64 - Glasherz
Wenn der Kronprinz gestresst war, rauchte er. Keine Pilze, die Halluzinationen hervorriefen und es einem erlaubten für ein paar Momente aus dieser Welt zu verschwinden. Nein, er rauchte Tabak. Teuren, echten Tabak, der in einem der wenigen Glashäuser des Kernbezirks gezüchtet wurde. Dabei starrte er ins Nichts, während die Rauchkringel um ihn herumtanzten. Fast, als wäre er nur eine Wachspuppe. Als würde das, was ihn lebendig machte, ihn mit jedem Atemzug mehr verlassen.
Seit einer Woche ging das nun schon so. Julian kam zur Tür herein, ließ sich auf den Ledersessel vor dem Kamin fallen, griff nach dem silbernen Zigarrenetuie und begann zu rauchen. Wortlos.
Cress hob nicht einmal den Blick, wenn er wieder einmal hereinstürmte. Er trank, er schlug sich, er rauchte und er spielte Klavier. Und er hatte klar gemacht, dass es sie nichts anging. Cress hatte viele gebrochene Männer gesehen in ihrem Leben. Zu viele, denen die Last ihrer Schuld irgendwann zu schwer wurde. Bei den Hearts nannte man sie ‚Glasherzen', diejenigen, die sich irgendwann im Glockenturm aufhängten. ‚Glasherzen', weil sie zu fragil waren, um ihrer Bestimmung zu folgen und zu Nanas Mördern zu werden. Weil sie lieber kalt und nobel im Morgenlicht hingen, als anderen das Leben zu stehlen. Julian d'Alessandrini-Casanera war ein Glasherz.
Sie wusste, dass er gemordet hatte. Schließlich hatte sie fast noch mehr Mörder als gebrochene Männer gesehen. Doch sie wusste nicht, was genau passiert war und war klug genug, nicht zu fragen. Klug genug, Abstand zu halten und ihn rauchen zu lassen. Er hatte aufgehört zu reden, aufgehört sie zu berühren und auch nur anzusehen.
Es war Abend, der Wind bauschte die Vorhänge auf und die Wettermacher hatten einen sternenklaren Himmel über die letzte Stadt gespannt. Nachtfalter verfingen sich in den hauchdünnen Vorhängen. Cress Haare waren noch vom Duschen nass. So lange hatte sie diese noch nie getragen, nicht, seit sie ihr in der Passage abrasiert worden waren. Die süße schwere des Tabaks sickerte in ihr Haar, ihre Haut und den leichten Stoff des Mantels.
Sie starrte in den Park hinaus. Seit Tagen hatte sie mit keiner Menschenseele mehr geredet. Das Schwert glitzerte sie von seinem Platz in der sacht vor und zurück schwingenden Trainingspuppe her hämisch an. In Reichweite und doch so weit weg. Denn Julian hatte recht: Sie würde es nie aus dem Kernbezirk schaffen, wenn der König nach ihr suchte. Sie wandte sich zu der Wachsfigur mit dem von den Flammen nachgezeichneten Gesicht um. Seine linke Hand war noch stärker angeschwollen als gestern. Das Tattoo verschmolz mit einem dunkelblauen Fleck.
„Du solltest Eis drauf tun", brach sie letztendlich die Stille.
Der Nachtwind fuhr in ihre nassen Haare und ließ sie frösteln.
Zuerst reagierte er gar nicht. Dann, ganz langsam, fast mechanisch drehte er den Kopf. Und hob zum ersten Mal seit Tagen den Blick. Es war, als hätte jemand das Licht in seinen Augen ausgeknipst. Auch diesen Blick kannte sie aus den Außenbezirken.
Einen Moment starrte er die Diebin nur an, dann kroch sein Blick zurück zu den flackernden Flammen. Stille. Doch sie hatte genug von der Stille.
„Sonst kannst du so schnell nicht mehr Klavierspielen, Prinz. Und dann musst du dich noch mehr prügeln. Es ist ein Teufelskreis."
„Wieso", er sprach ungewohnt leise, „Wieso tust du das?"
Cress verschränkte die Arme vor der Brust. Sie fröstelte.
