19 - Das stille Haus
Der Gestank der Katakomben könnte einen wirklich glauben lassen, dass man in den verrottenden Eingeweiden der letzten Stadt herumlief.
Einen dunklen Mundschutz auf dem Gesicht, die Kapuze gegen die feuchte Kälte über den Kopf gezogen, stapfte sie durch den schwarzen Schlamm. Sie hatte sich durch Gitterstäbe gezwängt, war durch Rohre gekrochen, durch die ein großer Erwachsener nie im Leben gepasst hätte und war jetzt von Kopf bis Fuß in giftigen Schlamm gehüllt.
Es gab mehrere Chemiefabriken am Rand des Roten Bezirks. Sie alle mussten zwar in Anbetracht dessen, dass die Stadt auf so kleinem Raum stand und man diesen nicht unbedingt verseuchen sollte, ihre Abfälle recyceln, aber letztendlich scherte das keinen von ihnen. Man pumpte das toxische Wasser und die mutagenen Abfälle einfach grob in Richtung der Außenbezirke und dachte nicht weiter darüber nach.
Der Geisterbezirk war zur Müllhalde der letzten Stadt geworden. Alles, was nicht mehr gebraucht wurde, einschließlich der Menschen, die Probleme machten, wurde dort abgeladen und vergessen. Ironischerweise befand sich irgendwo dort draußen eines der teuersten Artefakte unter der Sonne. Der alte Sarg der Hohen, riesig, wunderschön und zu einhundert Prozent aus Caz Kristall.
Cress war gerade sechzehn Jahre alt geworden, als sie damals noch für eine andere Gang des farblosen Bezirks in den Kern geschmuggelt worden war, um den der Hohen ausfindig zu machen. Nach monatelanger Planung hatten sie es geschafft, das heilige Artefakt aus den äußeren Mienen des Ordens zu schmuggeln und in den farblosen Bezirk zu bringen. Die folgenden Wochen waren schrecklich gewesen, denn die Hohe hatte alles darangesetzt, die Diebe ihres Sargs dingfest zu machen.
Die Soldaten, die die Hohe mit dem Einverständnis des Königs in die Außenbezirke entsandt hatte, hatten Cress und die anderen zwar nicht erwischt, doch waren viele Farblose festgenommen worden.
Zwei hatte man öffentlich exekutiert, denn Caz Kristall sollte man nirgendwo außerhalb der Kontrollsphäre des Ordens aufbewahren. Auch in den dunkelsten Tiefen des Schwarzmarkts der Geisterbezirke, wo laut Hörensagen sogar ein Goldzahn des Königs verhökert worden war, fand man keine Spur der heiligen Steine, die der Hohen und den Sternenpriestern ihre Macht verliehen.
Der Orden schöpfte seine Macht aus den Caz Kristallen, die dessen Oberster übermenschliche Kräfte verliehen. Rya Hora konnte die scheinbar kristallinen Steine in schimmernde Fasern auflösen, sie als Schmuck tragen, wenn sie wollte. Einem Angeklagten vor dem obersten Gericht wurden Caz Kristallfesseln angelegt, die es der Hohen erlaubten, jede Lüge zu durchschauen und darauf basierende Urteile zu fällen.
Durch irgendeinen Trick, irgendeine Manipulation des Kerns, die man als ein von den Göttern geschicktes Wunder verkaufte, lebte die Hohe immer exakt einhundert Jahre ab dem Tag ihrer Ernennung, ohne vom Alter mehr als gestreift zu werden. Ewig konnten sie ihre Götter allerdings wohl nicht beschützen, denn nach dem Verstreichen dieser Zeitspanne starb die oberste Priesterin.
Der Gedanke versetzte ihr einen Stich, der ihr bis ins Mark fuhr.
Sie durfte nicht an so etwas denken, wenn sie auf der Jagd war.
Eine Treppe hinauf. Sie stemmte die Schultern gegen einen Gullideckel und tauchte aus dem Untergrund auf.
