60 - Sterne und Welten
„Komm, ich muss dir etwas zeigen!"
Als Julian sich nach Cress umsah, flogen ihr die dunkelblau gefärbten Haare um den Kopf und ihre Augen strahlten hinter den Kontaktlinsen. Ihre Hand war nicht weich, wie Renées, oder die irgendeiner anderen Adligen. Sie hatte Schwielen am Fingeransatz, die nicht einmal die drei begabtesten kleine Gelben des Kernbezirks verschwinden lassen konnten.
Schwielen vom Halten einer Waffe. Eines Schwerts, vielleicht, wobei sie für ein Ordentliches viel zu klein war. Vielleicht der Zahnstocher. Oder Dolche.
Er zog die Diebin hinter sich her, durch die langen Gänge des verlassenen Palastes. Alle, bis auf ein paar vereinzelte Gelbe, die panisch aus dem Weg sprangen, als sie ihn kommen sahen, waren draußen im Park und feierten den bevorstehenden Tod der Hohen.
Vor einer schweren, altmodischen Flügeltür hielt er so abrupt an, dass sie in ihn hineinrannte. Er fing sie mit einem Arm auf und sah mit warmem Spott in der Stimme auf sie hinunter:
„Langsam, Lady Liliane. Ich renne Ihnen nicht weg."
Sie schnaubte, die Nase immer noch rot von der Kühle draußen, während sie einen Träger ihres Kleids wieder die Schulter hinaufschob. Sie hatte wunderschöne Schlüsselbeine.
„Selbst wenn, wäre ich um einiges schneller als du", behauptete sie dann selbstsicher.
„Wollen wir wetten?", gurrte er.
Ihre Augen wurden schmal, sodass er den Eyeliner, den er gezogen hatte, bewundern konnte.
Er nickte hinein in die Düsternis der Bibliothek.
„Wer als erstes auf der anderen Seite ankommt."
„Nach links oder rechts?"
„Links", legte er fest, ließ ihre Hand los und verschwand zwischen die Regalreihen.
„Hey! Stopp!", rief sie ihm hinterher, aber er lachte nur. Es tat gut, zu laufen, nachdem sie insgesamt länger als fünf Stunden in der Loge gesessen hatten und er Nackenschmerzen von der Krone bekommen hatte. Seine Haare standen nach dem Lauf über die Wiese bereits in alle Himmelsrichtungen ab und die Uniformjacke flog hinter ihm her, als er durch die Düsternis jagte. Sie lief parallel zu ihm dahin, einen Quergang weiter, dort, wo die Dunkelheit so dicht wurde, dass der Mondschein sie nicht mehr durchdringen konnte. Sie waren gleichauf. Das lange, schwarze Kleid flog um ihre Beine wie gefärbtes Wasser.
Sie schien dafür geboren worden zu sein, mitten in der Nacht durch stockdunkle Bibliotheken zu rennen.
Er fühlte sich, als würde er jeden Moment anfangen zu fliegen. Dabei war sie diejenige mit den metaphorischen Flügeln.
Obwohl die Bibliothek riesig war und es selbst sprintend dauerte, sie zu durchqueren, kamen sie viel zu schnell an der Galerie an.
„Erste! Ha!", keuchte sie, streckte die Arme in die Luft und ließ den Kopf in den Nacken fallen. Er lachte, ebenfalls außer Atem.
„Ich habe dich gewinnen lassen."
Sie wirbelte mit funkelnden Augen zu ihm herum, Schatten und Mondlicht zeichneten mit sanftem Glanz ihre Gesichtszüge nach.
„Hast du nicht! Was für eine billige Ausrede!"
Er war von niemandem je so intensiv angesehen worden.
„Erwischt", gab er nach. Sie musste ja nicht wissen, dass sie ihn zu sehr abgelenkt hatte, als dass er hätte gewinnen können. Sie fuhr sich durch die Haare. Schlanke Finger kämpften kurz mit dunkelblauen Knoten. Er fragte sich, was gewesen wäre, wenn sie wirklich eine Exiladlige wäre. Wenn er sie heute Nacht ganz zufällig getroffen hätte, an einem der weißen Feuer. Sie hätten Kaffeetrinken und Zimteschnecken essen können. Nun ja, und früher oder später hätte er sie dann in seine Suite geführt und sie auch für den Rest der Nacht gut unterhalten. Aber so einfach war das hier nicht. Weder von ihrer, noch von seiner Seite aus. Und doch war es in diesem Moment mehr als einfach.