„Was?"
„Reden", er drückte die halb gerauchte Zigarre auf einem Stapel Notenblätter aus, in die die Glut ein Loch brannte.
„Glaub mir, wenn ich die Wahl hätte, würde ich nicht mit dir reden. Aber wenn du so weiter machst, bringst du dich um. Und dann wird irgendein Cousin König, der wahrscheinlich gerne Kinder missbraucht und ganze Stadtbezirke niederbrennt."
„Du kennst Steward?"
„Witzig."
Julians Lächeln war diabolisch.
„Weißt du, Cress Cye, wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, du hast gerade zugegeben, dass du dir nicht mehr meinen Tod wünschst."
Sie schnaubte. „Den Teil hast du ja inzwischen selbst übernommen, oder?"
Er hielt wortlos die Zigarre wieder ins Feuer.
„Ich hole dir jetzt Eis. Und wenn ich wieder da bin, dann entscheide ich, ob ich es dir für deine Hand gebe, oder sie dir so tief wie möglich in deinen verwöhnten, aristokratischen ..."
„Tu dir keinen Zwang an."
Sie durchquerte den Raum mit ein paar Schritten. Als sie die Metallschale mit den Eiswürfeln aus der Minibar hob, knallte es. Cress fuhr herum, die warmen Hände an dem kalten Metall. Ihr Herz gefror. Sie hätte es sich aus der Brust schneiden und zu den Eiswürfeln legen sollen.
Der König der letzten Stadt stand im Türrahmen. Wie aus Eis und Albträumen geschnitten, flankiert von zwei riesigen Frostgardisten.
Julian war aufgestanden, kontrolliert, langsam.
Cress stand ungeschützt vor dem schneidenden Blick des mächtigsten Mannes der letzten Stadt da. Jeder Tropfen ihres farblosen Blutes war in ihren Adern erstarrt, als der Mann, der ihre Kindheit zwischen seinen Händen zerrissen hatte wie Papier, ihren Blick traf. Abscheu strahlte ihr aus dem Blick des Königs entgegen, die sie fast körperlich spüren konnte.
Sie würde sterben.
Hier und jetzt.
Sie würde sterben.
„Sei gegrüßt, Vater. Wie kann ich behilflich sein?"
Julians Stimme klang vergnügt und locker. In einem anderen Leben wäre er Schauspieler gewesen.
Vater und Sohn musterten sich. Und es schien, als würde die Luft unter der unterdrückten Wut ihrer Blicke heiß werden.
Die Frostgardisten rückten näher. Zwei weitere traten durch den Türrahmen.
Was hatte er nur getan?
Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen nickte der König in Cress Richtung.
„Lasst sie zusehen. Stellt sie ruhig."
Julian warf einen Blick über die Schulter zu ihr.
Einer der Frostgardisten kam auf Cress zu, riss ihr die Metallschale aus der Hand und drehte ihr unsanft die Arme auf den Rücken. Sie war zu Stein geworden vor Angst, unfähig, auch nur einen Muskel zu rühren. Sie wurde zu Boden gestoßen, schlug sich die Knie auf. Ihre Schultern brannten. Eine behandschuhte Hand presste sich so fest auf ihren Mund, dass ihre Zähne ächzten.
Julian bebte vor Zorn. Seine Schläge waren gut platziert und wütend, aber gegen drei bewaffnete und gepanzerte Elitesoldaten hatte er nicht den Hauch einer Chance. Es war brutal und kurz. Sie zwangen ihn auf die Knie, genau wie sie.
„Siehst du", seufzte Miaserus, hob die Zigarre, die sein Sohn fallen gelassen hatte auf, und nahm einen Zug, „so schwer ist das gar nicht."
„Verschwinde", spuckte der Kronprinz, aber der König schenkte ihm nur ein müdes Lächeln. Die Familienähnlichkeit war erschreckend.
„Nein", gab Miaserus trocken zurück, „Denn anscheinend habe ich bei deiner Erziehung grundlegend versagt."
Halt die Klappe, flehte Cress in Gedanken.
„Das ist ja eine erfrischende neue Erkenntnis."
