𝟔.𝟒 | 𝐕𝐨𝐧 𝐊𝐫𝐢𝐞𝐠 𝐮𝐧𝐝 𝐅𝐫𝐢𝐞𝐝𝐞𝐧

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Zarja schlug das panische Trommeln von unzähligen Herzen entgegen, das für einen Moment all ihr Sinne betäubt und in ihr widerhallte als wäre es ihr eigenes. Eigentlich hatte sie geglaubt, die Zeiten längst hinter sich gelassen zu haben, in denen ihre Kräfte plötzlich ungefiltert auf sie einströmten. Damals war sie vor größeren Mengen geflüchtet und hatte sich weinend verkrochen. Zu schwer wog das Gewicht sogar mehr als nur ein Herz in sich spüren zu müssen.

Nun fühlte sich Zarja mit einem Schlag in diese Augenblicke der Überforderung zurückversetzt.
Und da war Blut – so viel Blut. Ohne, dass sie es sehen oder riechen konnte, drängte sich seine Existenz ihrem Bewusstsein auf.

Ihre Fingernägel gruben sich in das Holz der Eingangstür bis sie ihr eigenes warm darunter schießen fühlte. Es war dieser Schmerz, der sie auf den Beinen hielt, vielmehr als das schwere Tor, denn er drängte ihre Umwelt ein kleines Stückchen zurück.

Nicht jetzt. Nevena braucht dich. Ruhig atmen. Hintergrundrauschen. Sie sind nur Hintergrundrauschen. Du hast ein eigenes Herz. Nur eines.

Zarja konzentrierte sich auf ihren eigenen, holpernden Puls. Ließ sein Hämmern jegliches Geräusch übertönen. Spürte ihn bis in ihre Fingerspitzen vibrieren. Und sein steter, kräftiger Rhythmus trieb sie aus dem erstickenden Wahnsinn.

Ihr Blick klärte sich für das, was sie wahrnehmen wollte, musste: Von einer Parade, wie sie selbst einst gesehen hatte, war nichts mehr übrig außer einer hier und da durchbrochenen Schlange an Uniformierten. Krater waren in die Straße gerissen. Menschen lagen verstreut wie Spielsteine auf dem Boden. Einige davon rappelten sich wieder auf. Andere nicht. Waffen, auf die irgendetwas davon zurückzuführen hätte sein können, entdeckte sie keine.

Magie. Das war die einzige Erklärung. Aber wieso? Ein Attentat? Auf den Zaren? Oder etwa den Imperator von Asen'ja? Es hieß doch, er sei heute auch anwesend. Auf den Straßen hatte man überall von ihm und seinem Sohn gesprochen. Dass ihr Nachbar im Norden sich wenig Beliebtheit erfreute, vor allem bei Kresniki, war nichts neues. Aber deswegen einen Anschlag planen?

Egal, das ist jetzt nicht mein Problem.

Nevena war nicht hier. Dort auf den Stufen zur Militärakademie, wo sie vorhin noch gestanden hatte, war niemand. Aus dieser leicht erhöhten Position ließ Zarja die Blicke über die Menge schweifen. Für einen Moment glaubte sie, auf einem der Dächer eine Silhouette zu sehen. Aber als Zarja ein zweites Mal hinsah, war sie verschwunden. Von Nevena fehlte weiterhin jede Spur.

Selbst, wenn sie hier irgendwo war, wie hoch standen dann die Chancen, dass Zarja sie unter all den anderen entdeckte? Hunderte Menschen füllten die Straßen Altingrads heute!

„Nevena!" Der Schrei ging im Lärm unter.
Hilflosigkeit spülte über Zarja hinweg. Gegenüber diesem riesigen Chaos vor ihr war sie absolut machtlos.

Kopfschüttelnd verscheuchte sie das beklemmende Gefühl und stürzte sich, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, ins Geschehen. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit dieses Unterfangens stellte sie sich erst, als es zu spät war.

