4 - Wolkenmädchen

{Nae und Siva sind die gleiche Person - nur am Rande 🤭}






Als Cress herumfuhr, knallten Naes Stiefel auf den Boden. Die Tochter der Herzdame, die wohl blutrünstigste Frau des Farblosen Bezirks, lächelte zwischen den wilden, weiß gefärbten Locken hervor wie ein Raubtier, das nur Wimpernschläge davon entfernt war seine Reißzähne im Hals der Diebin zu versenken. Siva war wahnsinnig. Hätte sie innerhalb der Stadtmauern gelebt, wäre sie sicher in einer Zwangsjacke geendet. Doch diese Frau hatte das innere der Stadt nie gesehen. Sie war als Farblose geboren worden, anders als Cress. Vielleicht konnte dieser Bezirk nur Monster wie Siva hervorbringen.

"Schattenvogel", schnurrte diese und Cress jagte ein eiskalter Schauer über den Rücken, als hinter ihr fünf weitere Schatten auftauchten. Wie Wölfe jagten Nanas Leute immer im Rudel.

Das fein gestickte, silberne Herz der Gilde zierte die Brust jedes einzelnen Assassinen. Cress schluckte. Seufzte.

"Ich sollte mich wohl geschmeichelt fühlen, dass Nana mir gleich so viele von euch auf den Hals hetzt."

Die Diebin richtete sich auf und bemühte sich, nicht allzu gequält auszusehen. Naes Mundwinkel senkten sich minimal. Es passte ihr nicht, dass ihr Gegenüber ihre Mutter beim Vornamen nannte. Cress bewegte sich auf extrem dünnem Eis, das jeden Moment unter ihr nachgeben konnte. Fast beiläufig schlenderte Siva auf die Diebin zu, ohne den strahlend grünen Blick von deren Gesicht abzuwenden. Hinter Cress lag der scheinbar bodenlose Abgrund.

"Süß."

Siva stach Cress den Zeigefinger in die Brust, was diese dazu zwang, das Gewicht auf ihre Fersen zu verlagern. Ein sanfter Wind strich ihr die Haare aus dem Gesicht, während sie nur ihr Gleichgewichtssinn davor bewahrte, in den Tod zu stürzen. Doch Cress wusste es besser, als auf Siva loszugehen, die eindeutig auf einen Streit aus war.

Die Diebin ließ ihren Blick zu Sivas Begleitern schweifen, immer noch scheinbar unbewegt, während ihre Fersen im Nichts schwebten.

"Was wollt ihr?", fragte sie, während Siva sie anstarrte. Sie hatte damit gerechnet, dass Nana ihr früher oder später jemanden auf den Leib hetzen würde, sobald Keiran die Verhaftung des Assassinen erwähnt hatte. Allerdings wäre eine Verfolgungsjagd quer durch den Bezirk nicht nötig gewesen, während der Rest der Banden um die beiden Kinder konkurrierten.

Cress Herz raste so sehr, dass das Wolkenmädchen es wahrscheinlich an ihrer Fingerspitze fühlen konnte. Doch Siva riss nur in gespielter Überraschung die Augen auf.

"Ach, du bist es gar nicht gewesen? Was für ein schreckliches Miss-ver-ständ-nis."

Bei jeder Silbe landete ihr Zeigefinger wie ein stumpfer Dolch über dem Herzen der Diebin.

Diese schwankte leicht, jetzt an der absoluten Kante.

"Wirfst du Leute immer erst von Hochhäusern, bevor du die eigentlichen Fragen stellst?", ächzte sie nach einem Blick in die Tiefe.

"Witzig wie eh und je", giftete Siva so nahe an Cress Gesicht, als würde sie sie küssen wollen. "Und genauso dumm, wenn du glaubst, dass du mich anlügen kannst."

