𝟏.𝟐 | 𝐒𝐜𝐡𝐚𝐭𝐭𝐞𝐧 𝐝𝐞𝐫 𝐕𝐞𝐫𝐠𝐚𝐧𝐠𝐞𝐧𝐡𝐞𝐢𝐭
„Hier versteckt sich die kleine Ved'ma also." Die Stimme schnitt durch die kalte Luft wie eine Klinge, das Wort durch ihr Herz. Ved'ma – es bedeutete das Widerlichste in dieser Welt. Dunkle Magierin. Eine Beleidigung, die jede übertraf, die Zarja kannte.
Überrascht blinzelte sie zu den Wurzeln des Baums hinab, verlor kurzzeitig das Gleichgewicht und konnte sich gerade im letzten Moment noch an einem der Äste festhalten. Die raue Rinde zerkratzte ihr die Handfläche. Ein Schauer durchfuhr Zarjas schmächtigen Körper, eisiger als der unbarmherzige Wind, der über das Land hinwegfegte. Sie schluckte und sah auf den Jungen hinab, der sie aus dunklen Augen anfunkelte.
Grigori hatte sie seit seinem ersten Tag hier nicht leiden können. Schließlich waren es Kresniki gewesen, die seine Eltern ermordeten und ihn in weiterer Folge zu einem Leben im Lagerhaus verfluchten. Angeblich verdankte er ihnen auch die Narbe, die sich quer durch sein Gesicht zog wie eine rote Schlange. Ihr Ruf verdammte Zarja augenblicklich dazu, seine Feindin zu sein.
Mittlerweile zählten seine Hänseleien zu ihrem Alltag.
Doch heute war etwas anders.
Normalerweise hätte er ihr bereits allerlei Beleidigungen entgegengeschleudert, aber nun blieb er merkwürdig still. In seinem Blick lag kein Spott, keine Genugtuung, keine Schadenfreude. Sondern blanker Hass. Er bohrte sich in ihren Körper und ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.
Sie konnte sein Herz in schnellem, kräftigem Takt in seiner Brust schlagen hören, trommelnd wie Soldatenstiefel auf frostigem Boden. Bedrohlich. Sein Blut pulsierte durch seinen Körper als wäre er ein wütendes Wildtier, das sie im nächsten Augenblick zerfleischen wollte.
Zarja schluckte schwer.
„Ich verstecke mich nicht", gab sie so gleichgültig wie möglich zurück.
Doch jetzt hätte sie es gerne getan. Alles in ihr wollte hier oben, in den scheinbar sicheren Ästen bleiben und warten, bis er wieder verschwand, aber das war undenkbar. Sie konnte sich nicht feige verkriechen. Mühsam unterdrückte sie das Zittern ihrer Beine, während sie vom Baum kletterte, vor ihm im Schnee landete und ein genervtes „Lass mich in Ruhe, Grisha" zischte.
Keine Schwäche zeigen!
Noch während sie sich an Grigori vorbeischlängeln wollte, packte der Junge sie grob am Arm, riss sie herum und drückte sie in den Schnee. Feuchtigkeit und Kälte sickerten in Sekunden durch Zarjas schäbigen Mantel.
Erschrocken schnappte sie nach Luft.
Ihr Körper bemühte sich instinktiv, den Älteren abzuschütteln, doch er war auch deutlich größer und stärker als sie.
„Lass den Unsi –", wollte sie scharf ansetzen, aber ihre Stimme war nur ein dünnes Hauchen.
„Denkst du, ich weiß es nicht?", knurrte er. „Denkst du, ich weiß nicht, dass du es warst?"
„Wovon sprichst du?"
Das verunsicherte Kichern, das in ihr hochstieg, blieb ihr in der Kehle stecken.
„Stell dich nicht dumm. Kolja ist tot."
Kolja...tot? Seine Worte trafen sie wie ein betäubender Schlag. Noch bevor sie aber ganz in ihren Verstand hätten sickern und ihr Tränen in die Augen treiben können, hörte sie unter sich das Brechen von Eis. Erst leise, dann ein deutlicher Krach, als sich der Druck Grigorijs auf ihre Schultern verstärkte. Ihr Kopf berührte Wasser und sie schnappte schockiert nach Luft.