Je tiefer sie ins Gedränge kam, herumgestoßen wurde, wie ein hilfloses Blatt im Wind, desto mehr bereute sie ihre Entscheidung. Irgendwo am Rande ihrer Wahrnehmung hörte sie einen Herzschlag trommeln. Ungewöhnlich schnell, laut – und er raste direkt auf sie zu.

Zarja wirbelte herum und sah die dampfenden Nüstern eines verängstigt wiehernden Pferdes.
Erschrocken sprang sie zur Seite und stieß dabei gegen eine unnachgiebige Wand aus Leibern.
Der Hengst trabte nur Zentimeter an ihrem Körper vorbei und schlug eine Schneise in die Menge.

 Einige konnten ausweichen, die anderen stieß er zu Boden. Einen Verletzten, der nicht aufstehen konnte, traf der Huf am Kopf. Das widerliche Knacken, das es hinterließ, ging durch Mark und Bein. Zarja musste nicht hinhören, um zu wissen, dass das Herz des Mannes verstummt war.

Mit rasendem Puls starrte sie dem Pferd nach und streckte ihre Sinne nach ihm aus. Mit Tieren hatte sie mehr Übung als mit Menschen. Alles, was sie konnte, hatte sie erst an ihnen gelernt. An den Vögeln im Garten, den Mäusen und Ratten der Speisekammer, den Füchsen des Waldes und der Handvoll Ziegen, Hasen und Hühnern, die zum Lagerhaus gehört hatten. 

Ruhig, ruhig. Sie stellte sich vor, wie das Trommeln des großen Herzens einen langsameren Takt anschlug, bis sie es spürte.

Der Hengst zügelte seinen Galopp, doch – wohl seiner Größe geschuldet – wich man weiterhin vor ihm zurück und wahrte Abstand. Vielleicht würde sie mit ihm besser vorankommen? Sie musste nur verhindern, dass er scheute.

Zarja folgte ihm, die schmale Gasse, die entstanden war, nutzend, bevor sie sich endgültig wieder durch umherirrende Menschen schloss. Vorsichtig näherte sie sich dem Tier, dessen Puls sie streng unter Kontrolle hielt, und wagte es, als es nicht mehr zurückwich, sondern sie lediglich kritisch beäugte, ihre Hand auf seinen Kopf zu legen.

„Ruhig, mein Hübscher."
Das Pferd ließ es zu. Es war so ruhig, als tobe nicht direkt neben ihm der halbe Weltuntergang.
Hübsch, das war er tatsächlich. Sie verstand nichts auf Pferdezucht, aber in ihren Augen konnte ein derart elegant gebautes Tier nur wertvoll sein. Sein weiches Fell war von einem schneeweiß, nur hier und da durchzogen von einem hellen Rotbraun als wäre es aus Marmor.

Nun also zum nächsten Schritt. Zarja schwang sich auf den starken Rücken, wie sie es bei Jaromir gelernt hatte. Früher hatte er sie erst auf die Rennbahn mitgenommen, denn er hatte auch seine Finger im Buchmachergeschäft, später zu seinen eigenen Pferden.

„Jeder sollte reiten können", hatte er schlicht erklärt, was bedeutete, dass sein Schatten es erst recht beherrschen musste. Es war neben dem Umgang mit Waffen und Kampfkunst Teil ihrer allgemeinen Schulung gewesen. Ohne all das landeten Schutzgeldeintreiber Jaromirs vermutlich in der nächsten finsteren Nacht mit eingeschlagenem Schädel in der Chernitsa, um eines morgens aufgeweicht wieder rausgezogen zu werden.

Na, dann sehen wir mal, ob die Reitstunden auch was gebracht haben.
Mit einem zarten Schenkeldruck setzte sie das Tier in Bewegung. Nicht so gut wie gedacht, aber doch schlug Zarja sich ihren Weg durch die Menge, die auseinanderstob oder durch den kräftigen Körper beiseitegeschoben wurde. Trotz dem ein oder anderen, der gegen den Hengst stieß, blieb dieser ruhig unter ihr – sie hatte ihn fest im Griff.

