1|Langschläfer und Pünktlichkommer

"Wenn es noch länger dauert, dann können wir auch einfach zuhause bleiben, Rey!"

Ein energisches Klopfen ertönte kurz darauf und schien die Dringlichkeit hinter den Worten noch einmal zu verdeutlichen. Doch Rey, die gerade dabei war, ihre blonden Haare zu einem Zopf zu flechten, ließ sich davon nicht beirren. Statt auf ihre beste Freundin zu hören und sich zu beeilen, schlüpfte sie in aller Ruhe in ein paar Chucks und griff nach ihrer Handtasche.

"Ich bin gleich fertig!", rief sie grinsend, ganz genau wissend, dass Sasha auf der anderen Seite der Tür womöglich kurz davor war, zu platzen. Sie hasste es, warten zu müssen und hatte in dieser Sache ganz eindeutig keinen Jackpot mit Rey als Mitbewohnerin gemacht. Denn während Sasha immer pünktlich sein wollte und eigentlich auch immer war, hatte Rey die Angewohnheit, grundsätzlich ein paar sympathische Minuten zu spät zu sein.
"Das sagst du schon seit einer halben Stunde. Wenn du nicht langsam zur Sache kommst, fahre ich einfach ohne dich!"

Rey, die ganz genau wusste, dass das nicht passieren würde, verdrehte belustigt die Augen, entschied aber nach einem kurzen Blick in den Spiegel, dass sie ihre Freundin nicht noch länger auf die Folter spannen würde. Als sie den Raum verließ und an Sasha vorbeimarschierte, warf die ihr einen giftigen Blick zu.

"Na endlich! Ich kann nicht fassen, dass du so trödelst! Ausgerechnet du, die heute die größte Chance ihres Lebens hat!"

Rey verstandgenau, wovon das dunkelhäutige Mädchen sprach und schmunzelte auf die Aussagehin. Irgendwann in den letzten zwei Tagen hatte sie aufgehört, mitzuzählen, wie oft das Thema Soulmates von Sasha angesprochen wurde.

Dass gerade in ihrer Stadt eine der größten Tattoo Conventions des Jahres stattfand, hatte das Feuer in Sasha nochmal richtig entfacht. Und Rey war diejenige gewesen, die sich täglich, manchmal sogar stündlich, Sashas aufgeregte Monologe zur wahren Liebe anhören musste.

"Die Convention geht das ganze Wochenende. Ich denke, wenn wir zwei Stunden nach der Eröffnung auftauchen, wird die Welt auch nicht untergehen." Sasha, deren wilder Afro wie eine stolze Krone um ihr Gesicht thronte, starrte Rey fassungslos an.
"Wie kannst du sowas sagen? Dein Soulmate könnte nur wenige Kilometer von dir entfernt sein und du bist die Ruhe in Person! Was ist, wenn ihr euch verpasst, nur weil du solange gebraucht hast, dich fertig zu machen?"

Das blonde Mädchen zuckte mit den Schultern, während sie einen dünnen Schal von der Garderobe zog und ihn um ihren Hals legte.
"Du sagst doch schon die ganze Zeit, dass ich dazu bestimmt bin, diese eine Person zu finden. Ich fasse das so auf, dass es genau dann passiert, wenn es passieren soll. Und wenn heute der Tag ist, an dem ich meinen Soulmate finden soll, dann wird das nicht verhindert, weil ich heute zu lange geschlafen habe."

Als Rey wieder zu ihrer Freundin schaute, schien die gar nicht mehr an Reys Worten interessiert zu sein. Stattdessen war ihr Blick entgeistert auf das Kleidungsstück um ihren Hals gewandert.
"Wieso zur Hölle trägst du einen Schal? Und einen Pullover? Und lange Hosen?"

Rey schnaufte verwirrt. Sasha war normalerweise nicht die Art Mensch, die sich über Reys Kleidungswahl beschwerte. Allgemein war sie eher der Vertreter von 'Lass jeden das machen, was er will und kümmre dich nicht um die anderen.' Umso komischer machte es diesen Kommentar.

"Du weißt doch, dass ich seit ein paar Tagen Halsschmerzen habe. Ich werde nicht riskieren, krank zu werden, nur damit ich ober-stylisch aussehen kann. Es wird eh niemanden interessieren, was ich anhabe. Die Leute gehen zur InkCon um Tattoos zu sehen."

"Ganz genau! Sie wollen Haut sehen! Bestochene Haut! Und das bedeutet, dass bedeckende Kleidung, wie Pulli und Jeans nicht das richtige für heute sind!"