Der Teich!, durchfuhr es sie zusammen mit der lähmenden Kälte. Sie mussten auf der Schicht Schnee gelandet sein, die ihn im Winter oft unsichtbar und damit umso gefährlicher werden ließ. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand sich dadurch eine ernste Erkältung holte – oder den Tod unter dem Eis.
In Sekundenschnelle sog sich ihr Haar mit kaltem Wasser voll und schien ihren Kopf weiter nach unten zu ziehen.
Sie mussten hier weg!
Zarjas Lippen öffneten sich zu einem tonlosen „Halt", das diese allerdings nie verließ. Grigori machte keinerlei Anstalten sich von der Stelle zu rühren. In seinem Blick loderte eine Verachtung, die sich in ihren Körper brannte. Aus den Augenwinkeln meinte sie, die regungslosen Silhouetten der anderen auszumachen.
In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass Grigorij nicht vorhatte zurückzuweichen. Er würde ihr nicht helfen. Niemand würde das.
Das war ihr Plan.
Eine neue Art von Rache.
„Früher hat man Hexen noch verbrannt – oder sie ertränkt", zischte er. Es war das letzte, das sie wahrnahm, bevor sich tausende schmerzhafte Stiche in ihr Gesicht bohrten, als ihr Kopf unter die Wasseroberfläche gedrückt wurde. Die Kälte verschlug Zarja den Atem, legte sich drückend um ihre Brust wie schwere Ketten. Schock fuhr durch ihre Glieder und ließ sie unter dem eisernen Griff erstarren. Jeglicher klare Gedanke wurde weggespült von einer Welle aus Schmerz.
Nein!
Ihr war keine Zeit geblieben, Luft zu holen. Nach wenigen Augenblicken kämpfte sich der unwiderstehliche Drang zu atmen durch den dunklen Schleier, der sich über die Welt gelegt hatte.
Leben kehrte in ihre tauben Arme und Beine zurück. Ziellos schlug sie um sich. Ihr Knie schien etwas zu treffen, doch das Gewicht auf ihr lockerte sich nicht.
Lass mich los! Du hattest deine Rache ... Bitte...
Keine Reaktion.
Zarja biss die Zähne zusammen.
Wenn ich jetzt atme, bin ich tot, ermahnte sie sich, als könne sie ihre eigenen Instinkte damit irgendwie beherrschen, dem wilden Überlebensdrang entkommen.
Die Panik versagte ihr jeden weiteren Gedanken.
Verzweifelt wand sich ihr Körper unter dem Gewicht, das sie dem Tod immer weiter in die Arme drängte. Ihre Finger tasteten nach Grigori oder einer Waffe, griffen mehrmals ins Leere, bevor sie Stoff zu fassen bekamen. Ruckartig zog sie daran. Was auch immer sich darunter befand – sein Arm, Hals oder Torso – rührte sich nicht, als kämpfe sie gegen eine marmorne Statue an.
Von irgendwo, wie weit entfernt drangen dumpfe Stimmen an ihr Ohr. Die Bedeutung ihrer Worte verschluckte das gluckernde Wasser. Waren das zustimmende Rufe?
Das war das Ende. Wenn er sie nicht losließ, würde sie hier sterben. In einem mickrigen Teich im Garten von Sveti Medard, einem heruntergekommenen Kinderheim, in dem niemand um sie trauern würde, außer vielleicht Jelisaveta ...
Jelisaveta!
Hätte sie nur einen Millimeter Platz erkämpfen können, eine Sekunde lang die Wasseroberfläche durchbrechen, hätte sie nach ihr gerufen. Jetzt blieb ihr bloß zu hoffen, dass die Köchin spüren würde, dass sie ihre Hilfe brauchte, vielleicht auch nur zufällig das Haus verließ.
Zarjas Körper schrie nach Luft. Mit einer Gewalt, der sie sich nicht mehr widersetzen konnte. Ihre Lippen öffneten sich. Panisch rang sie nach Atem – und ihre Lungen füllte eisiges Feuer.