„Nevena! Nevena!"
Schockierte Augenpaare hefteten sich auf diesen vermeintlichen jungen Mann, der sein großes, schönes Pferd mit einer irritierenden Ruhe durch den Tumult führte. Der Anblick war wohl ungewöhnlich genug, dass er selbst durch den Nebel der Angst einiger hindurchdrang.

„Bei Kresnik und den Heiligen, es ist König Marko!", stieß jemand aus.

Jelisaveta hatte ihr damals die Geschichte des Volkshelden und seines magischen Pferds Sharkolija erzählt, der sich wie viele andere in den Dienst Ivan des Großen gestellt hatte.
Noch heute erklangen die Epen zu seinen Ehren aus den Mündern diverser Guslari von den rauchverseuchten Kneipen des Rattenviertels bis hin zu Bällen der Adeligen. 

Zumindest sagte man das, denn für letzteres hatte sie nur die Bestätigung, dass jeder Besucher des Güldenen Bär, woher er auch stammen mochte, einen ergriffenen Ausdruck annahm und seine Lippen still bewegte wie im Gebet, wenn die Lieder der alten Zeit erklangen.

Im Land der grünen Hügel, der goldenen Felder,
weißer Berge, endloser Wälder,
lebte ein Mann,
ein Diener des Zaren,
Sohn der edlen Evrosija,
Blutsbruder der Vila Gjura,
mit seinem Schecken Sharkolija,
man nannte ihn Marko, erinnerte sie sich an eines davon.

Aber sie? Nein, Zarja war bloß ein Mädchen auf irgendeinem Pferd. Dazu eines, das nicht wusste, wie lange es dort noch bleiben konnte, denn das Tier ruhig zu halten kostete sie einiges an Konzentration.

„Nevena Tsirinskaja, die Besitzerin des Güldenen Bär, haben Sie sie gesehen?", fragte Zarja immer wieder wahllos in die Menge.
Keine Reaktion, außer Starren und hier und da ein verwirrtes Kopfschütteln.

Zarja durchforschte die unzähligen Gesichter unter ihr, von denen einige vage vertraut waren, aber keines ihrer Freundin gehörte. Nur an einem blieben sie einen Moment länger hängen.

Zwischen den Passanten blitzte die Uniform des Mannes auffällig hervor, der allerdings bereits Mentik, Hut und Gürtel fehlte. Getrocknetes Blut verschmierte seine Stirn. Ein deutlich anderer Anblick als bei ihrer letzten Begegnung, doch Zarja erkannte ihn sofort: Der blonde Offizier aus dem Güldenen Bär.

Sie ließ die Erinnerung, wie er sie von den besten Reihen des Publikums aus angesehen hatte bloß einen Moment über sich hinwegwaschen. Jetzt tat er es wieder. Seine Blicke ruhten unbeirrt auf ihr, jede Bewegung verfolgend. Irgendetwas daran löste ein zartes Schaudern in ihr aus.

Kurz meinte sie, er würde irgendetwas tun. Etwas rufen, zu ihr laufen, doch er verharrte lediglich an Ort und Stelle. So wie er damals im Boxkeller nichts getan hatte und die Zeit einfach anhalten ließ ...

Einen weiteren Gedanken daran erlaubte sich Zarja nicht, wandte sich ab und trieb den Schecken vorwärts. Weiter durch endlose Zerstörung, Angst und Tod, das Zentrum all dessen allerdings wohlweislich umgehend. Weiter, während ihr vor Anstrengung der Schweiß ausbrach und ihre Kleidung feucht an ihren Körper klebte. Weiter, ohne nur einen Hinweis auf Nevena.

Zarjas Finger schlossen sich so fest ums Zaumzeug, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
Ohne Nevena wäre sie wieder alleine auf dieser Welt, so vollkommen, unendlich alleine. Wie nach dem Verrat ihres Vaters, nach Koljas Tod, nach ihrer Trennung von Jelisaveta, nach Dimas ...

„Papa?! Mama?!", die panischen Kinderschreie drangen durch die erdrückende Wolke aus Stimmen, Schüssen und nicht näher zuzuordnendem Dröhnen zu ihr hindurch.

