50 - Bodenlos

Cress stand vorne an der Klippe und versuchte sich auf das Himmelfahrtskommando und wahrscheinlich ihren Tod einzustellen, während der Wind in ihren Ohren heulte.

Die Stadt war absolut still unter ihr.

Die erleuchteten Fenster wurden mit jeder bunten Bezirksgrenze weniger, bis alles in die erdrückende Dunkelheit des farblosen Bezirks eintauchte. Genau dort sollte sie jetzt eigentlich sein und zu den blau und weiß strahlenden Türmen über ihr hinaufsehen.

Sie hatte wirklich ein Talent dafür, sich in Schwierigkeiten zu bringen.

Ein paar hundert Meter im freien Fall weiter unten zogen sich Schienen durch die Nacht.

Man hatte sie auf eiserne Stelzen gebaut, um den Höhenunterschied zwischen dem Palast und den Caz Kristall Mienen schnell überwinden zu können.

Und genau das würde sie jetzt tun:

Einen Höhenunterschied überwinden.

Schnell.

Um einiges schneller als die Bahnen, die dort normalerweise fuhren.

Hinter ihr kamen Schritte über das vom eiskalten Tau feuchte Gras.

Julian d'Alessandrinis Gesicht war immer noch nicht hundertprozentig ernst.

Er war auch nicht derjenige, der hier gleich abgeseilt werden sollte.

Cress wurde das Gefühl nicht los, dass ihm die ganze Sache trotz seiner ernsten Motivation irgendwie Spaß machte.

Er hatte eine klimpernde Konstruktion aus Leder und Metall in der Hand, an der er irgendwelche Riemen sortierte, bevor er vor ihr in die Knie ging.

Sie hätte tausend schlechte Witze reißen können, aber da ihr Leben in der nächsten Zeit von den Entscheidungen und Plänen dieses Adligen abhängen würde, fragte sie nur: „Was ist das?"

„Falls du fällst."

Schatten huschten vorbei, während sie sich anstarrten.

Cress war immer noch wütend auf ihn.

„Du glaubst nicht mehr, dass Schattenvögel fliegen können?"

Sie stieg in die Schlaufen und er zog den Gurt ihre Beine hoch. Ungefähr drei Zentimeter, bevor sie das selbst übernahm.

Er war viel zu nah.

Sie wollte den Gurt festziehen, zog dazu ihre Handschuhe aus, scheiterte aber an der Schnalle und rammte sich irgendeinen versteckten Draht unter den Nagel.

Zischend holte die Farblose Luft.

Er beobachtete sie, während sie sich weigerte aufzugeben und die Schnallen letztendlich festzog.

„Wir sind so weit", sagte die Stimme der Ordensschülerin durch meinen Kopfhörer.

„Schön. Wir auch", meinte Julian langsam.

Ich bin ihm zu langsam gewesen, dämmerte es Cress.

Sie wandte sich der Stadt zu, marschierte zur Klippe und zog die Handschuhe wieder an.

Sie würde diese Angelegenheit schnell und sauber erledigen.

Bekannterweise waren weder Diebstahl, noch große Höhen ein Problem für sie.

Julian hatte Recht – sie war rein rational gesehen die Beste für diesen Job. Oder zumindest die, mit der höchsten Chance zu überleben.

Jemand griff nach ihrem Handgelenk.

Cress erster Reflex war es leider, dem Betreffenden die Schulter auszukugeln.

Der Mann schrie auf, bevor ihn die anderen daran hindern konnten.

Sie waren weit draußen im Park, trotzdem war es riskant. Sie biss die Zähne zusammen, während die anderen herüberkamen und das Opfer ihrer Anspanung stöhnend auf dem Boden lag.

„Sterne", Cress ging neben dem Mann in die Knie, „das tut mir leid."

Julian starrte die Diebin an, starrte zu dem Soldaten zu seinen Füßen, starrte wieder sie an, bevor er sich hinunter beugte, dem Mann irgendetwas zum Draufbeißen gab und mit Hilfe eines anderen Mannes den Arm wieder einrenkte.

„Kein Kommentar", meinte der inoffizielle Prinz ziemlich angepisst, hob irgendetwas vom Boden auf und drückte es ihr in die Hand.

Ein Pflaster.

Der Mann hätte ihr nur ein Pflaster geben sollen.

Cress biss sich auf die Zunge.

„Tut mir leid."

Es tat ihr wirklich leid, als sie ihrem Opfer aufhalf.

„Ist nicht so mein Tag heute", ergänzte sie.

Der Fremde starrte sie aus geweiteten Augen an, schüttelte langsam den Kopf und wischte sich mit der Hand über die Stirn. „Nicht so dein Tag, ja? Ich glaub's nicht."

