14 - Schneeblüten
Nirgends im farblosen Ring fand man Blumen.
Sie waren ein Luxus, eine Schönheit, die allein dem dunklen Herz dieser Stadt gehörte.
Die Bauern arbeiteten mit Pflanzen, aber Blüten, die nicht dazu gedacht waren zu einer möglichst großen Frucht zu werden, fand man hier nicht. Außer natürlich man war mutig und verzweifelt genug sich an die Heilerin der Clubs zu wenden.
Als Cress die Glocke auf ihrer Seite des Abgrunds läutete, wie eine Wahnsinnige, und Maries Namen das alte Gemäuer hinauf brüllte, hatte Gabriella angefangen zu schreien. Der Schatten war sich sicher, dass die Heilerin sie schon von Weitem hatte kommen sehen.
Die Schneeblüten, die rund um die momentan hochgezogene Zugbrücke des Lazaretts der Clubs wucherten, schienen in der Dunkelheit zu leuchten. Sie waren es, die Marie benutzen würde, um die Passage des Mädchens zu mildern. Vor Cress Schuhspitzen klaffte der Asphalt zu einer gut sechs Meter breiten Schlucht auf, auf deren anderer Seite das Kartenkreuz der Clubs auf dem Holz der momentan nutzlosen Brücke prangte.
"Marie!"
Ketten knirschten und Stimmen wurden laut, als sich die Holzplanken langsam senkten und eine Brücke über den Abgrund schufen. Eine Gestalt tauchte am anderen Ende der Brücke auf, während Cress das Kind über die Brücke trug. Die Heilerin der Clubs war ein Schatten aus Perlen und blondem Haar, als sie die Tür öffnete. Ein Schwall Dampf und der herbe Geruch irgendeines Krauts waberten aus ihren Räumen, während Cress vor ihr zum Stehen kam.
„Cress, wieso kommst du nicht von der anderen Seite, wie alle normalen Menschen auch?", seufzte sie.
Als Antwort hob die Diebin das Mädchen von meinem Rücken.
Die Heilerin zog die Augenbrauen zusammen, wollte irgendetwas sagen, als Gabriella den Mund aufriss und ein so gellender Schrei herausbrach, dass nun alle Clubs in der näheren Umgebung zweifelsfrei wussten, dass wir eine Passage in unseren Reihen hatten.
Fluchend griff die Heilerin nach dem kleinen Körper und zog das Kind über die Türschwelle.
"Noch eine Passage? Wo hast du die denn aufgetrieben?"
Cress protestierte, als Gabriellas Kopf auf den Steinboden knallte. Cress schob ihre schon von dem langen Weg unter dem Gewicht des Kindes brennenden Arme unter den zierlichen Körper und trug sie in den Raum. Die Heilerin gestikulierte sofort zu einer ihrer Assistentinnen hinüber.
„Schneeblüten! So viele du tragen kannst!", befahl sie der jungen Frau, die beim Anblick des Kindes interessiert innegehalten hatte. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss und Marie winkte die Diebin hinter sich her, als sie in das Lazarett der Clubs stampfte.
Vorhänge aller Muster und Macharten waren an der Decke festgenagelt worden und teilten den Raum in viele kleine Abteile mit Matratzen oder Liegen auf dem kalten Betonboden. Viel zu viele Vorhänge waren zugezogen, hier und da wimmerte jemand. Der Cyborgangriff hatte die Clubs schwer getroffen. Doch Cress wusste, dass trotz aller Bemühungen der Heilerin und ihrer Assistenten nicht viele einen Biss der Halbmenschen überleben würden. Sie erspähte Jens blondes Haar auf einer der Liegen. Was sie von der Botin sah, die Kieran durch den Regen geschickt hatte, war mit Blasen übersäht.
Das Mädchen verkrampfte in Cress Armen, während Marie eine Tür zu einer Art Küche öffnete, in der schon lange kein Essen mehr zubereitet worden war.
"Bind' sie fest", seufzte die Heilerin.
Cress drückte das Kind auf die Liege, als eine weitere Welle an Krämpfen und Schreien über diesem zusammenschlug. Marie fuhr sofort herum und half der Diebin, Gabriellas Arme und Beine mit Lederschnallen auf dem Tisch zu fixieren. Marie schob ein Kissen unter die dreckverkrusteten roten Locken des Mädchens, bevor sie ihre Ärmel hochkrempelte.
"Schön, schön."