Sie war schön, wie ein schwarzer Stern, in dem Kleid, das er ihr ausgesucht hatte. Ohne ihre hohen Schuhe wischte es über den glänzenden Parkettboden. Ihre nackten Arme und der elegante Schwung ihres Halses schienen in der Dunkelheit förmlich zu glühen. Ganz zu schweigen von ihren Augen.
Das kalte Holz drückte sich in seinen Rücken, als er sich abstieß.
„Komm. Ich muss dir immer noch etwas zeigen."
Sie stiegen die Treppe zur Galerie hinauf. Von hier oben konnte man weiter über die Buchreihen hinaussehen, als von irgendwo sonst. Über ihren Köpfen hing eine rote Laterne von der Bleiglaskuppel, durch die die Sterne schimmerten. Julian zog eine silberne Metallschachtel unter einem der Regale hervor und öffnete sie.
Er begann metallene Rohre ineinander zu stecken und Schrauben festzuziehen, während sie sich hinter ihm leise wie ein Schatten umsah.
Dann hielt sie inne.
„Was ist das?"
Er drehte sich mit dem halbfertigen Gerät in den Händen zu ihr um.
Die Diebin starrte eine riesige, unebene Kugel in der Mitte des Raums an. Er runzelte die Stirn, aber ihre Frage war ehrlich.
„Das ist ein Globus", sagte er und vergaß vollkommen, die Schraube weiter zu drehen, die er immer noch zwischen den Fingern hielt.
Ihr Blick schweifte zurück zu der riesigen Kugel.
„Was ist ein Globus?"
Ihre Augen huschten zu ihm, als ob sie erwarten würde, dass er sie auslachte. Aber er war zu geschockt, um das zu tun. Um einiges zu geschockt. Langsam ließ Julian das halbfertige Teleskop auf die Brüstung sinken und kam zu ihr herüber. Das Modell der Weltkugel stand hier, seit er denken konnte und sammelte Staub.
„Das ist die Erde. Vor dem großen Krieg."
Ihr Gesicht bewegte sich nicht, aber ihre Augen fuhren schnell wie Sternschnuppen über die alte Bronzekugel. Sie hatte ihren Planeten noch nie gesehen. Sie war hier geboren worden war, innerhalb der Mauern, genau wie er. Im Gegensatz zu ihm hatte sie aber keinen Zugriff auf die Bild-, Video- und Simulationsarchive des Kernbezirks gehabt. Er kam sich arrogant vor, weil er es nicht sofort verstanden hatte. Cress passte sich so gut an, sie war so intelligent, dass er völlig vergaß, dass diese Intelligenz über ihr fehlendes, theoretisches Wissen, hinwegtäuschte. Dass sie nicht Geige spielen und Fechten gelernt hatte.
Was hatte sie überhaupt von der ehemaligen Schönheit der Erde gesehen?
Julian streckte langsam einen Arm aus und deutete auf eines der Länder, die für sie aussehen mussten, wie willkürlich in das Metall geritzte Zacken.
„Das ist Russland. Nord- und Südamerika. Kanada. Europa. Asien. Australien. Neuseeland", er ging um das Abbild der alten Welt herum und deutete auf verschiedene Länder. Sie folgte ihm.
„Und das?", fragte sie und deutete auf Island. Er nannte ihr den Namen der Insel.
Sie starrte den Globus an, als würde er zu ihr sprechen, wenn sie ihm nur lange genug ihre Aufmerksamkeit schenkte.
„Willst du Bilder sehen?", fragte er, während sie Island mit einem blau lackierten Finger nachzeichnete. Vergessen waren die Sternschnuppen, vergessen war das Teleskop auf dem Geländer, als Cress stumm nickte. Sie hob den Blick. Wie konnte jemand mit dem Universum in den Augen nicht einmal seinen eigenen Planeten kennen?
Und in diesem Moment konnte er es nicht mehr sehen. Er konnte absolut keinen Grund dafür erkennen, warum er das alles wusste und sie nicht. Warum sie so verschieden sein sollten, dass man jemandem wie ihr so etwas vorenthielt. Es machte ihn traurig und wütend, aber gleichzeitig breitete sich aufgeregte Energie in seinem ganzen Körper aus, als er sich nach dem uralten Diaprojektor umsah. Aber noch mitten in der Bewegung kam ihm eine andere Idee. Er könnte sie einfach in eine Simulation mitnehmen. Wenn schon, denn schon.
„Ich habe eine Idee. Aber das dauert ein paar Minuten, okay?"
