53 - Sterben
Einen Moment lang war sie so schwerelos wie der tödliche Sternenhagel um sie herum. Ihre dunklen Haare zogen in Zeitlupe durch ihr Blickfeld, sie schwebte wie eine Ballerina im blauen Licht. Flieg.
Doch sie flog nicht.
Sie fiel.
Die tödlichen Lichtkugeln schossen in die Nacht hinaus, ohne sie auch nur zu streifen und verglühten irgendwo in der Dunkelheit.
Der Wind rauschte in ihren Ohren, machte sie taub und stumm während sie fiel.
Cress wusste nicht mehr, wo oben und unten war.
Sie sah den Himmel, die Stadt, wieder den Himmel vorbeiziehen, taumelte durch das eiskalte Nichts der Nachtluft.
Todesangst raubte ihr den Atem.
Nicht vor dem Fall, sondern vor dem Aufprall.
Der Wind riss alle Gedanken aus ihrem Kopf, ließ nur bloße Instinkte zurück.
Die bunt erleuchteten Bezirksgrenzen brannten sich in ihre Netzhaut ein, während sie immer und immer wieder vorbeizogen. Über ihr, unter ihr, als wären sie das Gewebe, das das Universum zusammenhielt.
Cress würde Sterben.
„Cress!" Julian.
Schienen zogen vorbei.
Ein Netz aus Schienen, so eng gewoben, dass sie darin hängen bleiben müsste.
Kupfer auf ihrer Zunge.
May schrie.
Die Welt war immer noch erschreckend klar, als sie auf die Wasseroberfläche knallte.
Jede Faser ihres Körpers wurde zusammengepresst, verpuffte in Schmerz.
Sie hatte überhaupt keine Orientierung mehr, trudelte erst durch Luft und dann durch Wasser.
Cress streckte die Hände nach der Oberfläche aus, während sie in den schimmernden Tiefen versank.
Ein geschundener Körper, ein ruheloser Geist und deren gebrochene Flügel sanken in die Tiefen hinunter.
May und Rick brauchten etwas länger, um sich zu orientieren, ihre Jacken zu schnappen und ihm nachzueilen.
In Mays Kopf hämmerte es.
Sie war wirklich gesprungen. Dieses dumme Mädchen war gesprungen.
Sie war tot, daran hatte May keine Zweifel.
So einen Sturz konnte ein Mensch nicht überleben.
Das Entsetzen saß ihr in den Knochen, als sie die Stufen hinunterrannte.
Die schwere Tür zum Park schlug gegen die Wand und May rannte voll in Rick hinein, der wie angewurzelt stehen geblieben war.
Sie stolperte, er packte sie und sie landeten zusammen auf den Stufen.
Aber das war im Moment ihr kleinstes Problem.
May kam das alles unglaublich unwirklich vor.
Cress war gesprungen.
Sie hatte sich umgebracht, nur um dem Rat zu entkommen.
„Alles okay?"
Ricks Stimme war belegt.
Er drückte sie an sich und sie vergrub das Gesicht in seiner Schulter.
„Das ist meine Schuld."
Er schnaubte.
„Red' keinen Unsinn."
May schloss die Augen in dem Versuch einfach die ganze Welt auszuschließen.
Das hier, alles, was schief gegangen war, war ihr zu verdanken.
Sie hätte sich nicht erpressen lassen dürfen.
Sie hätte zur Abwechslung mal ein bisschen Rückgrat zeigen müssen.
Aber jetzt war es zu spät.
Cress war tot.
Julian war fort.
Und sie war am Ende.
Sie hielt sich an Rick fest, Rick hielt sich an ihr fest, während ihre Welten sich für immer veränderten.
~
Als Cress die Augen aufschlug, war sie blind. Es dauerte, bis sie nicht mehr geblendet die Augen zusammenkneifen musste, denn um sie her war es taghell. Doch es war kein goldenes Sonnenlicht, sondern ein weißes Glimmen, wie von frisch gefallenem Schnee. Ihre Sicht war verschwommen und als sie ihre Hand zu ihren Augen hob, war diese aufgequollen und blass. Als sie den Mund öffnete, quollen keine Luftblasen heraus.
Ihre Haare wallten wie Algen um sie herum, während sie sich orientierte und folgende Dinge feststellte:
Sie lebte.
Sie lag auf dem Grund des Caz-Kristall-Sees.
Sie atmete nicht.
Sie lebte.
Weit über ihr erstreckte sich die dunkle Oberfläche des Sees. Cress legte fasziniert die Hand auf ihre eigene Brust, bis sie den Herzschlag durch ihre Finger fühlen konnte. Als sie einatmete, rauschte ein Strom aus Wasser ihre Luftröhre hinab.
Doch sie ertrank nicht.
Stattdessen wurden ihre Gedanken noch klarer und sie sah sich zum ersten Mal richtig um.
Der See war tief. Er musste wohl zu den Mienen gehören, einer der Tagbau Brüche, die der Orden zu nahe am Palast gegraben hatte.
Cress richtete sich auf, ließ ihre Finger über die heiligen Steine wandern, die mehr als mannshoch um sie her wuchsen. Das Mineral, aus dem die Mauer errichtet worden war, das sie alle vor den Schrecken der Außenwelt beschützte.
Ein silberner Schauer fuhr durch den Stein, als hätte er ihre Berührung gespürt. Cress zuckte zurück. Sie sah ihr eigenes, verstörtes Gesicht dreifach gespiegelt in der glatten Oberfläche schimmern.
