45 - Probleme im Schlepptau

May war gestresst.

Sie fasste im Gehen abwechselnd ihr Haar zusammen und ließ es wieder offen über ihre Schultern fluten.

Der Mann in dem roten Laborkittel war ungefähr zehn Schritte hinter ihr, seine Stiefel klopften im gleichen Rhythmus wie ihre High Heels auf den Boden.

Der Korridor war leer, keine Kameras.

Denn die waren inzwischen ihre größten Feinde überhaupt geworden, seit der Kronprinz ihr sein tödliches Geheimnis verraten hatte.

Jemand plante einen Giftgasanschlag auf den Geisterbezirk.

Ein Verbrechen, das so unvorstellbar schrecklich war, dass es nur zwei Menschen im Kernbezirk verüben könnten: Der König und die Hohe.

May riss eine Tür auf und verschwand dahinter.

Keine zwei Sekunden später folgte er ihr, drückte die Tür viel sanfter ins Schloss als sie.

Sie hatte natürlich Nachforschungen angestellt, aber der Alessandrini Erbe schien die Wahrheit zu sagen. Was zugegebenermaßen überraschend gewesen war.

Aber es gab die neuen, verborgenen Labore wirklich.

Und anscheinend waren im geheimen einige Leute in dieser Stadt auf der Jagd nach einer Akte mit dem Codenamen ‚Achlys'.

Da Achlys der Name einer altgriechischen Göttin war, die auch als Personifikation des Giftes galt, schien das ebenfalls die Glaubwürdigkeit des Kronprinzen zu unterstreichen.

In welches Schlamassel war sie da nur hineingeraten?

Sie schüttelte unwillig den Kopf.

„Rick."

Sie kannte ihn, seitdem er in den Palast gekommen war und für den Rat zu arbeiten begonnen hatte.

Rick war ein Genie.

Er war der jüngste Plasmaentwickler überhaupt, hatte eine Karriere hingelegt, die ihm viele Feinde und Bewunderer einbrachte und ihn zu einem der einflussreichsten Roten in der Stadt machte.

Er war groß und schlaksig, der Kittel warf hier und da Falten, aber seltsamerweise stand er ihm, passte zu der hohen Stirn und seiner leisen, ehrlichen Art. Er wandte sich kopfschüttelnd zu May um.

„Ich glaub einfach nicht, dass du da auch mit drinnen hängst. Was nicht heißt, dass ich das schlecht finde. Ich finde es sehr gut, dass du ... Das ist viel zu gefährlich. Was denkst du dir eigentlich dabei?"

„Ähm ..."

May verzog missbilligend das Gesicht.

„...was?"

Rick fuhr sich zerstreut durch die Haare.

„Das glaub ich einfach nicht. Du! Und er! Bist du komplett wahnsinnig?!"

„Entschuldige, aber wenn du von der Sache redest, von der ich glaube, dass du von ihr redest, dann ..."

Er war plötzlich ganz nahe, flüsterte nur noch.

„May. Er will sich auflehnen. Wenn das so weiter geht, wenn er noch einen Schritt weiter geht, dann mögen uns die Sterne helfen ..."

Rick kam noch näher.

Sie roch das Plasma, mit dem er Tag ein, Tag aus zu tun hatte, als ob das seltsame Material schon ein Teil von ihm geworden wäre.

„Chaos, May. Es wird Krieg geben, wenn er sich abspaltet."

Die beiden starrten sich an.

Das Genie des Adels und das Genie des hohen Ordens.

May bis sich auf die Lippe, bis sie Blut schmeckte.

„Rick, was du sagst ist verdammt gefährlich."

„Alles ist jetzt gefährlich, oder? Eine Hochzeit zum Beispiel."

May lehnte sich gegen die Wand, stieß die Luft aus.

Wie viel wusste er?

„Ich weiß nicht, wie sie das wieder einrenken wollen. Die Hohe wird den Kronprinzen und die Lady de Chirouelle-Avalinis nicht trauen nach dieser Beleidung. Und das ist wiederum eine Beleidigung für das Königshaus."

May stöhnte frustriert auf.

„Was für ein Kindergarten."

Sie riss sich wieder zusammen und fuhr fort: „Aber Krieg? Ist das nicht einen Schritt zu schnell? Er will einen Anschlag verhindern, der tausende von Menschen umbringen würde. Mehr. Wenn du mich fragst ist das für den Kronprinzen überraschend sinnvoll. Er will nicht die Weltherrschaft übernehmen. Er will keinen Krieg, Rick, er ist achtzehn. Da hat man andere Probleme", fuhr sie auf.

