71 - Kettenreaktion
„Hallo, Täubchen", grüßte Walsh. Er lehnte in einer geöffneten Tapetentür, die Arme vor der Brust verschränkt und grimmig wie immer.
„Sonnenschein", grüßte sie ihn fassungslos.
„Nett hast du es hier", kommentierte der Artist und ließ den Blick schweifen.
„Oh", machte er und rümpfte die Nase, „Katzen."
„Wie bist du hier reingekommen?", fragte Cress den Gelben, „Solltet ihr nicht längst wieder weg sein?"
„Theoretisch ja, praktisch kann ich tun, was ich will."
„Seit wann stehst du da schon?"
Er kniff minimal die Augen zusammen, als würde er überlegen.
„Circa zehn Minuten. Vor einer habe ich die Tür aufgemacht. Man hat euch aber auch durch die Tür wunderbar verstanden."
Sie wäre ihm an die Kehle gegangen, wenn sie nicht so froh darüber gewesen wäre, ihn zu sehen.
Er musterte sie.
„Ich muss mit dir reden. Schon seit geraumer Zeit", sagte Walsh, „Ich habe versucht dich in der Nacht der Oper zu erwischen, aber du warst nie alleine", er schüttelte enttäuscht den Kopf, „Schrecklicher Männergeschmack, meine Liebe. Bringt nur Probleme, der Kerl. Auch wenn er ein wahrer Gott ist."
Sie legte den Kopf schief, als ihr aufging, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte.
Er sah gehetzt aus, obwohl er sich gleichgültig gab. Seine Augen huschten hin und her, als würde er jeden Moment einen Angriff erwarten.
„Was ist passiert?", hakte die Diebin nach, ohne auf seine Worte einzugehen.
In den Außenbezirken lernte man, Haltungen und Augen zu lesen.
Man musste den Unterschied zwischen einem harmlosen Farblosen und einem Feind auch nach zwei Tagen ohne Schlaf, bei Nebel und Dunkelheit aus zehn Metern Entfernung ausmachen können.
Walshs Augen schrien vor Panik.
Sein goldgelber Blick war schmerzhaft eindringlich.
Der kühle, grimmige, gleichgültige Gabriel Walsh hatte Angst.
„Dein Ausflug in den Kern ist zu Ende. Dein Prinz hat Recht, du musst hier sofort raus."
Seine Lippen waren so schmal, als hätte sie jemand mit einem einzelnen Bleistiftstrich in sein Gesicht gemalt.
„Der Schatzmeister liegt im Sterben", ließ Walsh die Bombe platzen.
Cress Mund klappte auf.
„Reana van Clyve hat ihn niedergestochen, weil die Diamonds einen der Hearts ausgeraubt und ermordet haben", fuhr Walsh fort.
Misstrauen räkelte sich in Cress wie eine schwarze Katze in der Sonne.
"So dumm ist niemand in der Diebesgilde. Was willst du von mir, Walsh?"
Er ließ eine Hand an seinen Hals wandern und hob eine seiner goldenen Ketten an, sodass der Anhänger daran unter dem Stoff seines Hemds auftauchte.
Der Anblick traf Cress wie eine Sturmböe.
Es war ein einfacher Ring aus Obsidian, schmucklos, bis auf die Gravierung eines hauchfeinen Halbmondes.
Der Ring der Diebesgilde.
Wer es schaffte, ihn zu stehlen, wurde zum neuen Schatzmeister bestimmt. Niemand würde es wagen dieses kleine Schmuckstück an der Hand des momentanen Schatzmeisters auch nur schief anzusehen, wenn er keinen ausgeprägten Todeswunsch verspürte.
Wenn Walsh diesen Ring hatte, musste der alte Mann ihn ihm übergeben haben.
Ein kleines freudloses Lachen rutschte Cress heraus.
„Walsh, was ...?"
Er schüttelte den Kopf, als ob sie unfassbar dumm wäre.
Und dann trudelte das fehlende Puzzelteil an seinen Platz.
Der Karobube hatte meine Nachricht an Corinne übermittelt. Er hatte die ganze Zeit gewusst, dass ich einen Kontakt im Haus der Künste gehabt hatte. Er musste mit meiner Tante kommuniziert haben. Cress hatte eine Blutwahrheit für den Schatzmeister geschworen. Wenn sie diesen Schwur unter egal welchen Umständen nicht erfüllen würde, würde der Wahrheitsstein sie für die Lüge richten. Sie würde sterben.
Zu diesen Umständen zählte auch der Tod des Schatzmeisters.
Cress starrte den Tänzer an. Sie fluchte.
„Jemand muss es Julian sagen."
Walsh hob die Augenbrauen.
Cress schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und versuchte ihre von Whiskey langsamen Gedanken zu ordnen.
"Bring mich aus dem Kern raus, Walsh."
Trotz der Anspannung stahl sich ein feines Lächeln auf die Züge des Tänzers.
„Corinne bringt dich raus. Man kann sagen, was man will aber sie hält ihre Versprechen."