Ihre Augen funkelten. Sie war ganz in ihrem Element. Als die Assistentin mit einem Arm voller Schneeblüten hereinkam, begann sie irgendeinen Aufguss zusammenzurühren. Noch mehr Dampf stieg aus einem der verbeulten Töpfe auf, während Marie regelmäßig den Puls der kleinen kontrollierte. Sie schoben dem Mädchen ein abgeschliffenes Holzstück, das bereits Bisspuren trug, zwischen die Zähne, damit sie sich nicht auf die Zunge biss. Wieder traf Marie meinen Blick.
„Erklär' Jen, dass wir ihre nächste Dosis für eine zweite Passage brauchen", ordnete Marie an, ohne in Cress Richtung zu sehen, „Sie muss das aushalten."
Die Diebin biss die Zähne zusammen, nickte aber und kehrte kurze Zeit später mit dem Schmerzmittel zurück.
Marie fuhr herum, einen Metalllöffel drohend erhoben.
"Cress! Setz dich hin!"
Das rot karierte Hemd war ihr zu groß und biss sich extrem mit der blau gelb gepunkteten Hose, die mit Flicken in noch schlimmeren Farben übersät war.
Trotzdem hätte es niemand je gewagt über sie zu lachen.
Denn Marie war nicht nur die begabteste Heilerin des Außenbezirks, sie war auch die beste Giftmischerin.
Die Glasperlen in ihren Haaren klapperten aneinander, als sie sich wieder ihrer Patientin zuwandte.
"Wo hast du sie aufgelesen?"
"Irgendwo in der Nähe des Forums", antwortete Cress, jetzt wieder auf die zuckende Gabriella fixiert.
"Die erste Passage ist ihr Bruder."
Die Heilerin strich fingerdick eine Paste auf die Brust der Roten.
„Zwei Kinder in zwei Tagen? Da wird sich aber jemand freuen."
„Zwei Kinder und ein Cyborgangriff", korrigierte der Schatten des Kreuzbuben, immer noch im Türrahmen lehnend.
Marie zündete ein paar Kerzen an, huschte durch die Küche und zog den Vorhang vor der Wanne, die dort versteckt war, zurück.
Ihr Blick war weicher, als sie zurückkam und Gabriella die knotigen Hände an die Schläfen legte.
"Geh raus. Du störst mich. Und richte Rea aus, dass sie die Wickel des Jungen wechseln soll. Er bekommt bald Gesellschaft."
Nicht viele Menschen konnten Cress herumkommandieren, doch mit Marie wollte man sich schlicht nicht anlegen. Sie war schließlich diejenige, die einen in ein paar Tagen oder Wochen vor einer Blutvergiftung bewahren könnte. Doch sie war keine Ärztin und an keinerlei Eid gebunden, der es ihr unmöglich machte, jemandem absichtlich Schaden zuzufügen. Cress verließ das Lazarett, überquerte den Clubssquare und betrat das RedLipRoulette. Dort spielten Kieran, Mike und Chiby Karten am Tresen.
„Nachtelster", grüßte Mike und legte ein Herzass, die Chiby so verblüffte, dass ihm die Zigarette aus dem Mundwinkel fiel.
„Schlägt er mich einfach mit einer Nana Rouge, wenn die schon vor drei Zügen gelegt wurde!", empörte sich der Jüngste in der Runde. Kieran warf dem Barkeeper einen langen Blick zu. Mike kratzte sich unangenehm berührt am Kopf, während seine Mitspieler sich ihm zuwandten. Bevor die Lage eskalieren konnte, weil Farblose generell eine Tendenz dazu hatten, Kartenspielen ein bisschen zu ernst zu nehmen, ging Cress dazwischen.
„Ich habe das Mädchen gefunden."
Kieran fuhr zu ihr herum.
„Was?!"
„Welches Mädchen?", fragte Chiby, während er seine Zigarette von den fleckigen Dielen hob und wieder in den Mund steckte, ohne sie anzuzünden.
„Die Schwester der Passage, die Kieran gestern gebracht hat", erklärte Cress und erntete ein leises Pfeifen des Barkeepers und eine erneut zu Boden gefallene Zigarette.
„Sterne", fluchte Kieran, „Nana hatte das Mädchen."
„Hast du das gesehen?", hakte Cress nach. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es einer Zehnjährige gelingen könnte, der Herzdame zu entkommen. Der Hüne lachte ungläubig.
„Ob ich das gesehen habe? Die Hearts hätten uns fast umgebracht, als wir den Jungen mitgenommen haben. Und jetzt willst du mir erzählen, dass du den großen Preis gefunden hast?"
Cress zuckte die Schultern.
„In einer Mülltonne."
Kierans Blick war unbezahlbar.