Rick wiegte den Kopf hin und her. Ihm gefiel das alles immer noch nicht und er war offensichtlich immer noch geschockt darüber, dass es sie war, die er hier treffen sollte.

„Aber warum machst du mit? Warum hast du dich Julian angeschlossen, wenn du so viel zu verlieren hast, May?"

„Ich ... ich habe mich ihm nicht angeschlossen ...", murmelte sie, während sie ihre Schläfen massierte.

Sie hatte beißende Kopfschmerzen.

„Miaserus hat nichts getan, seit wir unseren Abgang hingelegt haben. Er ist zu klug, um einen Aufstand zu machen, weil sein Sohn das Ganze vermasselt hat. Offiziell sind die beiden jetzt ja verheiratet."

Rick nickte.

„Überall in der Stadt haben sie es ausgestrahlt. Ich glaube offiziell ist Hekate auch schon schwanger."

May schlug sich die Hand gegen die Stirn.

„Das glauben sie wirklich?"

Rick zuckte nur die Schultern.

„Komm schon, du kennst die Blauen doch. Die treiben es wie die Karnickel, sobald sich eine Gelegenheit bietet."

„Das ist nicht der Grund warum wir uns treffen sollten", stellte sie fest.

Dass er so respektlos über die Blauen sprach, ohne dabei als Roter sein Leben zu riskieren, war nur möglich, weil May den König und seine Sippe genauso sehr hasste, wie er es tat. Wobei Hass schon positiv formuliert war. Sie hatte einfach nur erbärmliche Angst vor den meisten von ihnen.

Rick stützte sich an der Wand des Ganges ab, in dem sie standen.

Eine grobe Betontreppe führte in den Bauch des Palastes hinunter.

„Julian will sowohl Adel als auch Orden unterwandern. Er will ein stabiles Netz aus Verbündeten haben, wenn Miaserus und die Hohe endgültig aufeinander losgehen. Und jetzt sag' mir, dass sich das nicht nach den Vorbereitungen für einen Krieg anhört."

May hob die Augenbrauen. Er wusste es nicht.

Doch Rick wählte genau diesen Moment, um sich weiter vorzubeugen.

May wurde dunkelrot und fühlte sich plötzlich, als ob Ascobs wütender Blick sie schon wieder durchbohren würde.

„Und dann wäre da noch unser Hauptproblem", flüsterte er, vielleicht, um nicht doch einer unverzeichneten Kamera zum Opfer zu fallen. Oder einfach, um eine Ausrede zu haben, ihr nahe zu sein. Mays Zunge fühlte sich plötzlich taub und schwer an.

„Achlys."

Sämtliches Blut verließ nun ihre Wangen, sodass sie plötzlich noch blasser als gewöhnlich war.

Seine Augen huschten besorgt über ihr Gesicht.

„Du hast sie also auch gesehen."

„Natürlich habe ich sie gesehen, ich bin ja nicht blind", entgegnete sie schärfer, als beabsichtigt.

Natürlich hatte sie die Spuren gefunden. Man hatte alle Informationen über diese Akte zwar gut verwischt, aber da man weder Rick, noch sie selbst damit beauftragt hatte, waren minimale Hinweise zurückgeblieben.

Genug Hinweise, um sie beide misstrauisch zu machen.

„Denkst du, es stimmt?"

„Was genau?"

„Dass sie einen Anschlag planen."

„Du meinst, er will es nur für sich haben? Als Druckmittel?"

May massierte ihre eiskalten Finger und wiegte den Kopf hin und her.

„Ich weiß es nicht. Er kann nicht einfach alles inszeniert haben, zumindest nicht alleine. Und wenn er die Ressourcen hätte, um uns zu täuschen, dann würde er uns nicht um unsere Hilfe bitten, oder?", gab sie zu bedenken.

Ricks Blick verdüsterte sich.

„Mir gefällt nicht, dass du da mit drinnen steckst, May. Wenn das jemand herausfindet ..."

Sie schnaubte leise.

„Wirklich? Wenn die Hohe hinter diesem Anschlag steckt, Rick, dann weiß ich nicht, was ich tun soll. Verstehst du? Wenn sie das hier tut und sich einbildet es sei Gerechtigkeit", sie rang die Hände, „dann kann ich das nicht mehr."

Er leckte sich nervös über die Lippen.

„Das heißt, du traust es ihr zu?"

Ungläubig schüttelte sie den Kopf über diese Frage.

„Natürlich traue ich es ihr zu. Es sieht auf den ersten Blick nicht nach ihrer Handschrift aus, aber die Farblosen sind ihr genauso ein Dorn im Auge wie der König. Du willst mir doch nicht erzählen, dass du dachtest, sie hätte dem Assassinen ein gerechtes Urteil ausgesprochen, oder?"