Er nahm die Kette ab und drückte Cress den Ring in die Hand, von dem sie als Novizin der Diamonds Nächte lang geträumt hatte.
„Ich bin in zehn Minuten wieder da. Dann ist alles bereit", versprach er ernst, während sich der kühle Stein in ihre Handfläche drückte.
Cress nickte. Walsh verschwand wieder und ließ sie mit klopfendem Herzen und innerlich völlig panisch zurück.
War denn alles gegen sie?
Wenn der Schatzmeister starb, bevor sie hier rauskam, würde sie tot umfallen. Wegen einem Lied, das ihre Lippen nie verlassen hatte.
Cress spritzte sich beißend kaltes Wasser ins Gesicht, um wieder ordentlich wach zu werden und schlüpfte in die grobe, dunkle Kleidung, die ihr Walsh mitgebracht hatte. Sie klaute Julians schwarze Soldatenjacke, denn in den Außenbezirken war inzwischen sicher der gnadenlose Herbst eingefallen. Es war die Jacke, in die er sie in der Nacht ihres Sprungs eingewickelt hatte, stellte sie mit gemischten Gefühlen fest. Doch jede Jacke war besser, als vor Kälte nicht mehr richtig denken zu können. Dann ging sie zu der Trainingspuppe hinüber, in die er das Schwert zurückgestoßen hatte und zog es heraus. So leicht, so klein und fragil. Und doch hatte es sie hierhergeführt. Während Cress wartete, fiel ihr etwas ein. Sie stand noch einmal auf und begann in Julians Schränken herumzusuchen. Sie würde weg sein, wenn er zurückkam, also legte sie keinen Wert darauf, unauffällig zu bleiben und alles an seinen Platz zurückzustellen.
Sie fand ‚Stolz und Vorurteil' im Badezimmer, hinter den Handtüchern, was ein wirklich mieses Versteck war, und steckte das Taschenbuch ein, bevor sie sich wieder setzte. Falls sie das hier überlebte, könnte sie immerhin die Geschichte zu Ende lesen.
Sie hatte so viele Fragen, die sie niemandem stellen konnte. In den Wochen, die sie hier verbracht hatte, musste irgendetwas in den Geisterbezirken geschehen sein. Der Karobube wurde nicht einfach niedergestochen. Er war einer der Hauptpfeiler der Unterwelt der letzten Stadt. Sein Tod würde hohe Wellen schlagen. Die Herzdame wäre nie dumm genug, ihn einfach attackieren zu lassen. Und Reana van Clyve gehörte zum innerem Zirkel der Hearts. Was war nur geschehen?
Cress fuhr herum, als jemand die Tür öffnete, ohne zu klopfen. Sie rechnete damit, dass der Kronprinz zurückgekommen war, aber es stand nicht er, sondern seine Verlobte im Türrahmen. Sie trug kein blaues Kleid mehr, sondern einen schwarzen Hosenanzug und geschlossene Schuhe. Ihr blaues, schulterlanges Haar war zurückgebunden, als wäre sie auf dem Weg zum Sport. Hinter ihr strömten fünf grüne Gardisten in die Suite.
Cress Herz machte einen Satz. Sie wusste es. Hekate hatte doch noch herausgefunden, wer sich in der Suite ihres Ehemanns verbarg.
„Ergreift sie", befahl Renée de Chirouelle-Avalinis, aber da war Cress schon durch die Tapetentür verschwunden. Sie kamen ihr nach, schwere Schritte donnerten über die Treppenstufen. Orientierungslos rannte sie durch die Dienstbotengänge. Kalter Schweiß brannte auf ihrer Haut. Cress bekam kaum Luft vor Angst. Dunkelheit und Licht huschten über sie hinweg, als die Diebin die nur spärlich ausgeleuchteten Korridore hinunter gehetzt wurde. Ein Reh, auf der Flucht vor einem Rudel Wölfe. Zehn Minuten, bevor soe den Kern verlassen hätte, hatten sie die Farblose in ihren Reihen erwischt.
Zehn Minuten.
Cress zwang sich zu atmen und zu beschleunigen, während die Soldaten aufschlossen. Sie war zwar schnell, hatte aber keine Ahnung, wo sie hinrannte. Eine Sackgasse wäre ihr Tod. Doch irgendein Stern schien ihr heute gnädig zu sein, denn plötzlich atmete sie kalte Morgenluft. Der Himmel war so wolkenverhangen, dass das Licht stumpf und trübe wurde. Wind riss das Gras unter ihren Füßen in alle Richtungen, während sie um ihr Leben rannte. Ich werde nicht entkommen. Die Gewissheit sank bis in ihr Mark, krallte sich dort unwiderruflich fest. Eine neue Welle aus Panik schlug über ihr zusammen.
Dann sah Cress sie. Eingepfercht, wie gewöhnliche Maulesel standen sie da und hoben den Kopf, als sie ankam. Sie hätte fast laut gelacht.