Cress wandte den Kopf ab, um den Spucketröpfchen zu entkommen, die mit dem Keifen der Assassinin einhergingen. Cress kannte Nae, hatte vor Jahren mit ihr trainiert, doch selbst ein Blinder hätte feststellen können, dass sie mehr als nur wütend war. Sie war außer sich vor Wut, doch weil Cress wusste, wonach sie suchte, wurde auch die Trauer darunter sichtbar.

"Was ist passiert?", fragte sie so ruhig, wie man eben sein konnte, wenn man jeden Moment in einen klaffenden Abgrund geworfen werden konnte. Die Augen der Assassine glühten grün wie gefärbtes Glas, durch das die Mittagssonne fiel, als sie den Kopf neigte und die Diebin mit ihrem Blick durchbohrte.

Cress konnte die Zweifel sehen, die am Rande ihres Bewusstseins auftauchten.

Denn sie hatte Recht - die Diebin war noch nie eine gute Lügnerin gewesen.

Sie standen so nahe zusammen, dass weiße Locken und schwarze Strähnen miteinander tanzten, als eine Windböe über das Dach fegte.

"Sie haben Owen geschnappt."

Cress atmete zischend ein, als sie seinen Namen hörte. Kieran hatte davon gesprochen, dass ein Assassine gefangen worden war, doch sie hatte sich bis zuletzt dagegen gewehrt, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Nanas Goldjunge, hatte der Scharfschütze gesagt.

"Wann?"

Nanas Tochter musterte Cress ein letztes Mal abschätzig, bevor sie wohl zu dem Schluss kam, dass die Diebin wirklich ahnungslos war.

"Gestern Abend", sie trat zurück, sodass Cress aufatmen konnte.

"Er war im roten Bezirk und wurde an der Mauer erwischt."

Kopfschüttelnd und erschüttert trat Cress einen Schritt von der Abbruchkante weg. Ihr Herzschlag verlangsamte sich deswegen nicht. Einen Moment starrte sie vor sich hin, während es in ihren Ohren rauschte.

Wieso ausgerechnet Owen?
Einst war er der beste in seinem Geschäft gewesen, das wusste Cress. Den Erzählungen nach hatte Nana sich in ihn verliebt, nachdem er es geschafft hatte, ihr eine Klinge an den Hals zu setzen. Er war einer von Nanas engsten Vertrauten. Sie hatte ihn gemocht, alle hatten ihn gemocht, was eine ziemliche Leistung war als ehemaliger Auftragsmörder. An manchen Tagen wirkte es, als würde er Vergebung für all die schrecklichen Dinge suchen, die er getan hatte.

Er war derjenige gewesen, der den verängstigten Kindern, die von der Gilde aufgelesen worden waren, Geschichten erzählte. Er hätte sich auch um die beiden Kleinen von heute Nacht gekümmert. Er war zu gut für seine Tätigkeit, den Außenbezirk und erst recht für Nana Shkarah. Cress biss sich auf die Lippe und starrte zu Boden.

"Wieso hat sie Owen in den roten Bezirk geschickt?"

Ihre Stimme zitterte vor Entsetzen.

"Das geht dich nichts an."

Siva wandte sich ab. Allein die Treue zu ihrer Mutter schien sie davon abzuhalten, Amok zu laufen. Ich wusste, was Owen ihr bedeutet hatte. Liebende Väter waren selten geworden im Farblosen Bezirk. Was nur erneut die Frage aufwarf, wieso Nana es gewagt hatte, ihren Lebensgefährten in die Stadt zu senden. Das Risiko, erwischt zu werden, stieg mit jedem Stadtbezirk, den man in Richtung des Palasts wanderte. Es gab nur zwei dokumentierte Fälle, in denen ein Auftragsmord im roten Teil der Stadt, wo die Wissenschaftler und Ärzte lebten, funktioniert hatte wie er sollte. Owen in diesen Bezirk zu schicken, war ein unnötiges Risiko.