Sie nickte müde, niedergeschlagen, während er die Treppe hinunter und in einen anderen Raum verschwand. Sein Fingerabdruck öffnete ihm alle Türen. Er musste nicht lange suchen, riss drei silberne Zylinder aus einer Box und eilte zurück auf die Galerie. Es war gegen jedwede Sicherheitsvorschriften und Regeln, aber um die Simulationshalle im Bauch des Schlosses nutzen zu können, benötigte man Plasmawissenschaftler. Und selbige feierten natürlich gerade mit ihren Familien und dem Rest der Stadt das größte religiöse Fest des Jahrhunderts, während er mit der Diebin in der königlichen Bibliothek war.
Gleich würden sie die letzte Stadt für ein paar Momente verlassen.
Auch, wenn die Projektion nicht perfekt sein würde.
Cress drehte sich einmal um die eigene Achse, während sie verfolgte, wie er die Zylinder verteilte und aktivierte. Es würde noch ein paar Minuten dauern, bis es soweit war.
„Klebe dir die hier an die Schläfen. Und das hier sind Ohrstöpsel", er reichte ihr zwei kleine Knöpfe, nicht größer als Stecknadelköpfe und zwei Größere, bevor er noch einmal nach unten ging und ihr ein paar schwarze Handschuhe zuwarf.
Cress blinzelte. „Wieso?"
„Weil wir jetzt einen Ausflug machen", Julian setzte sich zwischen den Zylindern auf den Boden und nach kurzem Zögern folgte die Diebin seinem Beispiel. Er ließ sich zurücksinken, bis er auf dem Rücken lag und zu der Bleiglaskuppel mit der roten Laterne hinaufstarrte. Die Diebin sah auf ihn herab, als hätte er den Verstand verloren, während die Sensoren an seinen Schläfen warm wurden.
Er deutete stumm an ihr vorbei. Und als sie seinem Blick folgte, klappte ihr Mund auf vor Überraschung. Die staubigen Bücherregale, die Kuppel und der Globus waren verschwunden. Stattdessen starrten sie auf die endlosen Weiten eines blauen Ozeans hinaus, auf dem schneeweiße Schaumkronen tanzten. Wären sie in der Halle, könnte sie den Seewind fühlen und das Salz darin schmecken. So hörte sie nur das Wellenrauschen.
Es war seine Lieblingssimulation. Ein Strand an einem kalten Meer, das im Abendlicht aussah wie glühend heiße Lava. Es war still, auf dem Kilometerlangen Streifen weißen Sands, bis auf das Rauschen der Wellen, denn der Urwald war so weit weg, dass sich seine Geräusche im Abendlicht verloren.
Er hatte schon Stunden hier gesessen. Er war in der Simulationshalle diesen Strand entlang gejagt, war in die Wellen eingetaucht und war geschwommen, bis er keuchend und hustend wieder auf dem Sand lag. Er wusste noch, was er das erste Mal gefühlt hatte, als er in diese Simulation eingetaucht war. Aber das war kein Vergleich zu dem Ausdruck in Cress Augen, als sie auf die längst verlorene Welt hinausstarrte.
Als ob sie sich ihr ganzes Leben danach gesehnt hätte, hierher zu kommen. Als ob sie nach einer langen Reise endlich zurück nachhause gefunden hätte. Festgefroren in einer Zeit, die sie nie gekannt hatte und in der sie doch mehr zuhause war, als irgendwo sonst.
Sie ließ den Sand durch ihre Finger rieseln, den sie dank der Handschuhe fühlen konnte. Sie beugte sich vor und ließ die Brandung über ihre Finger spülen, während die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwand.
Er lachte sie nicht aus, als ihre Augen silbrig wurden. Und auch nicht, als sie, den Blick immer noch ohne zu blinzeln auf den Horizont gerichtet, als dürfe sie keinen Moment in dieser fremden Welt verpassen, zu schluchzen begann.
Ein Geräusch, das ihm das Herz in der Brust zerriss. Sie weinte vor Glück.
Dabei konnte sie diesen Strand nicht einmal entlang rennen.
Dabei hatte er ihr nur ein Fenster und keine Tür zur Zeit vor dem Krieg geschenkt. Es war mehr ein Reflex als eine bewusste Handlung, als er sie an sich zog.
Sie sah ihn nicht an, als sie sich gegen ihn lehnte. Immer noch gebannt von der verlorenen Welt, erschüttert von Schmerz und Glück. Und in diesem Moment waren sie nur zwei Menschen an einem Strand. Kein Prinz, keine Vogelfreie. Nur zwei Menschen, während die junge Nacht über den Ozean hereinbrach. Zusammen starrten sie hinaus auf das Meer, sein Kopf auf ihrem Scheitel. Nähe, die so unverschämt und in diesem Moment doch so bedingungslos war. Wortlos, bis sie irgendwann doch einschlief. Obwohl sie sich am liebsten noch länger in der Schönheit einer zu Asche zerfallenen Welt verloren hätte.
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