Zarjas Blick blieb an einem Jungen hängen, der hilflos durch die ungnädige Menge von Uniformierten und ein paar herumirrenden Zivilisten purzelte, die ihm keine Beachtung schenkte. 

Nur eine Frau inmitten dessen hielt plötzlich inne und hob die Arme. „Tod dem Zaren!"
Die Erde erbebte und brach. Als hätte eine gewaltige Pranke einfach ein Stück aus der Straße gerissen, schwebten Erde und Stein eine Weile in der Luft – dann formten sie sich zu tausenden kleinen Geschossen, die die Luft durschnitten.

„Ved'ma!", schrie ein Soldat.
Versteinert beobachtete Zarja über die Köpfe hinweg, wie sich die Überreste der Straße an dem Jungen vorbei und durch den Körper des Soldaten bohrten. Fleisch und Knochen leisteten keinen Widerstand.

Nie zuvor hatte sie derart mächtige Erdbeschwörung gesehen. In Jaromirs Fabriken oder den Minen Shirokovs wurde Magie bloß zur Hilfe genommen, ein paar Kohle- oder Steinstücke zu bewegen. Nichts, das mit einer derartigen Präzision und Geschick vergleichbar war.

Das Kind schrie und stolperte rückwärts. Kugelhagel setzte ein.
Zarja erkannte sein Gesicht. Dima Melnik!

Die Überraschung, die von ihr Besitz ergriff, ließ sie kurzzeitig das Pferd vergessen. Langsam wurde das Band, das ihre Kräfte schmiedeten, dünner. Vielleicht hätte Zarja die Kontrolle noch zurückgewinnen könne. Doch diese Möglichkeit verschloss sich ihr mit dem Brennen einer Stichflamme, die sich über ihr Bein zog.

Sie hatte noch nicht ganz begriffen, da brach die unterdrückte Panik des Tiers wieder hervor.
Der Rücken unter ihr bäumte sich auf und nahm ihr das Gleichgewicht. Mit einem leisen, erschrockenen Schrei krallte sich Zarja an dem Hengst fest, an allem, was sie davon zu greifen bekam.

Beruhig dich!
Es war ein Befehl an das schnell pumpende Herz unter ihr. Und sie selbst. Denn die Kontrolle entglitt wieder und wieder ihren Sinnen, die sich instinktiv darauf richteten, nicht zu fallen, obwohl der einzige Weg, das zu verhindern, war, eben nicht daran zu denken.

Komm schon!
Zarja fühlte sich nach hinten kippen. Ihre Finger suchten hilflos nach Halt, erfassten weiche Mähne – und ihre Sinne das Herz.
Ruhig!

Plötzlich wurde der Schecke unter ihr still. Seine Ohren zuckten noch beunruhigt, doch er rührte sich nicht mehr. Zarjas Blicke zuckten zu ihrem Bein: Der Stoff ihrer Hose war zerrissen, darunter zog sich eine Wunde durch ihre Haut. Schmerzhaft, aber allem Anschein nach nicht sonderlich tief.
Eine verirrte Kugel?

Die Kresnitsa hatte derweil zu einem weiteren Angriff angesetzt, dem mit wildem Feuer begegnet wurde. Mitten in diesem Kampf drückte sich Dima auf den Boden, die Hände über den Kopf gedrückt und vor Schluchzen bebend. Geschosse bohrten sich um ihn in die Straße. Eines davon verfehlte seinen kleinen Fuß nur knapp.

Niemand schien ihn zu bemerken oder sich nicht darum zu kümmern, weil man ihm das Rattenviertel mehr als deutlich ansah.

Für einen kurzen Moment, folgte die Stille einer Feuerpause. Soldaten luden hektisch ihre Waffen nach. Einen Vorteil, den die Kresnitsa auszunutzen gedachte.
Zarja gab dem Pferd die Sporen und jagte es zwischen die Fronten.

„Wag es nicht", zischte sie der Frau zu, die wohl im selben Alter sein mochte wie Jelisaveta es damals war. Graue Strähnen zogen sich durch das dunkle Braun und ein zartes Faltennetz umrahmte ihre zusammengekniffenen Augen.
Auf welcher Seite stehst du?, schienen sie still zu fragen.