Wieder und wieder. Versuchten Wasser mit Wasser zu verdrängen.
Ihr Körper hatte einen Kampf ums Überleben begonnen, bei dem er sich dem Tod immer näher trieb.
Nein ... nein ...
Ihr Widerstand erschlaffte.
Mit einem Schlag stand die Welt still. Das Gurgeln des Wassers war verstummt, die dumpfen Stimmen verschwunden, ihre Gedanken leer. Um sie herum existierte gar nichts. Bloß Leichtigkeit.
Und dann ... ein stetiges Pochen. Kräftig, regelmäßig, schnell.
Grigorijs Herzschlag.
Irgendwo in ihrem Bewusstsein regte sich der grausame Verdacht, dass auch das hier der Plan war. Kein dummer Streich, nach dem sie sich vor Marija Alexeijevna verantworten musste und den sie mit einer Woche Husten bezahlen würde. Es war ihnen diesmal bitterer ernst. Kolja war tot – und sie beschuldigten sie. Aber Grigori würde doch nicht wirklich ...
Doch würde er. Er hatte es selbst gesagt. Früher hat man Hexen noch ertränkt. Genau das war es, was er wollte. Sie sollte mit dem Leben für etwas büßen, das sie nie getan hatte. Es waren weniger klare Gedanken, als eine schlagartige Realisation, während Zarja bereits die Sinne schwanden.
Doch damit schufen sie Platz für etwas anderes, das sich in ihrem Inneren zu regen begann wie eine kleine züngelnde Flamme. Der Herzschlag hallte in ihr wider, schien geradezu zu einem Teil ihrer selbst zu werden, obwohl sie wusste, dass es nicht ihr eigener war. Dennoch wie zum Greifen nah...
Und sie griff zu.
Das kräftige Pochen verlangsamte sich, machte einen ungewöhnlichen Sprung und Pausen wie in einem grotesken Tanz.
Schwärze schob sich vor ihre Sicht.
Das Gewicht, das sie nach unten zog, verschwand.
Aus dem regelmäßigen Herzschlag war ein träges Klopfen geworden, wie die letzten vereinzelten Regentropfen eines vorübergezogenen Schauers, die man nachts manchmal auf das Dach des Lagerhauses niederfallen hörte.
Steh.
Stille.
Plötzlich berührten Zarjas Finger Schnee. Ihre Lungen füllten sich mit Luft, die das Wasser gewaltsam verdrängen wollte. Röchelnd würgte sie es auf den Boden. Irgendwo ertönte ein Schrei.
Verschwommen richtete sich ihr Blick auf Grigori, der sich wenige Schritte entfernt, wie von Krämpfen geschüttelt im Schnee wand.
Was ...? Das war ich.
Erschrocken stieß sie den Gedanken von sich, als hätte sie sich daran verbrannt.
Nein, das war unmöglich. Was sie vorher gefühlt hatte, konnte nicht mehr als ein wirrer Traum gewesen sein.
Um sich bemerkte sie die aufgeregten Gestalten der anderen, die Grigorij auf die Beine halfen. Dima kam vorsichtig auf sie zu, seine großen blauen Augen schreckensgeweitet.
„Einen Schritt näher", röchelte sie, „und ich bringe euch alle um."
„Los, verschwinden wir."
„Verfluchte Ved'ma", keuchte Grigorij, während sie ihn nach drinnen hievten.
Erst als wieder Stille im Garten eingekehrt war, ließ Zarja sich erschöpft in den Schnee sinken und schluchzte heiße Tränen in die weiße Decke. Sie weinte um sich und Kolja, der jetzt dort sein musste, wohin die Vögel im Winter zogen. Zitternd betrachtete sie die kleinen Wolken, die mit jedem Atemzug aus ihren gesprungenen Lippen wichen und die Welt ein wenig verschwimmen ließen. Ihr Blick war starr auf die roten Flecken gerichtet, die ein paar Schritte entfernt im weißen Schnee leuchteten.
Sie haben recht. Ich bin das Böse.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top