18 - Morgensonne
Der nächste Morgen war kühl, aber klar, als ob die Sterne Mays Gedanken reinwaschen wollten. Sie war mit ihrer Mutter zur Messe gegangen, die kaum mit ihr gesprochen hatte. Schwer enttäuscht von ihrer Tochter hatte sie den Kopf gesenkt. Das Schlimmste aber waren die Blicke der anderen Weißen, die May und ihre Familie mit solcher Verachtung bedachten, dass sie sich am liebsten in Luft aufgelöst hätte. Da Messe war, wie jeden Morgen, konnte sie sich nicht verstecken.
Treppen und Stege führten sie hinauf auf den Laureline Berg. Ginsterbüsche, Heidekraut und andere, kleine Gewächse säumten den einzigen Weg, der über den unnatürlich kahlen Berg führte. Moos wucherte hier und da auf dem Fels, aber die meisten Pflanzen mieden diese Anhöhe. Wahrscheinlich, weil sie der Sonne zu ausgesetzt war, die die Wettermacher an den meisten Tagen über dem Palast erstrahlen ließen.
Das hier war heiliger Boden. Denn unter einer dünnen Schicht ausgebleichtem Fels ruhten Tonnen heiliger Steine unter ihren Füßen. Bis tief hinein in die Erde waren sie damals gerammt worden, als der Stern Laureline vom Himmel herabstieg, um sich für die Menschen zu opfern. Die Wahrheitssteine waren aus den Blutstropfen erblüht, die der Stern auf die damals schrecklich wilde Erde vergossen hatte. So wurde es in den Schriften des hohen Ordens erzählt. May kannte die Geschichte schon so lange und gut, dass sie jeden Satz wortgetreu wiedergeben konnte.
Kraft soll sein, wo ich leide.
Auf dass die Menschheit sich erhebe aus der Asche
Zu altem Glanz und neuer Würde.
Als May das Heiligtum betrat, starrte man sie und ihre Mutter noch finsterer an, als zuvor. Doch sie verfiel deswegen nicht in Angstzustände. Der Weg über den heiligen Berg hatte letztendlich seinen Zweck erfüllt und sie ruhiger gemacht, bereit sich zu öffnen und Kontakt zu ihren Göttern zu suchen.
Die Macht der Sterne schien mit dem Gesang des Chors zwischen den hohen Säulen des halbmondförmigen Baus widerzuhallen, wie flüssiges Silber. Hoch über ihr kreuzten sich die gen Himmel laufenden Streben zu einem Dach, durch das der Morgenhimmel schien. Der Raum, in dem sie jeden Tag mindestens zwei Stunden verbrachte, war zur Stadt hin offen, sodass Wind hindurchfegen und die weißen Mäntel der versammelten Gläubigen aufwirbeln konnte, wie Schnee. Der Orden brauchte kein Gold, keine Statuen und keine Bilder, um seinen Glauben auszuleben. Nur den Himmel und die Worte der Hohen.
Rya stand mitten in der Luft dort, wo der Mittelpunkt des Kreises gewesen wäre, der dem Heiligtum zu Grunde lag. Zwischen ihr und dem Orden lagen zwei Meter Leere. Man verstand sie trotzdem überall, als sie mit der Messe begann.
Kein Wort über das, was geschehen war.
Nur die Worte der Prophetin Eda, die kühlen Finger des Winds und Rya Horas Stimme, die die Gedanken aller Anwesenden beruhigte. Der Glauben gab ihnen Sicherheit, Geborgenheit. Er war eine Insel in dem Chaos, in das sich die Welt um sie herum verwandelt hatte.
Die Hohe erzählte heute von Laurelines Kindertagen und ihrem Blick auf die Erde, nachdem die Götter ihrer Schöpfung jahrelang freien Lauf gelassen hatten. Sie hatten sich von den Menschen abgewendet, die sich lieber gegenseitig umbrachten, als den Blick zu ihren Schöpfern, den Sternen, zu erheben und dankbar für jeden Atemzug zu sein. Die junge Prinzessin würde sich opfern, um die Menschheit vor sich selbst zu retten. Aber soweit waren sie in der Lektüre der Ordensschriften zu diesem Jahreszeitpunkt noch nicht fortgeschritten.
May murmelte die Worte vor sich hin, während die Hohe die Messe verlas. Es würde nicht Rya Hora sein, die diesen Jahreszyklus beenden würde, sondern deren Nachfolgerin, die in dem Moment, in dem Ryas einhundert Lebensjahre aufgebraucht waren, durch die Sterne erwählt wurde. Die sterbende Hohe nannte ihren Namen. Dieser Übergang, diese wenigen kostbaren Momente, war das wichtigste Ritual des Ordens. Nicht jeder erlebte eine Silbernacht, in der die Macht der Sterne von einem gesegneten Menschen auf einen anderen überging. Obwohl May Angst davor hatte, ihre Mentorin zu verlieren, konnte sie die freudige Erwartung nicht unterdrücken, die sie bei dem Gedanken befiel, an etwas so Heiligem Teil zu haben. Und danach ihre Aufgabe als Assistentin der Hohen zu erfüllen: Das Einweisen der neuen Erwählten in ihr Amt.