Miaserus streckte wortlos die Hand aus, drehte gewaltsam den Arm seines Sohnes um und drückte die Zigarre auf der Haut seines Unterarms aus. Zischend sog er die Luft durch die Zähne ein. Sämtliche Sehnen am Hals des Prinzen traten hervor, als der König die teure Zigarre noch einmal drehte und dann ins Feuer warf.
Cress schluckte.
Noch mehr Rauch und der Geruch von verbranntem Fleisch breiteten sich im Raum aus.
„Du sollst doch nicht rauchen, Sohn."
Erneut tanzte sein Blick zu Cress. Dieses Mal war er bedauernd.
„Und deine Gespielin muss ich jetzt leider auch beseitigen."
Cress blieb still, aber die Panik brachte jede Faser ihres Körpers zum Vibrieren.
Panik, Angst. Doch da war noch etwas, das aufwachte, sich streckte wie eine Raubkatze und seine Krallen wetzte.
Wut.
Das Gefühl, das so gut darin war, alle anderen auszurotten, bevor es sich auf ihren Verstand stürzte. Der König hatte sie nicht als Farblose erkannt, sondern hielt sie wahrscheinlich für eine Exiladlige. Auf die Entfernung und im Feuerschein konnte er die Unebenheiten in ihren nicht von Kontaktlinsen bedeckten Augen nicht sehen, sondern nur das gefärbte Haar.
Er wusste nicht, wer sie war. Doch natürlich hatte sie ihn erkannt.
Als den, der ihren Bruder umgebracht und ihre Eltern ruiniert hatte.
Ein Hauch Verwunderung wanderte in den Blick des Königs und er musterte sie noch einmal, von den aufgeschlagenen Knien über die nackte Schulter, von der der Morgenmantel gerutscht war, bis zu ihren Augen.
Doch er erkannte sie nicht.
Obwohl ihr Gesicht ihm bekannt vorkam, erinnerte er sich nicht an die Zehnjährige, die er in ihren sicheren Tod geschickt hatte.
Nur war diese Zehnjährige nicht gestorben, wie er es geplant hatte. Sie hatte vieles getan, ihr waren viele Dinge geschehen, aber gestorben war sie nie.
Julian riss sich los.
Er kam auf die Beine, wurde aber sofort wieder gepackt und niedergezwungen, obwohl er einem der Gardisten einen so heftigen Kinnhacken verpasste, dass sein Helm auf dem Boden landete. Der Mann hinter dem Visier war viel zu jung.
„Lasst sie gehen. Sie hat nichts getan", verlangte der Kronprinz nobel, aber sein Vater lachte nur.
„Nein", sagte er noch einmal. Endgültig.
Und dann schlug er zu.
Julians Kopf flog mit einem Übelkeit erregenden Geräusch nach links. Die Haut seiner ohnehin schon geschwollenen Wange platzte auf.
Er murmelte etwas und der immer noch lächelnde König riss seinen Kopf an den Haaren nach oben, sodass er ihn ansehen musste.
„Was sagst du da?"
Halt die Klappe, du Idiot.
„Feigling", knurrte der Kronprinz.
Diesmal flog sein Kopf nach rechts und sein Blick traf den der Diebin.
Eine wortlose Entschuldigung. Vielleicht dafür, dass er gar nicht wirklich versuchte, sich zu wehren. Dass er es nicht fertigbrachte, aus der Dunkelheit zurückzukommen, in die er geschleudert worden war, nicht einmal für einen Moment.
Sie hatte immer noch keinen Mucks von mir gegeben.
Vielleicht bedauerte er auch, dass er es nicht geschafft hatte, sie vor seinem Vater zu beschützen.
Doch Julians Schutz war nur politisch gewesen. Denn hier, kniend vor dem König der letzten Stadt, brauchte sie seinen Schutz nicht.
Er brauchte ihren. Denn Cress Cye war in diesem Teil der Stadt vor allem für ihre Diebstähle bekannt, doch die Strichliste der Cyborgs, die sie getötet hatte, war um einiges länger.
Genug.
