25 - Verschwunden

Die aufgehende Sonne glühte rot wie die Kohlen eines schwelenden Feuers über den Geisterbezirken, als Cress blinzelnd die Augen öffnete. Sie war auf dem zweiten Bett des Zimmers, das für die wenigen Passagen, die die Clubs beherbergten, reserviert war, eingeschlafen. Einen Moment lang war Cress nicht klar, was sie geweckt hatte, bis ihr Blick auf das am Fenster stehende Kind fiel. Gabriella hatte die Arme um den dünnen Körper geschlungen.
Die Schatten der Gitter vor dem Fenster malten harte Linien über ihre Gestalt, die das flackernde Licht durchschnitten wie Striche dunkler Farbe. Cress ließ ihre Decke auf die Matratze gleiten und schwang die Beine über die Bettkante. Der Kopf des Kindes fuhr zu ihr herum. Mit zwei großen Sätzen war das Mädchen zurück auf dem Bett und hatte sich gegen die Wand gepresst. Nun schlug der Junge ebenfalls die Augen auf.

„Ich bin es", setzte die Diebin so sanft an, wie sie sonst mit niemandem sprach, „Cress."

Der Junge rieb sich über die Augen, völlig desorientiert.

„Ihr kennt mich beide. Ich tue euch nichts."

Noah und Gabriella bewegten sich nicht.

„Du bist die Frau aus dem Kronleuchter", stellte der Junge dann fest, „Die, die Monster getötet hat."

Gabriella schnappte nach Luft, als würde sie sich gerade erst wieder daran erinnern, wie sie die Diebin getroffen hatte. Sie musste in ihrer Mülltonne gehört haben, wie diese gegen die Cyborgs gekämpft hatte, wenn Cress sogar ihr leises Wimmern wahrgenommen hatte.

„Ja", machte der Schatten des Kreuzbuben unsicher, „Das bin ich." Sie musste zugeben, dass die beiden einen ziemlich erbärmlichen Eindruck machten, trotz Maries Arbeit.

„Hast du hier geschlafen? Die ganze Zeit?", fragte Gabriella misstrauisch. Cress nickte, bevor ihr auffiel, dass keiner der beiden sie sehen konnte. „Habe ich", bestätigte sie, „Um aufzupassen, dass ihr nicht noch einmal Krämpfe bekommt. Sind die Schmerzen noch da?"

Das Mädchen schob das Kinn vor und bestätigte leise.

„Lasst mich sehen, ob ich Euch noch etwas dagegen besorgen kann", schlug die Diebin vor und erhob sich.

Doch als sie hinaus auf den Gang trat, kroch eine dunkle Vorahnung in ihr hoch. Die Tür zur Passagenkammer war dick genug gewesen, um den stechenden Geruch nach Rauch auszusperren, der den Gang erfüllte. Cress beschleunigte ihre Schritte, zog sich ihre Maske über und trat letztendlich hinaus auf den im grauen Morgenlicht daliegenden Innenhof. Von der Quarantänehütte waren nur ein paar verkohlte Balken übriggeblieben, die in der kühlen Morgenluft noch vor sich hin schwelten. Cress starrte auf die kläglichen Überreste der Hütte. Die Diebin verstand auf den ersten Blick nicht, was sie sah.

Was war heute Nacht geschehen? Wo war Marie? Und was war mit dem Fremden geschehen?

„Morgen, Schattenvogel", grüßte man sie, während sie zu den schwelenden Balken trat. Der Mann war fort. Alles, was zurückblieb, war langsam abkühlende Asche, in der ein Trupp Clubs herumstocherte. Cress fuhr auf dem Absatz herum und verschwand zurück in das Hochhaus.

„Wo ist Marie?", bellte sie die geschwätzige Assistentin der Heilerin an, die nur ängstlich auf einen der Vorhänge zeigte. Cress riss diesen zurück, ohne Rücksicht zu nehmen. Die Heilerin war dabei, Jens Regenbrand in Augenschein zu nehmen.

„Was ist passiert?", fragte sie, ohne das verletzte Clubs Mitglied zu beachten. Marie fing den Blick der Diebin auf und schüttelte leicht den Kopf.

„Marie", verlangte Cress, „rede mit mir!" Sie konnte nicht fassen, dass sie das Feuer einfach verschlafen hatte. Marie ließ ihre Handschuhe auf einen Beistelltisch fallen, entschuldigte sich knapp bei Jen und schob den Vorhang an seinen angestammten Platz zurück. Die Diebin folgte ihr auf dem Fuß.

„Cress", sie packte den Schatten des Kreuzbuben am Handgelenk und zog sie hinter sich her in die Küche des Lazaretts, „Niemand darf davon erfahren."