So leise wie möglich ließ sie das Metallgitter zurück an seinen Platz sinken und huschte dann an der Hauswand entlang über die Straße.
Der rote Bezirk war so anders. Aufgeräumt, mit süßen Vorgärten, Balkonen und Markisen vor den Cafés. Sie befand sich im reichsten Teil dieses Farbbezirks.
Eine Todesfalle für Farblose.
Hier lebten hauptsächlich Ärzte, Wissenschaftler in der medizinischen Forschung und andere, noch präziser spezialisierte Mediziner.
Keiner von ihnen hatte die Zeit, sich um einen Garten zu kümmern. Das taten die gelben Dienstboten, die man sich in diesem Bezirk bereits leisten konnte.
Ein Schaukelpferd auf einer Terrasse fiel ihr ins Auge.
Es gab Kinder hier, keine verlorenen, gepeinigten kleinen Menschen, sondern solche, die von ihren Eltern und einer ganzen Familie aufgezogen wurden.
Den Neid, der sich wie eine Schlange in ihr wand, musste sie genauso verdrängen wie die Erinnerungen.
Konzentration war der Schlüssel zu ihren Fähigkeiten.
Sie wollte nicht wie Owen enden.
Die Dunkelheit war ihr Freund, als sie durch den Roten Bezirk strich, genau zwei Straßen weiter.
Das Haus, in das sie einbrechen sollte, lag am nördlichen Ende der Stadt.
Es war unauffällig, fügte sich perfekt in die roten Dächer ein, hatte aber einen besonders großen Garten.
Kein Licht in den Fenstern.
Kein Kinderspielzeug im Garten.
Sie kannte den Grundriss, hatte sich jedes Zimmer so lange angesehen, bis sie den Plan auswendig konnte.
Dr. Fabian Rieder, der Rote, den sie heute bestehlen würde, hatte schärfere Sicherheitsvorkehrungen getroffen, nachdem man die ersten beiden Diebe hier erwischt hatte. Owen hatte es nicht so weit geschafft. Er war direkt an der Mauer erwischt worden, noch auf dem Weg zu seinem Auftrag.
Cress umrundete das Nachbarhaus und hätte sich ohne ihre Handschuhe die Hände aufgeschürft, als sie über Fensterbretter, die Dachrinne und einen Balkon hinauf auf die roten Dachziegel kletterte. Trotz der Tatsache, dass sie jede Sekunde hier in größter Gefahr schwebte, musste sie einen Moment innehalten, als sie dort oben stand.
Sie war der Erde so nahe und doch konnte sie weit sehen. Über die hell erleuchteten Bezirksgrenzen hinaus, bis in das Herz der Stadt, das sich hell erleuchtet gegen den tintenschwarzen Nachthimmel abzeichnete. Der blaue Palast und die weißen Türme des Ordens strahlten selbst mitten in der Nacht.
Unbändiger Hass kochte in der Diebin hoch, so beißend, dass sich jeder Muskel in ihrem Körper anspannte.
Der König und seine Soldaten hatten ihr alles genommen. Immer noch brannte diese Gewissheit so hell in ihr, dass sie, obwohl sie jetzt schon in unwahrscheinlicher Gefahr schwebte, am liebsten quer durch die Stadt geprescht, unter den Grenzen hindurch geschlüpft und wie ein vergifteter Dolch direkt in das Herz der Stadt vorgestoßen wäre. Doch das war unmöglich.
Sie hatte den Sarg der Hohen aus dem Herz stehlen können, weil sie Menschen ausgenutzt und verraten hatte. Alleine und auf ehrlichem Weg hatte man überhaupt keine Chance, in welcher Weise auch immer gegen den König vorzugehen. Die Welt ar nicht gerecht. Vielleicht wäre es gnädiger, sich einfach damit abzufinden.