Dann wandte er sich ab.

Die Farblose starrte einen Moment lang auf meine Schuhspitzen, bevor sie an die Abbruchkannte trat.

Eine so wahnwitzige Aktion schien ihr im Moment sicherer als noch einen Moment länger mit wütenden, perplexen Männern hier oben zu bleiben.

Cress nahm den Wärmeschatten hinter sich zu spät war, weil sie sich innerlich selbst auslachte.

Ein Ruck ging durch ihren Körper, ein Karabiner rastete ein.

„Das war ... lustig. Und vor allem erschreckend. Eigentlich nur erschreckend."

Sie biss sich auf die Zunge.

Cress bewegte sich auf ganz dünnem Eis, oder besser gesagt, ziemlich nahe am Abgrund entlang.

Julian d'Alessandrini stand direkt hinter ihr.

Sie war zwischen ihm und dem freien Fall gefangen.

„Ob du es glaubst oder nicht, das war keine Absicht", knurrte sie ihn an.

Er war sauer.

Sie war sauer.

Seine Fassade hatte zu bröckeln begonnen.

Er überging ihre Bemerkung einfach, griff unter ihren Armen hindurch nach der linken Schnalle und zog sie nach, woraufhin der gesamte Gürtel höher rutschte.

Zu nah. Viel zu nah.

Sein Unterarm berührte ihre Taille und als er nach der zweiten Schnalle griff, war sie vollkommen gefangen.

Panik schnürte ihre Kehle zu.

„Du magst es nicht, wenn man dich berührt."

Ein Ruck und der Gurt saß richtig.

Einen Moment zu lange ruhten seine Hände an ihrem Körper, während sie die Luft anhielt und den Drang niederkämpfte ihn die Klippe hinunterzustoßen.

Dann war er weg und sie atmete die kühle Nachtluft wieder ein. Sie starrte ihn an.

„Kann ich verstehen. Ich würde mich von mir auch nicht anfassen lassen. Aber sei trotzdem so nett und kugle mir nicht auch den Arm aus. Danke", murmelte er, leise, aber immer noch geladen wie eine Gewitterwolke, bevor er endgültig zurücktrat.

Die Wut war immer noch da, aber sie strahlte nicht mehr von ihm ab wie die Hitze eines Feuers.

Präzision und Kühle kehrten in seine Bewegungen zurück, als er sich umdrehte und den anderen Männern ein Zeichen gab.

Sie war sich nicht ganz sicher, was genau er gerade eigentlich wollte.

Sie war sich nicht einmal sicher, ob er es selbst wusste.

Und das verwirrte sie mehr als der Wind, die Höhe und die Gefahr, in die sie jetzt direkt hineinstolpern würde.

Kann ich verstehen. Ich würde mich von mir auch nicht anfassen lassen.

Obwohl er der Sohn ihres Erzfeindes war, obwohl er sie in dieses ganze Schlamassel hineingezogen hatte und es absolut naiv war, konnte sie nicht verhindern, dass dieser kleine Riss in seiner Maske und die Zerrissenheit, die er offenbarte, dazu führten, dass er ihr leidtat.

Sie hatte gesehen, wie sein Vater ihn behandelte.

Sie hatte gesehen, was hinter den perfekten Fassaden passierte. Und während der Kronprinz der letzten Stadt wegging, war er nichts weiter als ein Junge mit einem gebrochenen Herz.

Er warf einen Blick über die Schulter, als ob er ihre Gedanken lesen könnte.

Und schon war das lässige Grinsen wieder auf sein Gesicht zurückgekehrt.

„Los jetzt. Wir haben nicht die komplette Nacht Zeit", sagte jemand und Cress fuhr zusammen. Sie war total neben der Spur.

„Geht das auch leiser?", zischte sie, während sie die Karabiner begutachtete.

Sie vertraute sich selbst am meisten, wenn es um Dinge ging, die sie falls sie schief gingen das Leben kosten würden.

Aber es war schon davor klar gewesen, dass sie im farblosen Bezirk nie eine so gute Sicherung gehabt hatte.

Ein unartikuliertes Brummen aus ihrem Kopfhörer war die einzige Antwort.

Der Wind war eiskalt, als sich das Seil straffte, sich der Gürtel in ihre Taille grub und sie die Füße gegen den Stein stemmte.

„Viel Glück", sagte Julian, aber sie hörte ihn nur durch die Kopfhörer.

„Brauche ich nicht, wenn euer Plan gut ist", entgegnete die Diebin bitter, während sie über die Kante glitt.

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