~
Während Cress zwei Stunden damit verbracht hatte, sich mit dem Kreuzbuben zu besprechen, hatte Marie die beiden Kinder in ein Zimmer gesteckt. Die Chemikalien, die den Geschwistern die Farbe nehmen sollten, waren grausam zu menschlichen Körpern. Doch Marie hatte es irgendwie unter Kontrolle gebracht, indem sie Gabriella und ihrem Bruder Schmerzmittel gegeben hatte. Sie hatte die Augen der Kinder mit kühlen Tüchern verbunden und ihre Hände in Handschuhe gepackt, damit sie sich nicht kratzten, falls ein neuer Anfall über sie hereinbrechen sollte.
Cress und der Kreuzbube musterten die kleinen Silhouetten durch den Dampf, der aus dem mittig im Raum stehenden Kessel mit den Schneeblüten aufstieg. Es sah aus, als wäre von einem Moment auf den anderen der Beton unter ihren Füßen zum fruchtbarsten Untergrund überhaupt geworden. Weiße Blüten bedeckten den hässlichen Beton, standen in Vasen auf dem Fensterbrett und quollen aus den Kissen der Kinder. Die Clubs hatten schon so lange keine Passagen mehr mildern müssen, dass ihr Vorrat wohl der größte im farblosen Bezirk war. Das Mädchen schlief glücklicherweise, seitdem die Krämpfe hatten nachgelassen hatten. Ihr Bruder lag mit dem Gesicht zur Wand, zusammengerollt wie ein Kätzchen.
„Gute Arbeit", lobte der Kreuzbube, während der herbe Duft der Schneeblüten die beiden Clubs einhüllte.
„Weißt du schon, was genau du mit ihnen vorhast?", fragte Cress. In all ihren Jahren unter seinem Befehl hatte sie bis jetzt nur eine einzige Passage erlebt, doch das reichte, um die Prozedur zu kennen.
Sobald die Augen der Kinder nicht mehr die Farbe ihres Stadtbezirks trugen und bevor sie wieder sehen konnten oder das Schmerzmittel nachließ, würde man ihnen das Kartenkreuz auf den Unterarm tättowieren. Ihre Ausbildung würde zwei Tage später beginnen, wenn die Chemikalien der Passage ihren Körper im Idealfall wieder verlassen hatten. Es kam durchaus vor, dass neue Geister bleibende Schäden davontrugen, weswegen immer das Risiko bestand, dass man den hart erkämpften Rekruten doch noch verlieren würde. Meist war es Blindheit, die zurückblieb, wie beispielsweise im Fall des alten Barkeepers.
„Kieran nimmt den Jungen", verkündete der Kreuzbube. Cress nickte. Es war nicht ungewöhnlich, dass derjenige, der das Kind fand, zu dessen Mentor ernannt wurde. Meist war durch die Rettung von der Straße schon ein gewisses Vertrauen entstanden, das den Clubs in die Hände spielte. Cress Blick ruhte auf dem Mädchen, das an der Mauer das Wiegenlied gesungen hatte.
„Und sie?"
„Belle will das Mädchen", schnaubte der Kreuzbube, „Sie hängt mir schon seit Kierans Rückkehr in den Ohren. Undankbares Pack."
Cress trat zurück und er schloss die Tür, um die schlafenden Kinder zwischen Dampf und Blumen alleinzulassen. Der Diebin war nicht entgangen, wie die Heilerinnen ihnen vorsichtige Blicke zuwarfen.
„Das heißt, du gibst sie Belle nicht? Wieso das?"
Der Kreuzbube nickte Marie zu, die mit blutbesudelter Stoffschürze zwischen den Vorhängen auftauchte.
„Belle ist brauchbar, aber nicht unersetzlich. Sie würde eine gute Diebin aus ihr machen, keine Frage. Nur ist gut nicht mehr gut genug", er wich einem rostigen Servierwagen aus, auf dem sich ein paar Nadeln und Skalpelle aneinanderreihten, „Ich brauche einen erstklassigen Schatten, Cress. Jemanden, wie dich."
Der Verbrecherfürst der Clubs hielt an und musterte sie.
„Ich will, dass du das Kind nimmst. Sie ausbildest und dich um sie sorgst."
Cress blinzelte irritiert.
„Ich?"
Er nickte.
„Ist das ein Problem?"
Sie hatte die Arme verschränkt und das Gesicht verzogen, als hätte sie gerade in einen Apfel gebissen, ohne zu bemerken, dass dieser bereits schimmelte.
„Ich bin dein Schatten, keine Mentorin. Wie soll ich gleichzeitig für dich fliegen und Gabriella ausbilden?"
„Gabriella?"
„Das Mädchen."
Er nickte.
„Alin wird dich ersetzen."