Wenig elegant und unter stechenden Schmerzen verlagerte Zarja ihr Gewicht im Sattel und ließ sich Richtung Boden gleiten, wobei es sie alle Mühe kostete, nicht wie ein Sack Kartoffeln zu Boden zu fallen, bis sie Dimas Mantelkragen zu fassen bekam. In einer einzigen schnellen Bewegung warf sie ihn bäuchlings vor sich aufs Pferd.

Die Kresnitsa musste tatsächlich innegehalten haben. Andernfalls hätte sie und ihren neugewonnenen Gefährten schon längst das Schicksal jenes Soldaten ereilt: durchlöchert im Dreck.
Hätte sie jetzt in die Richtung der Armee gesehen, wäre ihr vielleicht der blonde Offizier unter ihnen aufgefallen, aber sie tat es nicht.

Ein Kugel zischte über Zarjas Kopf, dann war sie wieder aus der Schusslinie getrabt. Dima wimmerte und hinter ihr krachten neue Gewehrsalven. Ohne das Tempo zu zügeln, blickte sie über die Schultern zurück.

Eine Kugel streifte die Kresnitsa gerade an der Schulter und ließ ihre Attacke abbrechen. Nur ein paar vereinzelte ihrer Steingeschosse konnten sich noch ins Bein eines Soldaten graben, das kraftlos unter ihm wegsackte.
Zarja verzog die Lippen.

Eine andere Person hätte sich vielleicht gefragt, auf welcher Seite sie selbst denn stand, so wie es die Augen der Kresnitsa getan hatten. 

Auf der des Zaren, der ohne Zögern ihr Todesurteil unterschrieben hätte, aber immerhin nicht mehr alle ihrer Art ermorden ließ wie seine Vorgänger? Zumindest auf der seiner Männer, die nicht entschieden, aber alles ausführten? Oder auf der dieser fremden Magierin, deren Ziele sie nicht kannte; die für sie kämpfen mochte oder auch nicht, aber dabei Dima – ein Kind nicht viel anders als sie es gewesen war – fast getötet hätte? Sie hätte sich gefragt, wer richtig und wer falsch, wo böse und wo gut lag.

Zarja stellte sich diese unbequemen Fragen nicht.
Keine von ihnen passte in ihre Welt, in der keine Seiten existierten, außer die eigene, in der man für sich selbst – und nur für sich – kämpfen musste, weil es sonst niemand tat, in der die einzige Parteilichkeit an Geldwetten auf einen Boxer und damit an Gewinn geknüpft war.

Mit Mitleid, aber ohne das Gefühl, dass sie irgendetwas davon auch nur im Geringsten betraf, wandte sie sich ab und ließ das Schlachtfeld auf einer der Prachtstraßen Altingrads hinter sich zurück.



Die Waffe entglitt Mikhails Fingern. Irritiert beobachtete er, wie sein Sichtfeld ins Wanken geriet und schließlich kippte. Aus herumhetzenden Soldaten und Häusern wurde ein trüber Himmel. Was...? Mit zitternden Fingern betastete er seinen Oberkörper und spürte etwas Feuchtes, Warmes. Blut?

Mikhail versuchte sich aufzurichten, doch seine tauben Muskeln gaben unter der Belastung widerstandslos nach und er sackte sofort wieder zurück.

Gebellte Befehle drangen an sein Ohr, deren Sinn sich ihm nicht erschließen wollte. Stiefel rasten an ihm vorbei. Unter ihm bebte die Erde wie unter einer Detonation. Spitze Steinchen prasselten auf sein Gesicht nieder. 

Reflexartig zuckte sein Kopf zur Seite und drückte sich schützend gegen kühles Kopfsteinpflaster. Noch im selben Moment wurde er für die plötzliche Bewegung mit einem grausamen Brennen im Arm bestraft.