Cress kletterte in die Koppel und zog sich auf den Rücken eines riesigen, schwarzen Pferds, so schnell, dass es gar nicht wusste, wie ihm geschah. Als es begann zu bocken, trat sie das Gatter auf und griff in die Mähne. Als die Soldaten um die Ecke bogen, sahen sie, wie die Diebin auf dem Rücken des riesigen schwarzen Hengstes und gefolgt von den teuersten Pferden des Kernbezirks über die Wiese davonstob. Sie dankte ihrem Bruder still dafür, dass er ihr als sie noch nicht einmal schwimmen konnte, das Reiten beigebracht hatte.
Aber anscheinend hatte sie sich zu früh gefreut, denn zwei Minuten später rasten hinter ihr Motorräder durch die Nacht. Der stolze Hengst bockte, aber sie ließ sich nicht abschütteln. Schneller.
Hinter einer Baumgruppe tauchte die Stadt auf. Und mit ihr, die Klippe, auf die Cress geradewegs zu jagte. Ihre Hände verkrampften sich in der Pferdemähne.
Einatmen.
Ausatmen.
Obwohl es der Teufel selbst war, war das Tier nicht lebensmüde und schwenkte nach rechts, wieder weg von dem Abgrund. Doch sie hatten Cress bereits eingekreist. Der Gestank von Abgasen hing in der Luft. Sie zwang den Hengst, anzuhalten und sah sich inzwischen zehn Soldaten und der zukünftigen Königin der letzten Stadt gegenüber.
Renée de Chirouelle-Avalinis stieg von ihrem Motorrad. Ihre Männer folgten, Plasmawaffen im Anschlag.
„Ich denke, ich muss mich bei dir entschuldigen", sagte sie dann und zog ihre Lederhandschuhe fest, während das Pferd am Abgrund hin und her tänzelte.
Sie ließ ihren schneidenden Blick auf der Diebin ruhen.
„Du bist gar nicht so hohl, wie ich dachte. Du wolltest nicht nur mit meinem besten Freund vögeln, sondern ihn umbringen, habe ich recht?", ihre Augen blitzten, „Farblose."
Es würde nichts bringen, sich zu erklären. Sie wusste, was Cress war. Ihre Vogelfreiheit würde jedes Wort aus ihrem Mund in den Ohren der Adligen zu einem Schuldgeständnis machen.
Cress hatte verloren. Jetzt war sie wieder die halbtote Maus in den Fängen der Katze.
„Im Gegensatz zu meinem besten Freund halte ich aber nicht besonders viel von Reden."
In ihrer Stimme schwang so viel Ekel, so viel Hass mit, dass Cress sich am liebsten zusammengekauert hätte. Renée de Chirouelle-Avalinis war jemand, den man nicht zum Feind haben wollte.
„Entweder du steigst jetzt ab, ergibst dich und lässt dir Handschellen anlegen, damit dir ein Prozess wegen Hochverrats gemacht wird, was heißt, dass du auf dem Schafott stirbst", sagte sie, „Oder wir sparen uns die Formalitäten, du leistest Widerstand und wir erschießen dich hier und jetzt."
Sie ließ sich die Waffe des Soldaten neben ihr geben. „Oh, bitte, bitte, entscheide dich für Version zwei."
Stille legte sich über die Szenerie. Renée wartete mit angelegter Waffe. Dass sie in so einer Situation überhaupt an einen ordentlichen Prozess dachte, anstatt tödliches Licht durch den Schädel der Diebin zu jagen, war ein Wunder. Vermutlich bluffte sie nur. Cress lauschte den Geräuschen der Nacht, sammelte sich und hob dann so langsam wie möglich die Hand, zum Zeichen ihres Ergebens. Das Pferd bockte, selbst, als sie abstieg. Sie ließen es einfach davonrennen. Das Mistvieh warf einen Blick zu ihr zurück, als freue es sich wahnsinnig darüber, dass es im Gegensatz zu Cress nicht gleich draufgehen würde.
Langsam wich die Diebin zurück, während sie näherkamen. Renées Blick bohrte sich in ihren. Cress hatte Julians Verlobte gewaltig unterschätzt, ein Fehler, der vielen Menschen zu unterlaufen schien.
„Irgendwelche letzten Worte?", fragte die zukünftige Königin der letzten Stadt, senkte aber die Waffe, „Hochverräter bekommen die auf dem Schafott nämlich nicht."
Handschellen klimperten. Man machte sie aus demselben Material, wie Vogelkäfige.
„Wisst Ihr, welcher Fehler in den Geisterbezirken die meisten Menschen das Leben kostet, Lady de Chirouelle-Avalinis?", fragte Cress leise, während ihr das Herz bis in den Hals schlug und sie kaum Luft bekam vor Angst.
„Erleuchte mich mit deiner Weisheit, Farblose."
Ein neuer Schub Adrenalin durchflutete die Diebin.
„Ihr Gegenüber zu unterschätzen."
Cress machte einen weiteren Schritt zurück.
Und trat ins Leere.
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