Rey winkte beiläufig ab. Natürlich hatte Sasha irgendwo recht, immerhin wollten die Besucher der Messe Tattoos sehen. Und sie war sich durchaus bewusst, dass ihr eigener Körper fast von oben bis unten mit den unterschiedlichsten Kunstwerken bedeckt war und somit sicherlich etwas spannendes zum Betrachten sein könnte. Allerdings waren das nicht Reys Tattoos.

Zumindest nicht wirklich. Denn auch, wenn sie ihre Haut zierten, gehörten sie doch der Fantasie eines anderen. Und sie würde es nicht soweit kommen lassen, dass man sie als Ausstellungsstück ansah und beäugte.

"Wie soll dein Soulmate dich erkennen, wenn du keins eurer Tattoos zeigst? Was ist, wenn er dich sieht, ohne dass du ihn siehst und ihr lauft aneinander vorbei, ohne zu wissen, dass ihr zusammengehört?"

Zugegeben, der Gedanke war Rey auch schon durch den Kopf geschossen. Aber sie war einfach nicht so besessen von der Idee, alles daran zu setzen, die eine Person zu finden, der sie nicht nur die vielen Tattoos, sondern auch die ein oder andere schlaflose Nacht zu verdanken hatte.

Es war nicht in Reys Natur, sich zu sehr in das alles rein zu steigern. Denn auch wenn sie irgendwann ihren Soulmate finden wollte, war das nicht zu ihrem einzigen Lebensinhalt geworden und sie hielt einfach daran fest, dass es kommen würde, wenn die Zeit gekommen war.

Ob das wirklich der heutige Tag sein würde, oder sie ihre Bestimmung erst in einem Jahrzehnt traf... Rey ließ es auf sich zukommen, ohne obsessive Suchaktionen zu starten.

Sasha konnte das noch nie nachvollziehen. Seitdem sie von diesem Phänomen seitens Rey erfahren hatte, war sie fest entschlossen, ebenfalls einen Soulmate zu haben. Nicht, weil sie eifersüchtig war, sondern einfach, weil sich ihre hoffnungslos romantische Seele danach sehnte, sagen zu können, dass es einen Menschen auf der Welt gab, der ihr perfektes Gegenstück war.

Deshalb hatte sie sich auch vor zwei Jahren ein Tattoo auf den Oberarm stechen lassen. Falls also tatsächlich auch ihr Schicksal mit dem einer anderen Person vermischt war, würde das schlichte, aber auffällige Bild einer rosa Protea ebenfalls an genau dergleichen Stelle auf der Haut ihres Soulamtes auftauchen.

Dummerweise wüsste Sasha nur mit kompletter Sicherheit, dass es eine Bestimmung in Form eines Menschen für sie gab, wenn sie die Person traf, oder urplötzlich ein Tattoo auf ihrem Körper auftauchte, ohne dass sie es sich hatte stechen lassen.

"Falls es heute passieren sollte, werde ich es wissen. Und keine Sorge, ich sag dir Bescheid, wenn es soweit ist. Aber ich ziehe mich nicht um. Wollen wir jetzt gehen, oder willst du noch länger trödeln?"

Rey grinste ihre beste Freundin frech an und Sasha verdrehte die Augen, weil sie sich sicherlich nichts über verschwendete Zeit von der Blondine anhören würde. Die beiden waren nun aber endlich bereit, sich auf den Weg zu machen, weshalb Rey die Wohnungstür öffnete und Sasha hindurch winkte. Dann ging sie selbst in den Flur und zog sie mit einem Klicken ins Schloss.

Ohne dem Fahrstuhl auch nur einen Augenblick Beachtung zu schenken, liefen die beiden zu den Treppen und begannen vom fünften Stock hinab zu steigen. Die quietschende Metallbox konnte man komplett vergessen, zum Leidwesen von jedem Wohnungsbesitzer ab Stockwerk Drei. Das eine Mal, was er im Jahr funktionierte, war in etwa so hilfreich, wie ein Mini-Handventilator in der Wüste.

Die ungeschriebene Regel im Haus war ganz klar: "Benutze den Fahrstuhl nur dann, wenn du vorhast, zwischen Etage Drei und Vier stecken zu bleiben."

Rey und Sasha hatten damit auch schon ihre Erfahrungen gemacht und konnten bezeugen, dass es alles andere als spaßig war, in einem stickigen Würfel festzustecken, ohne zu wissen, wann die Fahrt weitergehen würde. Wenn man das einmal mit milder Platzangst hinter sich gebracht hatte, benutzte man nie wieder Lifts, egal, wie viele Stufen man sich hochquälen musste.