Das gefiel Cress überhaupt nicht. Sie hatte dem Kreuzbuben immer noch nicht von ihrem Auftrag erzählt und mit jeder Sekunde sank ihr Bedürnis, dieser Pflicht nachzukommen. Würde er sie überhaupt gehen lassen, wenn er sie als Ausbilderin wollte? Siva Shkarah würde sich ins Fäustchen lachen, wenn sie vom Schicksal des Schattenvogels erfuhr. Cress biss die Zähne zusammen, als ihr Stolz sehr unkluge Wörter aneinanderreihte.
„Alin wird alt", war alles, was sie sagte, „Er soll sie ausbilden."
Der Kreuzbube schien zunehmend genervt von ihrem Widerspruch, doch Cress ignorierte dieses Warnsignal.
„Alin kann fliegen. Er kennt die Drahtseile vielleicht sogar besser als ich."
„Er will sie nicht."
„Ich will sie auch nicht. Belle will sie."
Cress spürte seinen gefürchteten Zorn kommen, wie einen dunklen Schatten. Der Kreuzbube nahm sie bei den Schultern und drückte sie unsanft an die grob verputzte Wand. Er stierte zu ihr hinunter, als würde er sie im nächsten Moment auffressen. Der Diebin wurde übel, als er befahl: „Schau mich an, wenn ich mit dir rede."
Sie legte den Kopf in den Nacken und seufzte, was sie sofort bereute. Er hob eine Hand und sie war darauf gefasst, dass er zuschlagen würde, doch er strich nur mit einem Finger, an dem der Nagel fehlte, an ihrem Hals entlang. Sie musste sich zwingen, ihm nicht ein Knie zwischen die Beine zu rammen und ihr Frühstück bei sich zu behalten.
„Du nimmst sie", befahl der Kreuzbube in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Seine Hand ruhte an ihrem Hals. Dann, ganz langsam, als wartete er auf ihre Reaktion, legten sich seine Finger über die Würgemale, die der Cyborg hinterlassen hatte. Er drückte nicht zu, doch Cress bekam trotzdem kaum noch Luft.
„Du kannst nirgendwo hin, Cress Cye", stellte er nun fast mitleidig fest, „Die Hearts, die Spades, die Diamonds, alle wollen deinen Kopf. Ich an deiner Stelle wäre sehr vorsichtig damit, wem ich widerspreche."
Sie sah ihn nicht an, blieb unbewegt, während der Druck seiner Finger sich kurz erhöhte und dann verschwand.
„Sei dankbar für die Gelegenheit, Schattenvogel", er war auf dem Weg zur Tür, „So nützt du deiner Familie am meisten."
Er meinte die Clubs. Während Cress Bluterguss als Antwort auf die unsanfte Berührung wieder dumpf schmerzte, dachte sie nicht daran, die Clubs als Familie zu sehen. Dieser Titel blieb für andere, schon halb verblasste Menschen in ihrer Erinnerung reserviert.
„Das hier hilft", erklärte Marie mit einem Blick auf die blauen Flecken der Diebin und reichte dieser einen Tiegel, „Und ich brauche jemanden, der heute bei den Kindern schläft."
„Machst du Witze?!", fuhr Cress auf. Die Heileirn machte eine ausladende Geste, die das gesamte Lazarett, in dem geschäftig ihre Assistentinnen herumeilten, einschloss: „Wir haben genug, die immer noch in einem kritischen Zustand schweben. Mach die Augen auf, Cress! Ich habe kein paar Hände, das ich entbehren kann, um auf die Passagen aufzupassen. Du hast keinen Auftrag. Tu mir den Gefallen."
Murrend holte die Diebin sich Decken aus dem angrenzenden Raum und legte sich zu den Kindern ins Zimmer. Das Mädchen roch immer noch nach dem Schnaps, mit dem Marie ihre Knöchel desinfiziert hatte. Sie strich sich die Salbe auf die immer noch empfindlichen Stellen an ihrem Hals, während die Übelkeit langsam wieder verschwand.
Cress hatte eigentlich vor wachzubleiben, aber die letzte Nacht war schon schlaflos verstrichen, wie Marie wohl an ihren Augenringen gesehen hatte. Außerdem war das Lazarett der Clubs trotz des momentanen Mangels an Scharfschützen einer der sichersten Orte im ganzen farblosen Bezirk. Kein Cyborg würde es über den Abgrund schaffen, wenn die Brücke nach oben geklappt war. Cress schlief mit flackerndem Feuerschein, der durch die Tür hereinfiel, auf dem Gesicht ein, nur um tief in eine verdrehte Traumwelt einzutauchen.
Flügel aus Metall, Owens Geschichten und die verängstigten, roten Augen des jungen Geistes, die sich in die fast farblosen des Cyborgengels verwandelten, tanzten in der Düsternis.
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