„Ved'ma!", schrie jemand.
Als er die Augen wieder öffnete, blickte er in fremde, die ihn aus nur wenigen Millimetern Entfernung bewegungslos anstarrten. Leer. Tot. Über die Wange darunter zog sich ein Blutrinnsal, das zwischen den leicht geöffneten Lippen seinen Ursprung fand. Für einen Herzschlag schienen es auch jene, denen sich das qualvolle Stöhnen und Schluchzen entrang, das sich wie verdichtender Nebel über die Straße legte.

Bin das ich? Sind es andere?

Mikhail erkannte die Uniform eines Kapitans an dem Toten – oder vielmehr das, was davon noch übriggeblieben war. Tausende kleine Geschosse hatten sie und den Körper darin durchlöchert.
Erst langsam sickerten die Informationen in sein Bewusstsein und er begriff: Er sah ins Gesicht seiner unmittelbaren Zukunft.

Dafür sollte er gelebt und so vieles überlebt haben? Um hier im Dreck mitten in Altingrad zu sterben, bei einem Anschlag irgendeiner Bande Antiroyalisten? Nicht nur ohne die Stärke seines Pferds noch unter sich gespürt zu haben, wie es für einen Kavalleristen sein sollte, sondern gar ganz ohne Schlachtfeld. Alles Kämpfen für einen derart unehrenhaften, bedeutungslosen Tod?

Ein raues Lachen stieg Mikhails Kehle hoch. Nein, wenn die Rozhanitsy dachten, ihm dieses Schicksal angedeihen zu lassen, dann würde er sich dem sicherlich nicht widerstandlos ergeben.
Seine Finger tasteten nach dem Gefallenen neben ihm, streiften eine noch warme Hand, nassen Stoff und schließlich, endlich, den vertrauten, harten Lauf einer Pistole. 

Mikhail umklammerte die Waffe, als wäre sie sein eigenes Leben, biss die Zähne zusammen und richtete sich auf. Nur ein klein wenig, so weit er konnte.
Viel Zeit blieb ihm nicht. Ein Blick auf die Magierin, die sie angegriffen hatte. Eine Krümmung des Fingers. Ein Knall.

Dann sank er, schweratmend und schweißgebadet wieder auf das schmutzige Pflaster zurück. Ein gequältes Stöhnen entkam ihm, als mit dem Aufprall Schmerz durch seinen Körper gejagt wurde. Vielleicht hatte er getroffen, vielleicht auch nicht. Die Schreie endeten allerdings nicht, was nur bedeuten konnte, dass sein kläglicher Versuch letztlich doch gescheitert war.

„Draganov!"
Plötzlich hob ihn etwas auf die Beine und setzte damit seinen gesamten Körper in Flammen. Ihm wurde schwarz vor Augen. Japsend rang Mikhail nach Atem. Die Welt um ihn wurde ausgelöscht von Qual.

Was geschah gerade? War das die Rettung oder der Tod?
Eine dumpfe Kollision mit Stein und einem anderen Körper beendete die Tortur. Panisch klammerte er sich an sein Bewusstsein, das ihm zu entgleiten drohte. Er durfte hier nicht ohnmächtig werden.

Aus einem Meer schwarzer Punkte manifestierten sich langsam das Gesicht ... Lisitsyns?
Es war dem Polkovnik so nahe, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. In den vertrauten grünen Augen glänzten Sorge und Schmerz. 

Nein, das konnte nicht sein. Er musste halluzinieren. Blinzelnd wandte er seinen Blick zur Seite, folgte dem Unterboden einer Kutsche, vorbei an den Rädern und hin zur Straße, die nur einige Meter entfernt in einer Fontäne aus Stein und Staubexplodierte und ein Dutzend Soldaten mit sich riss.

Er selbst wäre einer davon gewesen. Wäre da nicht ... 

Während die Erschütterung noch in seinem Körper vibrierte, sah Mikhail abermals zu der Gestalt über ihm hoch. Der Anblick hatte sich nicht verändert. Es war Graf Lisitsyn. Seine edle Paradeuniform schmutzig und an der Schulter zerrissen, das Haar noch unordentlicher als sonst und staubig, der Kiefer ungewöhnlich verkrampft und die Lippen fest aufeinandergepresst, aber doch ganz eindeutig und unzweifelhaft Valentin.

