ihre Lippen. Wie oft hatte sie das schon erklären müssen?
„Nur entscheidet das nicht ihr, sondern er. Eure neue Bäckerei liegt in seinem Teil der Stadt, wie ihr wissen dürftet, und was immer dort geschieht, geht Jaromir etwas an." Kurz musterte sie die Tischfläche, die allerdings wenig Interessantes zu bieten hatte, außer einem Teller Pljushki, der in solchen Wänden einembesonderen Festmahl gleichkam. Zarja angelte sich geschickt ein Stück desgezuckerten Gebäcks.
„Er will fünfzig Kruna", erklärte sie zwischen zwei genüsslichen Bissen. „Pro Monat."
„Fünfzig..."
„Kruna?", beendete seine Frau für Ihor schockiert den Satz.
„Das ist mehr als wir verdienen!"
Und das wusste Jaromir. Natürlich tat er das. Niemand konnte so etwas besser wissen, als jemand, der hier selbst seine Geschäfte betrieb. Würden sie mehr als das im Monat verdienen, müsste die Familie schließlich weder in so einer Straße, noch in dieser Bruchbude hausen.
Zarja schob sich das letzte Stück Pljushka in den Mund und zuckte mit den Schultern. „Tja, schade. Dann werde ich das Jaromir so weiterleiten müssen."
So schnell wie sie es sich am Esstisch bequem gemacht hatte, richtete sie sich nun auch wieder auf, zog sich ihre Handschuhe an und wandte sich zum Gehen. „Wenn ihr einen Rat wollt, seid in Zukunft wachsam. In so einer Bäckerei kann ziemlich schnell ein Feuer ausbrechen."
Obwohl man hätte glauben können, dass während sie ihren Zopf über die Schultern warf, nicht bemerkte, was hinter ihr geschah, nahm sie doch alles genau wahr. Ihors Herz pochte laut und deutlich – wütend. Doch er würde sie nicht angreifen. Seine Frau war schlicht schockiert.
Zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß der Bäcker einen Fluch aus.
„Er kann zehn haben", knurrte er schließlich.
Zarjas Hand ruhte bereits auf dem von Rost befallenen Türgriff, als sie seine Stimme vernahm. Nur für den Bruchteil einer Sekunde zuckte ihr Mundwinkel nach oben, ehe sie sich mit unschuldiger Miene wieder zu den anderen umwandte.
„Bitte?"
„Zehn Kruna", wiederholte Ihor und funkelte sie aus seinen dunkelgrauen Augen an. „Mehr können wir Jaromir nicht geben."
Für einen Augenblick schien Zarja abzuwägen. „Fünfzehn."
Die Falten in seinem farblosen Gesicht vertieften sich, sein Mund formte sich zu einer schmalen harten Linie. Doch ehe er widersprechen konnte, hüpfte der Junge, der eben noch still für sich am Feuer gespielt hatte, auf sie zu. Wie alt konnte er sein? Sechs? Noch zu jung, um zu verstehen, was hier vorging, selbst für jemanden wie ihm, dem Armut, Hunger und Sorgen in die Wiege gelegt wurden. Er würde noch früh genug lernen, was es bedeutete am unteren Ende der Gesellschaft zu leben.
„Bist du Soldat?", fragte er mit großen Augen.
„Nein. Frauen dürfen nicht in die Armee."
„Aber du trägst ihre Farben." Mit einem seiner dürren, kleinen Finger zeigte er auf den dunkelgrünen Mantel mit dem roten Kragen, der vor mehreren Jahrzehnten vielleicht wirklich der Uniform der Armee entsprochen hätte. „Wenn ich groß bin, will ich Soldat werden und für Velija kämpfen. Schau mal, mein Papa hat mir sogar das hier geschnitzt."
Der Junge hielt ihr stolz einen hölzernen Offizier auf einem Pferd unter die Nase. Sie hatte keine Ahnung, wie sie darauf reagieren oder antworten sollte.
Lern lieber erst für dich zu kämpfen, schoss es ihr durch den Kopf.
„Dima", zischte seine Mutter mahnend, doch ihr Herzschlag entlarvte die Angst, die hinter ihren Worten steckte.
Langsam beugte sich Zarja zu dem Kind hinab – und die Frau hielt hörbar den Atem an.
„Sehr hübsch, kleiner Soldat." Sie lächelte Dima zu, doch ihr Blick schossdirekt über seinen blonden Haarschopf hinweg zu seinen Eltern.
„Wäre doch traurig, wenn er stattdessen ins Lagerhaus müsste, weil ihr eure Bäckerei verliert. Nicht wahr, Ihor?"
Ein solches Schicksal wäre bei einem Kind aus dieser Gegend ohnehin nicht unwahrscheinlich. Wer ein Leben an der Grenze zu Tod durch Hunger, Kälte oder Krankheit führte, war bereits an einem Arm in die Ketten der Sklaverei gelegt. Man tat gut daran, sich dessen immer zu erinnern.
Durch Ihors Gesicht huschte eine Flut an Emotionen von purem Hass über Angst bis hin zu Resignation, die für Zarja nicht fassbar war, doch ihre Bedeutung sehr wohl – sie hatte gewonnen.
„Einverstanden. Fünfzehn Kruna", stieß er schließlich seufzend aus.
„Aber –", setzte seine Frau an, doch Ihor brachte sie mit einer kleinen Handbewegung zum Schweigen.
„Es hat keinen Zweck, Aleksandra. Wann hat Jaromir schon einmal nicht bekommen, was er wollte?"
Zarja lächelte. „Die Firma dankt. Er wird erfreut sein, dass wir so ins Geschäft kommen. Eure Pljushki sind übrigens ausgezeichnet. Die verkauft ihr doch hoffentlich?"
In der Tür wandte sie sich um und hob zwei Finger zum Gruß. „Noch einen angenehmen Abend."
Noch während sie vollständig hinaus in die eisige Abendluft trat. hörte sie die unterdrückten Flüche, die Jaromir eine Shtriga an den Hals wünschten, unterbrochen von einem „verfluchte Ved'ma".
Zarjas Blicke zuckten noch ein weiteres Mal über ihre Schulter zurück. „Ach, und Dima, pass gut auf deinen Soldaten auf."
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𝐀 𝐍 𝐌 𝐄 𝐑 𝐊 𝐔 𝐍 𝐆 𝐄 𝐍
*schüchtern um die Ecke guck* Uuund? Was meint ihr?
Ich weiß, ich weiß, das kam jetzt sicher etwas überraschend, aber keine Angst, alles wird noch näher erklärt. Und schon wieder ein Zeitsprung und diesmal ein für Zarjas Charakter sogar ziemlich entscheidender. Ich hoffe, das ist nicht zu störend, und keine Angst - in dieser timeline bleiben wir jetzt.
Wie ich fürchte, ist Wattpad zu der überaus netten Praxis Leerzeichen zwischen Wörtern zu löschen, zurückgekehrt. Ich hab versucht, das überall zu beheben, ist doch etwas zusammengeschrieben, das auseinander gehört, tut es mir leid.
Außerdem hab ich nun endlich das Glossar veröffentlicht, wo ihr das ein oder andere nachschlagen könnt. Es sollte aber alles früher oder später aus der Geschichte hervorgehen.
Und ja, ich weiß, irgendwie beinhaltet dieser Kapitelname schon wieder Schatten - hoppla ^^"
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