Er schüttelte leicht den Kopf, während sie fortfuhr: „Es ging einzig und allein darum, dass der König ihre Macht untergraben hatte. Nicht um den Farblosen, der dabei sein Leben ließ. Sterne, nichts könnte ihr egaler sein als der Tod eines Geists. Sie fände es toll, wenn sie alle verschwinden würden."

„Ich weiß."

Sie atmete zischend aus, starrte vor sich hin und zwang sich dazu, sich zu beruhigen.

„Weißt du, was mich am meisten stört?", fragte er dann mit angespanntem Kiefer und brennendem Blick. „Mich stört, dass wir uns nicht sicher sein können. Die Alessandrinis sind im Grunde alle gleich. Der Kronprinz plant noch irgendetwas, da bin ich mir sicher."

Sie nickte nur.

„Ja. Irgendetwas hat er vor."

„Du weißt auch nichts genaueres?"

„Nein."

Rick schlug frustriert gegen die Tür.

„Geht's noch auffälliger?!", zischte May und der Plasmaentwickler entschuldigte sich leise.

„Also, um es zusammenzufassen: Die Situation eskaliert, Adel und Orden schlagen sich die Köpfe ein, jemand stellt die Weichen für einen Genozid, Julian Alessandrini plant irgendetwas und will, dass wir mitmachen. Klasse", fasste May zusammen und schüttelte langsam den Kopf.

„Warum machst du mit?"

Die Frage war so unverschämt direkt, dass May kurz überlegte, sie einfach zu ignorieren.

„Ernsthaft? Es geht hier um Menschenleben", knurrte sie.

„Ja, und ist das alleine schon den schmerzhaften Tod wert, der dich erwartet, wenn wir auffliegen?"

May hob die Hände zur Betondecke. Er kannte sie zu gut. Er wusste, dass sie Logik über alles stellte, Logik war ihr Fels in der Brandung. Und diese Entscheidung war zu impulsiv für May.

„Er erpresst mich", knurrte sie durch zusammengebissene Zähne.

Rick wirkte ernsthaft überrascht.

„Was? Mit was erpresst er dich?"

„Das geht dich nichts an", erwiderte sie schroff.

Sie musste ganz dringend den Mund halten, wenn sie alles nicht noch schlimmer machen wollte.

Rick wiegte langsam den Kopf hin und her.

„Aber glaubst du gar nicht, dass es Zeit für eine Veränderung ist?"

„Rick", zischte sie.

Er machte in Gedanken diesen einen Schritt weiter, der sie alle in den Untergang reißen würde.

„Nein, nein, hör mir zu. Die Hohe. Miaserus. Das Farbsystem. Ich glaube das ist vorbei, May. Wir sind bereit für einen Neuanfang."

„Ein Neuanfang mit Julian Alessandrini wird wieder in einer Monarchie enden."

May stieg erneut die Röte ins Gesicht, dieses Mal vor Zorn.

„Bist du dir da sicher?" Rick war die Sache absolut ernst.

May warf die Arme in die Luft.

„Willst du jetzt, dass ich dir zustimme? So einen genialen Plan habe ich noch nie gehört. Lass einen unverantwortlichen Zwanzigjährigen, der seine eigene Hochzeit sprengt, indem er sich die Kante gibt und dadurch einen verdammten Krieg auslösen wird, über die letzten Menschen herrschen! Wunderbar!"

„May", zischte er warnend und sie senkte die Stimme wieder.

„Er ist unsere einzige Chance ohne viel Blut eine neue Regierung aufzustellen. Das Volk liebt ihn."

Sie lachte trocken.

„Genau. Alle lieben ihn, aber nur, weil er vor den Interviews ganze Skripte auswendig lernt, okay? Weil jede einzelne Frau in dieser Stadt in ihn verschossen ist. Glaubst du Miaserus würde ihn weiterhin so darstellen, wenn er eine Konkurrenz für ihn wäre?"

Rick vergrub das Gesicht in den Händen.

„Du machst mich fertig."

May atmete tief durch, bevor sie ihn wieder ansah.

„Und was genau soll ich jetzt machen? Er will doch, dass ich irgendetwas für ihn tue."

„Ach so, ja, warte."

Rick zog einen zerknautschten Zettel aus der Tasche.

„Du sollst herausfinden, was die hier bedeuten."

May entfaltete das Papier und runzelte die Stirn, als sie die beiden Skizzen betrachtete.

Sie waren mit derselben blauen Tinte gemalt worden, mit der auch die Nachricht an sie geschrieben worden war.