Langsam wandte Cress sich wieder ihrem Auftrag zu, jetzt wach und voller Tatendrang. Vier grüne Wachposten, Bodyguards für einen besonders talentierten Wissenschaftler wahrscheinlich, lehnten in den Schatten.
Einer spielte mit sich selbst Karten. Ein anderer lehnte an seiner Waffe und schien zu dösen.
Cress schmunzelte.
Sie machte ein bisschen Lärm in einer Seitengasse und wartete, bis sie nacheinander nachsehen kamen.
Der Schattenvogel hangelte sich lautlos die Fassade hinunter.
Der, der Karten gespielt hatte, fluchte leise vor sich hin, wahrscheinlich, weil er bei einer besonders interessanten Partie gegen sich selbst unterbrochen worden war. Die Diebin stand auf dem Fensterbrett direkt über ihm, zückte das Blasrohr und jagte ihm einen Betäubungspfeil in den Nacken. Er schlug danach, wie nach einem lästigen Tier, sah sich irgendwann um und fand nur das Fenster hinter sich, bevor er auf den Asphalt kippte.
Sie zog ihn in die Schatten.
Der zweite fiel ebenfalls Maries Tinktur zum Opfer. Knapp wurde es erst, als die anderen beiden unerwartet schnell und zusammen um die Ecke bogen. Doch bald schliefen sie alle selig.
Cress war zurück auf dem Dach des Nachbarhauses, zog die kleine Armbrust von ihrem Rücken und legte einen Bolzen ein.
Dank der Pläne des Sternenpredigers wusste sie genau, wie viele Kameras es dort gab. Wie kleine silberne Augen saßen sie auf der Hauswand. Cress hatte darauf geachtet in den Schatten und zwischen den angrenzenden Häusern zu bleiben. Für jeden, der die Aufnahmen betrachtete, musste es so aussehen, als wären die Wachposten einfach nicht mehr zurückgekommen.
Zerstörte man eine Kamera, löste man einen Alarm aus.
Doch all diese High Tec Augen waren auf die Straße gerichtet, blind für das, was über ihren Köpfen passierte.
Die Wucht des Schusses trieb den Bolzen tief in die Hauswand, knapp unter der Dachrinne. Cress hatte exakt bis zum Mitternachtsschlag gewartet, sodass der dumpfe Aufprall darin unterging.
Sie überprüfte die Verankerung, die sie zuvor in die Wand des Nachbarhauses getrieben hatte, bevor sie alles unnötige Ballast auf den in der Nacht grau scheinenden Schindeln zurückließ.
Die Diebin bemühte sich, ihren Atem gleichmäßig fließen zu lassen und setzte einen Fuß auf das Seil. Die Rolle nutzte ihr ohne Gefälle wenig. Jemand, der sich nicht an die Ausgangssperre hielt, würde das Seil wahrscheinlich für ein besonderes Stromkabel halten, das der Wissenschaftler für irgendetwas brauchte.
Cress hob den zweiten Fuß vom Dach, breitete die Arme aus und schwebte über den Abgrund. Nicht mehr als ein Schatten.
Mit jedem winzigen Schwanken fühlte sie sich lebendiger. Es dauerte nur Atemzüge, bis sie am anderen Ende angelangt war und sich zum ersten Fenster von oben hinuntergleiten ließ, schnell und leise wie ein Atemzug.
Es war ziemlich gut gesichert, doch schon bald sprang sie in die Dunkelheit des leeren Gästezimmers. Frische, unberührte Lacken und ein goldgerahmtes Gemälde an der Wand fielen ihr ins Auge.
Der Besitzer war reich, aber nicht so reich, dass es verdächtig wäre für einen Roten.
Sie huschte eine Treppe hinunter.
Der Adrenalinkick war da, machte ihre Sinne scharf, ihren Puls schnell und sie effizient. Die Bibliothek lag zwei Stockwerke tiefer. Stumm passierte sie die Etage mit den Schlafzimmern.
Als Cress in den zweiten Stock kam, wusste sie, dass etwas nicht stimmte.
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