Auf wen er wohl angesetzt worden war? Sie holte tief Luft.

"Nae."

Sie hielt inne und neigte den Kopf zur Seite, wobei ihre helle Haut und die Wolkenhaare in der jungen Nacht zu leuchten schienen.

"Es tut mir leid."

Ihre Hände zuckten.

Wahrscheinlich hatte sie die schrecklichen Nachrichten gerade erst erfahren und war direkt losgezogen, um Cress zu finden und vermutlich umzubringen, falls sich deren Verrat bestätigen sollte. Cress kannte die geheimen Routen, die die Mörder der Herzdame ungesehen in die oberen Bezirke brachte, war aber selbst kein Teil der Gilde. Natürlich war sie die offensichtlichste Schwachstelle im eng gewebten Sicherheitsnetz der Assassinen.

Siva warf einen Blick über die Schulter.

Ihre Augen waren erloschen, jetzt, wo sie kein Ziel mehr hatte, auf das sie ihre unmittelbare Wut richten konnte. Trauer machte Menschen schwer, körperlich, wie geistig. Beide Frauen auf dem Dach des Wolkenkatzers wirkten plötzlich um Jahre gealtert.

Ein kurzes Nicken war alles, das Nanas Tochter sich abrang, bevor sie gefolgt von ihren Schatten hinunter in die halbverfallenen Räume des Wolkenkratzers verschwand.

Cress wartete einige Momente, bevor sie ebenfalls die rostige Treppe hinunter und durch die engen Gänge jagte. Owen war geschnappt worden. Sie würden ihn öffentlich exekutieren.

Sie zwang sich, durchzuatmen und die schwarzen Punkte wegzublinzeln. Was war geschehen, dass Nana einen der beiden Menschen, die ihr auf dieser Erde wichtig waren, auf eine so halsbrecherische Mission schickte? Cress hatte jede Menge Zeit nachzudenken, während sie dazu gezwungen war die Metalltreppen zu dem wohl bekanntesten Verbrecherlokal des Geisterbezirks hinunterzusteigen, weil Siva ihr die Flügel gestutzt hatte. Nachtluft trug den Gestank von Müll, Verwesung und Verzweiflung zu ihr hinauf, während über ihr kalte Sterne funkelten. Sterne, die von den Bürgern der Stadt als Götter verehrt wurden. Auch das kleine Mädchen an der Mauer hatte noch an sie geglaubt, hatte ihr Lied an diese fernen Lichter gerichtet, in der Hoffnung, dass sie auch in der dunkelsten Nacht den Weg zu einem besseren Morgen weisen würden.

Cress nahm Anlauf und übersprang einen drei Meter großen Spalt zwischen zwei Treppen.

Für sie waren die Sterne nur schöne, kalte Lichtpunkte in der Finsternis. Es gab keine Götter an diesem Ort. Wenn es je welche gegeben hatte, dann hatten sie sich schon lange voll Kummer von den Geisterbezirken und all ihren Gräuel abgewandt. Die Diebin biss die Zähne so fest zusammen, dass es weh tat. Auch wenn sie nicht die Wut der Sterne fürchtete, hätte sie Owen nie verraten. Es gab durchaus Menschen, die sie für die richtige Geldmenge ausliefern würde, doch Owen war keiner davon. Außerdem grenzte ein Verrat an Nana Rouge ohnehin an Selbstmord. Allein die Tatsache, dass man Cress diesen Wahnsinn zutraute, sagte viel über ihren Ruf in diesem Teil der Geisterbezirke aus. Es begann zu regnen, als sie durch ein menschengroßes Loch in der dicken Mauer des Gebäudes hinaus auf die Straße trat. Während im geSamten farblosen Bezirk die Menschen panisch Schutz vor dem giftigen Wasser suchten, hob Cress nur die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf, streifte eine Schutzbrille über, zog ihre Atemmaske fest und trat hinaus auf die menschenleeren Straßen. 

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