Der Fernseher lief. Magda, die augenscheinlich gerade die Reportage darauf verfolgt hatte, verschwand mit schuldigem Gesichtsausdruck zur Tür hinaus.

„Wo ist er?", flüsterte Cress hitzig, sobald die geschwätzige Assistentin außer Hörweite war, „Was haben sie mit ihm gemacht?"

Marie hob die Hände.

„Sie haben ihn mitgenommen und alles verbrannt", erklärte die Heileirn, „Aber mit sie meine ich nicht die Clubs."

„Wen meinst du dann?", Cress Stimme war mehrere Töne höher als gewöhnlich. Die Stimme der Heilerin zitterte. Sie schien kurz davor, einen Nervenzusammenbruch zu erleiden.

„Du darfst nicht schreien. Nicht ausrasten."

Cress warf die Hände in die Luft, bevor Marie auf den Bildschirm deutete. Verständnislos und zunehmend überzeugt, dass ihr Gegenüber zu viel Rauch eingeatmet oder zu wenig geschlafen hatte, folgte Cress dem Wink der Heilerin.

Es lief nichts Besonderes. Nur irgendein Interview mit den gewohnten öffentlichen Vorzeigekindern der Stadt.

Doch der Typ, der auf dem Bildschirm gerade mit ausdruckslosem Gesicht neben der Königin saß ...

Cress Mund klappte auf vor Überraschung. Plötzlich hatte sie das Gefühl in ein dunkles Loch zu fallen. Das konnte ganz einfach nicht wahr sein.

Schnitte zu einem Ball in einem Saal voller Kristalllüster und den wirbelnden Kleidern der adligen Frauen flimmerten unnatürlich groß auf dem Bildschirm.

Wieder eine Nahaufnahme des Kronprinzen, der in einer marineblauen Uniform mit einem Mädchen tanzte.

Mit sie hatte Marie nicht die Clubs gemeint. Sie hatte von den Adligen gesprochen.

„Er hat eine Plasmamaske getragen", wisperte Marie, „deswegen hast du ihn nicht erkannt. Ich habe es erst später bemerkt."

Kopfschüttelnd starrte die Diebin auf den Bildschirm, wo der Kronprinz ein gewinnendes Lächeln in die Kamera warf. Ihr Mund stand immer noch offen, während sie zu verarbeiten versuchte, was sie sah.
Unfassbar, dass sie es nicht sofort gesehen hatte. Seine Haarfarbe war anders, er hatte garantiert nicht diese strahlend blauen Augen gehabt, das gesamte Gesicht passte nicht.
Was passte, war der Körperbau.
Die Haarlänge.
Er hatte die Hand gehoben, nur ganz kurz, um sich eitel durch die gesunden, dunkelblauen Haare zu fahren. Das reichte, um die ebenfalls dunkelblaue Tinte an seinem Handgelenk unter dem Hemdärmel auftauchen zu lassen. Nur für einen verräterischen Moment.
Das Tattoo, das dem ihren so ähnlich war. Wie konnte es sein, dass ihr das erst jetzt auffiel?
Hilfesuchend sah Cress zu der Heilerin, die ihrerseits kurz davor schien, durchzudrehen.

„Was?!", brach es aus Cress hervor, bevor Marie sie wild gestikulierend zur Ruhe ermahnte. Die Diebin kam die paar Schritte zu der Heilerin herüber und beugte sich vor.

„Du willst mir sagen, dass", sie deutete auf den Bildschirm, „der Suffkopf von gestern ... der Sohn des Königs ist?"

„Es hört sich verrückt an, ich weiß", Maries Augen huschten zur Tür, „Sie hätten mich weggesperrt, wenn ich mit der Geschichte angekommen wäre. Du bist die einzige, die mir glauben muss."

Cress verbarg das Gesicht in den Händen, während Marie auf und ab tigerte.

„Ich habe ihnen erzählt, es wären Pechfinger gewesen. Ganze Horden von Clubs durchkämmen gerade die Umgebung."

Die Diebin ließ sich auf einen Klappstuhl fallen und vergrub erneut das Gesicht in den Händen.

„Scheiße", Cress lehnte sich zurück, um Marie ansehen zu können, „Wieso bei den Sternen hast du mich nicht geweckt?"

Maries Gesichtsausdruck veränderte sich. Sie warf einen Blick den Gang hinunter, bevor sie vor dem Schatten des Kreuzbuben in die Hocke ging.

„Er weiß es, Cress", wisperte Marie, so nah, dass Cress ihren Atem riechen konnte, „Er weiß, dass du fort warst. Hat nach dir gesucht heute Nacht, noch während alles brannte. Ich denke nicht, dass er noch denkt, dass du hier bist."