Zwei Vögel im Flug, nicht identisch, weil sie sich anschauten.

„Was ist das?"

Rick zuckte nur die Schultern. „Das sollst du herausfinden. Und lass dich am besten nicht damit erwischen."

„Alles klar. Was mache ich, wenn ich etwas herausfinde?", fragte May, während sie sich den Zettel unauffällig in den Ausschnitt schob.

„Rick!"

„Hm?", er blinzelte.

„Idiot. Sonst noch was?"

Der Plasmaentwickler wirkte fahrig.

„Was auch immer. Du sollst außerdem die Pläne zu den untersten Laboren ausgraben und herausfinden, wo sich ein gewisser Jack Rieder im Moment aufhält", erklärte Rick weiter. Für einen Moment zog er die Schultern nach oben, doch May schob das auf die Kühle in diesem Gang.

„Klasse."

May war wieder dazu übergegangen ihre Schläfen zu massieren und im Kopf ihren Plan für die nächsten Tage durchzugehen.

Sie würde nicht viel Schlaf bekommen.

„War's das endlich?"

Rick warf ihr einen halb belustigten, halb mitleidigen Blick zu.

„Na ja, du sollst dem Mädchen, das jetzt vor dieser Tür steht – ich zitiere – ‚einen Job, ein Zimmer und etwas Ordentliches zum Anziehen besorgen.'"

May blinzelte, streckte dann langsam die Hand aus und öffnete die Tür.

Tatsächlich stand jemand davor, komplett in Grün und Silber gehüllt.

Ihre Haut war mit Blätterranken und Blütenabdrücken bedeckt.

Sie zeigte ziemlich viel davon, als ob es Hochsommer wäre und nicht Herbstanfang.

Ein billiges Diadem war in ihre ebenfalls komplett grün bemalten Haare geflochten worden.

Sie war außer Atem, wirkte insgesamt etwas fertig.

Ein paar kunstvolle Blätter waren verwischt, ihre Augen klein und Härchen standen von der kunstvollen Frisur ab, die im Mittagslicht, das von draußen hereinfiel, wirkten wie eine Flammenkrone.

„Hallo", sagte sie, während May und Rick sie anstarrten, als ob sie gerade vom Himmel gefallen wäre.

Das Mädchen stützte die Hände in die Seiten, verdrehte die Augen zur Decke.

„Könntet ihr bitte damit aufhören, mir sind gut ein Dutzend Adlige auf den Fersen."

Schritte polterten den Gang entlang.

May und Rick warfen sich einen Blick zu und traten ein Stück zur Seite, sodass die Tänzerin zwischen ihnen hindurch auf die Treppe hechten konnte.

Rick schloss die Tür und keine fünf Sekunden später hörte man fluchende Männerstimmen.

„Wo ist das Biest?"

„Wenn ich die in die Finger bekomme ..."

„Da lang, da ist Farbe an der Wand!"

Ganz langsam wandten sich Rick und May dem Mädchen zu.

„Ähm ... hallo", meinte Rick langgezogen.

May hatte das Gefühl einen ziemlich blöden Gesichtsausdruck zu machen und bemühte sich ihre gleichgültige Maske wieder aufzusetzen.

„Verdammt, das war knapp."

Das Mädchen fächerte sich Luft zu.

Sie war barfuß, stand nur auf den Zehenspitzen, weil der Beton kalt war und musterte May und Rick.

„Und wer seid ihr? Werdet ihr auch von Adligen gejagt?"

„Ähm ...", May hatte das Gefühl, dass Rick heute ziemlich viel herumstotterte.

„... nein, nicht direkt. Ich bin Rick, ich bin Plasmaentwickler für den Adel und das ist May, die Schülerin der Hohen."

Die Tänzerin starrte erst Rick und dann May an, sah sich in dem Treppenhaus um und fluchte laut.

Rick ergriff die Initiative, ließ sein wärmstes Lächeln aufstrahlen und streckte die Hand aus.

„Wie gesagt. Ich bin Rick. Und wie ..."

„Seid Ihr die Eskorte? Arbeitet ihr für den Kronprinz?"

Rick klappte den Mund wieder zu und richtete sich auf.

May trommelte mit den Fingern auf der Wand herum.

Die Unbekannte war ziemlich unfreundlich.

„Mehr oder weniger. Ja", meinte sie und ließ ihren Blick über die zerzauste Gestalt der Tänzerin wandern.

Diese schien sich zumindest etwas zu entspannen, lehnte sich ihrerseits gegen die Wand.

„Okay."

Sie starrte einen Moment lang auf ihre langen Finger, bevor sie zu May und Rick aufsah.

„Ich bin Cress. Schön euch zu treffen."

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