Ein einzelner Ton hallte in ihrem Kopf wider, als hätte jemand eine einzelne Klaviertaste angeschlagen.
Sie schloss die Augen.
Und als sie diese wieder öffnete, war sie bereit, die Hölle auf den König der letzten Stadt loszulassen.
Der Gardist war viel zu verdutzt, als sie sich in einer Bewegung aus seinem Griff wand. Seine eigene Plasmawaffe knockte ihn aus, als sie ihm diese gegen die Schläfe knallte.
Ihr Körper ging in den Kampfmodus über, routiniert und elegant.
Es spielte keine Rolle mehr, dass die Wesen, gegen die sie hier kämpfte, noch einen Verstand hatten und keine Zahnräder aus ihren Körpern ragten.
Im Innersten waren sie genauso kalt und grausam wie die Cyborgs.
Die drei anderen Gardisten, der Kronprinz und der König wandten wie eine einzige Person die Köpfe.
Da waren es schon nur noch zwei Gardisten.
Der König wich einen halben Schritt zurück, als sie den Händen des linken Gardisten auswich.
„Ich bin dein König, Mädchen", bellte der mächtigste Mann der Stadt sie an. Als das letzte Wort in der Suite verhallte, lagen seine beiden letzten Gardisten über der Lene der Couch und mit dem Kopf in den Scherben einer teuren Vase.
Nur mit einem verrutschten Morgenmantel bekleidet, einem Weinkühler voller Eiswürfel in der einen Hand und einer Plasmaklinge in der anderen stand sie vor dem König der letzten Stadt.
„Ist das so?"
Eiswürfel zerbrachen auf dem Glasboden unter ihren kalten Füßen, als sie mit der Metallschale ausholte und sie ihm gegen die Schläfe donnerte. Der König stürzte.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte er zu ihr auf, erschüttert, erniedrigt, fluchend vor Wut.
„Ihr seid kein König."
Cress holte noch einmal aus und schlug den König bewusstlos.
„Ein König tötet keine Unschuldigen."
Noch ein Schlag.
„Ein König beschützt Unschuldige."
Sie hatte sich aufgelöst. Sie existierte nicht mehr. Die Dunkelheit flutete ihre Rationalität. Alter, vergorener Zorn brach sich Bahn, als sie nach dem Schwert in der Trainingspuppe griff und ausholte.
„Ihr seid kein König."
Feuer tanzte über Stahl.
„Nein!"
Sie wurde zur Seite geworfen, der Hieb ging ins Leere und ihr Kopf krachte auf Glas. Zum ersten Mal an diesem Abend schrie sie. Julian und Cress rangen miteinander. Ihr wurde klar, wie sehr er sich zurückgehalten hatte. Der Kronprinz war deutlich stärker als sie. Und er hatte bis jetzt noch kein bisschen seiner Kraft verbrannt.
„Wage es nicht", drohte sie durch zusammengebissene Zähne.
Er brauchte nur ein paar Sekunden, um ihr die Klinge aus der Hand zu winden.
Schreie, Flüche. Er landete einen Hieb gegen ihre Zähne, bevor er es schaffte weg von ihr zu kommen. Blut füllte ihren Mund.
Schwer atmend richtete sie sich auf.
„Mistkerl", schleuderte sie ihm entgegen und lauter, „Du verdammter Scheißkerl!"
Julian stieß die Klinge wortlos zurück in die Trainingspuppe.
Sie wischte sich Blut von der aufgeplatzten Lippe.
„Er hat meinen Bruder getötet. Meine Eltern ruiniert", anklagend deutete sie auf den schlaffen Körper des Königs, „Er tut dir weh. Die Welt wäre besser ohne ihn."
Das perfekte A klingelte immer noch in ihren Ohren, als sich Stille über die Suite legte. Nachtwind, der durch das offene Fenster hereinwehte, ließ Cress immer noch nassen Strähnen und die Seide des Bademantels tanzen.
Julian hob den Blick.
Seine Augen waren dunkel wie die tiefste Nacht, als er einatmete, das Kinn hob und tonlos sagte: „Er ist mein Vater."
Um Beherrschung ringend wandte sie sich ab.
„Feigling."
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