Angst, die nichts mit der An- oder Abwesenheit des Adligen zu tun hatte, schoss durch die Diebin. Ihre Gedanken erlahmten, ihr Herz setzte einen Schlag aus, während Maries Worte ihre Bedeutung entfalteten. Hatte Chiby geredet? Sie hatte gedacht, dass er genug Respekt vor ihr hätte, genug Angst, um den Mund zu halten.

„Wer hat es ihm gesagt?", hauchte Cress, erntete aber nur ein Schulterzucken. Plötzlich fühlte sie sich wie auf dem Servierteller, völlig schutzlos. Wie konnte sie hier sitzen, wenn der Kreuzbube sie suchen ließ? Wieso hatten die Männer bei den Überresten des Schuppens sie nicht sofort eingefangen?

„Ich muss gehen", flüsterte Cress, mehr zu sich selbst, als zu der Diebin, „Ich muss gehen."

Da war kein Mitleid auf Maries Gesicht, als sie nickte. Cress kam auf die Beine, rechnete damit, dass Stimmen den Gang hinunterkamen, dass der Kruezbube selbst jeden Moment wieder die Hand um ihre Kehle schließen würde.

„Nimm die Kinder mit", verlangte Marie. Cress fuhr noch einmal zu ihr herum, einen so geschockten Gesichtsausdruck auf den Zügen, dass die Heilerin unter normalen Umständen gelacht hätte.

„Der Junge überlebt keine Woche bei Kieran", erklärte Marie, „Etwas stimmt mit seinen Knochen nicht. Ich kann keine Probe nehmen und untersuchen, aber er ist definitiv krank."

Wortlos, fassungslos, starrte Cress ihr Gegenüber an. Bat Marie sie wirklich um das, was sie gerade gehört hatte? Sie sollte zwei blinde Kinder durch den farblosen Bezirk schleifen, während die Clubs in den Straßen nach dem Kronprinzen suchten? Es würde schon schwer genug werden, alleine durchzukommen. Sie musste sich nicht auch noch zwei Zielscheiben auf den Rücken schnallen.

„Du bist verrückt geworden", flüsterte Cress, „Vollkommen verrückt. Wenn die Kinder verschwinden, fällt das auch auf dich zurück."

Marie zuckte die Schultern.

„Nicht, wenn man mich bewusstlos findet."

Cress schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Zeit mehr. Die Clubs, die gerade noch ihre Familie gewesen waren, würden sie erwischen, wenn sie noch länger blieb. Draußen donnerte es. Doch es war nicht der Donner, sondern die Stimmen an der Vordertür, die ihr einen Schauder über den Rücken jagten.

"Ich muss gehen."

Maries Blick bohrte sich in ihren Rücken, während Cress den Gang hinunter verschwand.

„Cress", rief sie mich zurück, nachdem sie sichergestellt hatte, dass niemand in Hörweite war, „du hast sie von der Straße gerettet. Willst du wirklich, dass sie deinen Platz einnehmen? Willst du Gabriella bei ihm lassen?"

Sie sprach die tiefen Zweifel aus, die in meinem Kopf rumorten. Die Heilerin warf einen Blick in Richtung ihrer Pforte, wo jemand sturmklingelte. War es der Kreuzbube selbst?

„Geh'", befahl sie leise.

Kalter Schweiß brach Cress aus, während sie sich entfernte. Die Tür, hinter der die Kinder geschlafen hatten, stand einen Spalt breit offen. Obwohl sie es sich nicht leisten konnte, hielt Cress einen Moment lang inne. Sie musste noch einmal hineingehen, um das Schwert zu holen, das sie unter einem losen Dielenbrett verborgen hatte. Die Fetzen eines Liedes wehten hinaus auf den Gang. Gabriella sang das Wiegenlied, mit dem sie an der Mauer versucht hatte, ihren Bruder zu beruhigen. Einen Moment lang bohrte sich Cress Blick in das Holz der Tür. Wieder krachte hoch über ihren Köpfen der Donner. Dann schob sie die Tür auf und trat ein. Das Fenster war offen und Wind ließ die formlose Kleidung der Kinder wild flattern.

„Ich bin es", sagte sie, kniete sich auf den Boden und hob das Brett an. Wie vom Donner gerührt starrte die Diebin in den Hohlraum darunter. Sie fühlte sich, als hätte man sie mitten in einen verdrehten Albtraum geworfen, aus dem sie jede Sekunde erwachen würde. Die sorgSam in schwarz eingeschlagene Klinge aus der Sammlung des Wissenschaftlers, wegen der Cress jetzt vor dem Kreuzbuben fliehen musste, war wie vom Erdboden verschluckt. Panisch tastete sie mit der Hand unter der Diele herum, hoffte, irgendetwas übersehen zu haben. Doch da war nur Holz, kein Metall. Das Schwert war verschwunden.

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