Der Generalleutnant musste den Angriff vorher einigermaßen unbeschadet überstanden, ihn jetzt im letzten Moment aus dem Geschehen gezerrt und mit ihm hier in Deckung geworfen haben. Wo er die ganze Zeit gewesen war, erklärte das allerdings nicht. Nur so viel war Mikhail klar: Er hatte noch nie solche Freude empfunden Lisitsyn zu sehen.

„Valentin, ich dachte Sie wären ...", seine krächzende Stimme versagte.
„... stets zu Diensten", beendete dieser mit der Andeutung eines Schmunzelns seinen Satz. „Sie dachten doch nicht, dass ich Sie sterben lasse, bevor Sie mit mir mindestens eine Runde Bylja gespielt haben?"

Ein schwaches Lächeln zupfte an Mikhails Mundwinkeln. Dieser Mann war einfach unverbesserlich.
All die Fragen, was geschehen war, wie es möglich sein konnte, dass Valentin jetzt hier war, obwohl Mikhail doch darauf hätte schwören können, ihn stürzen gesehen zu haben, und er so spurlos verschwunden war, zerfielen ihm im Mund zu einem winzigen: „Wie?"

„Ich muss doch meinem Ruf nachkommen, andere zu überraschen", wiederholte Lisitsyn seine Worte von heute Morgen und zwinkerte ihm frech zu. Etwas an der Art wie sein gesamtes Gesicht strahlte, erinnerte Draganov an den Abend im Güldenen Bär und die Euphorie des Grafen beim Spiel. Er liebte hohe Einsätze.

Doch der Ernst der Situation holte Mikhail in kürzester Zeit wieder ein. Wie sollte er ihn auch vergessen mit dem Brennen in seinem Arm und dem hartnäckigen Schwindel, der sich nicht klären wollte?

„Der Zar... Rotovnik...", brachte er noch zustande, ehe ihn ein peinvolles Husten erschütterte.
„Ruhig. Sie sind verletzt."
„Unwichtig. Er braucht..." Seine Zunge wurde mit jedem Wort schwerer, seine Gedanken so langsam, trübe und zäh wie Harz.

Zarte Falten gruben sich in Valentins Stirn. „Sch, sch. Ich bringe Sie sicher hier weg, versprochen." 

Draganov schüttelte den Kopf, der einzige Widerstand, den er zustande brachte, bevor die Schwärze ihn wieder einholte und begann die Welt mit ihrem endlosen Maul zu verschlingen. Was lauerte darin?

Unter anderen Umständen hätte er sich vielleicht noch gefragt, wie viel Blut er denn verloren hatte oder wie drastisch seine Verletzung sein konnte, aber jetzt fehlte ihm die Kraft dazu. Was zurückblieb war nur die Dringlichkeit, nicht gehen zu dürfen. Nicht, bevor er eine letzte Aufgabe erfüllt hatte, wenn er schon sein Versprechen, dass er nie hätte geben dürfen so töricht hatte brechen müssen.

„Sagen Sie Svetlina, dass es mir–", setzte er an. Die Worte entglitten ihm zusammen mit seinem Geist.

„Mikhail? Mikhail, bleiben Sie bei mir!", drang dumpf Valentins besorgte Stimme zu ihm.

Ein letztes Mal durchzuckte die Finsternis ein greller Blitz.
Dann versank Mikhail in bodenlosem Nichts.

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𝐀 𝐍 𝐌 𝐄 𝐑 𝐊 𝐔 𝐍 𝐆 𝐄 𝐍

Fieser Cliffhanger Nr. 1917, ich weiß. Man möge ihn mir verzeihen :'D

Viel interessanter ist doch (okay, für mich): Wie hat euch das Kapitel gefallen? Kann man inhaltlich mit den unterschiedlichen Perspektiven noch halbwegs folgen oder habt ihr keinen Plan was grade passiert? ^^"

An der Stelle ein wenig Eigenwerbung (die ich sicher schon mal gemacht habe): meine Fantasy-Novelle „Vom Tode unberührt“ hat ihre ersten Kapitelchen bekommen, wenn jemand reinlesen möchte ;)

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