Während der Meditation, die sich an jede Lesung anschloss, ließ May den Blick durch die Ränge gleiten. Niemand beachtete sie mehr. Ryas bestimmtes Fortsetzen ihrer Routine hatte alle zumindest für den Moment daran erinnert, dass zwar die weltliche Ordnung einen Knacks bekommen hatte, sich die Götter nach Laurelines Opfer aber nie wieder von den Menschen abwenden würden. Sie waren nicht alleine. Alles würde gut werden.
May stockte, als ihr Blick an einem der Ränge hängenblieb. An der in blau gekleideten Person, die auf dem Gästerang stand und die Meditation beobachtete.
Als hätte sie ihren Blick gespürt wandte Dominique d'Alessandrini-Casanera den Kopf, um May anzusehen. Die Prinzessin war in letzter Zeit erstaunlich oft hier. So schnell, wie sie Mays Blick bemerkt hatte, wandte sie sich auch wieder ab. Da bis auf May und Dominique alle die Augen geschlossen hatten, um zu meditieren, bemerkte niemand die Tränen der Kronprinzessin.
Die Schülerin der Hohen war erschüttert. Sie wandte sich ab, weil sie nicht unhöflich sein wollte und schloss wie die anderen Weißen die Augen, aber zur Ruhe fand sie jetzt nicht mehr zurück. Die älteste Königstochter besuchte einen Gottesdienst. Und sie weinte.
Die Stille dröhnte in Mays Ohren wie Donner, während der kühle Wind, der aus der Stadt nach oben strich, ihr über die Wangen fuhr. Die Verletzlichkeit, die die Königstochter an den Tag gelegt hatte, verstohlen, als wäre es etwas Verbotenes, hatte May getroffen wie ein Hammerschlag.
Sie wollte Helfen. Eine ihrer Hauptbestrebungen und der Grund, aus dem sie Medizin studieren wollte.
Es wäre unhöflich, nachzuhaken. Sie sollte die Prinzessin einfach in Ruhe lassen, schließlich war das Heiligtum ein Refugium für Gläubige. Zumindest für ein paar Momente konnte man der Welt dort draußen entkommen.
„Et per eternitatem", schloss die Hohe die Andacht.
„Et per eternitatem", echote die Menge.
Inzwischen waren die Sterne am Himmel verblasst und der neue Tag vollkommen über die letzte Stadt gekommen. Die Weißen strömten aus dem Heiligtum und traten ihren Rückweg über Laurelines Berg an. Jemand stimmte ein Lied, leicht und klar. May ließ sich Zeit, bis sogar die Hohe durch das Tor hinaus in die Morgensonne getreten war.
Es dauerte, bis die Prinzessin von ihrem Rang herunterstieg. Ihre Augen waren rot geädert, aber nicht so sehr, dass es übermäßig aufgefallen wäre.
May richtete sich auf.
„Eure Hoheit", sie knickste.
Dominique war blass, weniger kraftvoll, aber genauso streng wie sonst.
„Guten Morgen, May Silencia", grüßte sie.
Sie wäre wahrscheinlich sofort verschwunden, wenn May sie nicht weinen gesehen hätte.
„Ich hoffe, Stille und Gebet haben euch geholfen", sagte May aufrichtig.
Dominique lächelte nicht, schlug nur geringschätzig die Augen nieder.
„Die Sterne werden mich leiten. Ich habe vollstes Vertrauen in sie und die Herrin."
Dominique zupfte ihre Handschuhe zurecht.
„Wenn ich Euch um etwas bitten dürfte."
„Eure Hoheit?"
„Erzählt bitte niemandem, was ihr gesehen habt."
Sie erklärte sich nicht. May nickte nur.
„Dies ist ein Ort der Sicherheit für alle Gläubigen. Was hier geschieht findet seinen Weg über den Berg nicht, Prinzessin."
Dominique nickte, wandte sich ab und schritt auf den Ausgang zu, scharf umrissen von der Morgensonne.
„Eure Majestät", hielt May sie sanft zurück.
Dominique wandte sich noch einmal um.
„Nicht nur Sicherheit findet ihr hier. Wenn ihr Hilfe braucht, seid ihr auch an den richtigen Ort gekommen."
Es war ein Angebot, zuzuhören. Ein Angebot, dass der Orden vielen machte, jenseits von Politik und Machtspielen. Kein Wort, dass man im Heiligtum wechselte, würde hinausgelangen. Wenn doch, würde die Ordensdame, die die Geheimnisse der Sünder verriet für immer in Schande leben. May war als Assistentin der Hohen befugt, die Beichte abzunehmen.
May konnte sehen, wie die Königstochter zögerte, scheinbar einen Moment lange versucht, das Angebot anzunehmen. Doch dann schüttelte sie nur den Kopf, bedankte sich und ging.
Was auch immer an Dominique d'Alessandrini-Casanera nagte, blieb unausgesprochen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top