Algen und Moos mieden die heiligen Kristalle, bedeckten aber den Boden zu ihren Füßen.
Fische tanzten über die dunkelgrünen Pflanzen, als drehten sich ihre filigranen Körper zu einem für Cress unhörbaren Musikstück. Sie waren durchsichtig wie Glas. Das Licht der heiligen Steinen verwandelte sie in gespenstische Zauberwesen.
Langsam stand Cress auf und achtete dabei darauf keinen der unheimlichen Steine mehr zu berühren.
Sie hatte keine Schmerzen. Wirbel für Wirbel richtete sie sich auf und erwartete jeden Moment schreckliche Qualen, die aber nie eintreten sollten.
Cress dämmerte, dass sie ziemlich sicher doch tot war.
Sie hatte keine Schmerzen, atmete nicht und fühlte sich ausgeglichen.
Alles in ihr und um sie herum harmonierte wie die verschiedenen Instrumente in einem großen Orchester.
Cress war Teil einer Symphonie, die so leise war, dass man sie kaum noch hören, aber immer noch jedes Crescendo wahrnehmbar war.
Schürfwunden zogen sich die Beine der Diebin hinauf, der schwarze Funktionsanzug hing in Fetzen. Das jenseits hätte sie neu einkleiden können, wenn es sich schon die Mühe gab, diese Menge von Caz Kristallen zu erschaffen.
Als Cress einen Schritt nach vorne machte, stoben die Fische auf.
Sie umkreisten sie wie ein Schwarm aus Luftspiegelungen, tanzten fröhlich durch ihre Haare und vor ihrem Gesicht herum. Sie blinzelte ihre hauchdünnen Flossen weg und konnte nicht verhindern, dass sich ein Lächeln auf ihr Gesicht stahl.
Sie zog sich den Klettergurt von den Beinen.
Sie stieß gegen irgendetwas Goldenes, das halb von Moos überwachsen worden war, schenkte dem sicher wertvollen Ding aber ansonsten keine Beachtung.
Vom Gewicht der Karabiner befreit fiel es ihr leichter durch das sanfte Wasser nach oben zu schwimmen. Die Freundlichkeit, die sie umgab war wie eine warme Strömung, die Cress in einen schützenden Kokon hüllte.
Und so schwebte sie schwerelos der Wasseroberfläche entgegen, ohne einen einzigen Muskel zu rühren.
Durch Licht und Flüssigkeit, während sich ihr Körper in den wertvollen Kristallen spiegelte.
Einmal tauchte hier eine Hand auf der Oberfläche eines Steins auf, ein anderes mal war es nur ihr Kopf oder ein Detail ihres Gesichts.
Es hätte beängstigend sein können, doch nichts an der hellen Stille fühlte sich bedrohlich an.
Es war, als ob sie mit sich selbst tanzen würde.
Cress schloss die Augen und ließ ihren Kopf langsam in den Nacken sinken.
Nur ein paar Zentimeter von der Oberfläche entfernt, durch die bereits die Lichter des Palasts weit über ihr schimmerten, hielt sie inne.
Die Farblose schwebte im Wasser, zufrieden wie ein Kind kurz vor dem Einschlafen, ruhig wie die Oberfläche eines Sees bei Windstille und still wie das Universum in den Minuten vor dem Urknall.
Sie fühlte sich, als wäre sie zum ersten Mal in ihrem Leben richtig wach.
Dann durchbrach sie die Oberfläche, die eiskalte Luft schnitt in ihre Wangen und jeder Zentimeter ihres Körpers, der mit der Luft in Berührung kam begann zu brennen.
Da waren sie, die Schmerzen, in jedem Knochen, der den Aufprall gespürt hatte. Cress riss die Augen auf, zog sich an zwei Caz Kristallen in die Höhe und stöhnte durch gebleckte Zähne, als ihre Beine fast unter ihr zusammenklappten. So schwerelos sie sich gerade noch gefühlt hatte, nun kam sie sich vor, als hätte man sie aus Blei gegossen.
Silbrige Blitze zuckten durch die heiligen Steine, als Cress diese berührte, doch das könnte ihr in Anbetracht ihrer Qualen nicht gleichgültiger sein. Die Symphonie, die Harmonie verblasste und sie verwandelte sich in ein körperliches Wrack.
Jeder Zentimeter, den sie sich bewegte, wurde zu einer unmöglichen Aufgabe.
Der Nachtwind schien auf ihrer Haut zu gefrieren, die Kälte krallte sich in ihre Knochen, während sie nass und zitternd über die Caz Kristalle kletterte.
Da waren Menschen hinter der letzten Mauer aus heiligen Steinen. Sollte sie sich verstecken? Cress kauerte sich zusammen. Doch dann erkannte sie die Stimme, die in harschem Flüsterton Befehle verteilte.
Ihre Zähne klapperten aufeinander, als sie sich auf den Caz Kristall stützte und sich nur noch halb bei Bewusstsein über den letzten Stein kämpfte.
„Eure Hoheit!", rief jemand nach dem Kronprinzen.
Die Männer, die dort standen fuhren zu ihr herum.
Cress hätte am liebsten laut gelacht, weil sie alle so geschockt aussahen. Als der Kronprinz im Geleit von drei Soldaten angelaufen kam, beugte sich der Schattenvogel gerade vorneüber und übergab sich auf die Heiligen Steine, bevor sie zusammensank.
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