Als Rey die Haustür nach draußen aufstieß, überlegte sie augenblicklich, doch noch einmal umzukehren und Sashas Worte in Betracht zu ziehen. Die Luft war so schwül, dass es keine Minute dauerte, bis sich die ersten Anzeichen von Schweiß auf ihrer Stirn ankündigten. Dass sie einen langärmligen Pulli übergestreift hatte, bereute sie nun allemal.

Aber wenn sie ihre Meinung plötzlich ändern und nochmal hochlaufen würde, war sie sich fast sicher, dass sie nicht mehr lebend aus der Sache rauskam. Denn Sashas Geduld noch länger zu strapazieren, war ganz sicher nicht das richtige für den heutigen Tag.

Also biss Rey ihre Zähne zusammen, lockerte ihren Schal etwas und folgte Sasha zu ihrem feuerroten Kleinwagen. 'Cherry' wie sie ihn liebevoll nannte, konnte mit Abstand zum gefährlichsten Fahrzeug der Stadt werden. Wenn Sasha dabei war, zu spät zukommen, kannte sie keine Gnade und der kleine Flitzer wurde zum schnellsten Rennwagen in der Geschichte der Menschheit.

Rey hoffte nur, dass das heute nicht der Fall sein würde, denn wenn sie sich zwischen 'Mit einer rasenden Sasha im Auto sitzen' und 'In einem winzigen Fahrstuhl gefangen sein' entscheiden müsste, würde sie letzteres zehnmal eher vorziehen.

Manchmal machte ihr Sasha ganz einfach Angst, weil sie so explosiv sein konnte und man das niemals von ihrer zierlichen Figur erwarten würde. Aber mittlerweile kannte Rey ihre Mitbewohnerin gut genug, um zu wissen, wann sie sich zu ihrem eigenen Schutz in ihrem Zimmer zu verschanzen hatte.

Zu ihrer größten Erleichterung fuhr Sasha heute zum Glück wie ein normaler Mensch los, als beide angeschnallt waren und somit hatte Rey nicht zu befürchten, dass demnächst ein paar Briefe in den Briefkasten flattern würden, weil sie geblitzt wurden.

Während sie durch die ihnen bekannten Straßen fuhren, stellte Sasha das Radio an und innerhalb kürzester Zeit sangen beide lauthals die verschiedenen Songs mit. Rey war ein bisschen eifersüchtig auf Sashas Stimme, weil sie selbst eher zu denjenigen gehörte, die dachten, sie wären begabt, bis es ihnen jemand anderes um Wellenlängen besser vormachte. Aber irgendwann hatte sie sich damit abgefunden, dass jeder von ihnen unterschiedliche Talente besaß.

Außerdem hatte Sasha noch nie etwas über die krummen und schiefen Töne gesagt, die aus Reys Mund entflohen und trällerte einfach mit ihr zusammen. Wahrscheinlich machte sie genau das zu einem guten Team, denn sie nahmen die Macken, Ecken und Kanten des anderen einfach hin oder machten das Beste daraus.

Es dauerte nur eine viertel Stunde, bis der rote Wagen in einem Meer aus andersfarbigen Autos unterging, denn je näher sie der Messe kamen, desto voller wurden die Straßen. Und je voller es wurde, desto lauter wurden Sashas Fluch Attacken, die sie anderen Fahrern hinterherschrie, wenn die ihrer Meinung nach, keinen Führerschein verdient hatten.

Als die beiden dann endlich auf einen offiziell ausgeschilderten Parkplatz, ein ganzes Stück vom Messegelände entfernt, fuhren, schien der Spaß aber erst richtig los zu gehen. Von Menschen, die nicht wussten, wie man ein und ausparkte bis hin zu ignoranten Idioten, die nicht einsahen, wieso sie aus dem Weg gehen sollten, gab es alles. Und Rey hatte ziemlich schnell das Radio und ihre eigene Stimme ausgeschaltet, weil sie Angst bekam, dass Sasha noch verrückter werden würde, wenn sie einen Mucks von sich gab.

Am Ende dauerte es Zweiundzwanzig Minuten und Achtzehn Sekunden (länger als die gesamte Fahrt von der Wohnung bis zur Messe) bis Cherry endlich in eine geeignete Parklücke rutschte und Sasha laut schnaufend ausstieg.

Rey folgte ihr, noch immer vorsichtig und unsicher, ob es schon wieder okay war, zu sprechen.
"Beim nächsten Mal nehmen wir vielleicht einfach die S-Bahn", gab sie kleinlaut von sich.
Sashas braune Augen, hinter denen ein ziemlich großes Feuer zu brennen schien, richteten sich auf Rey, die gerade dabei war, sich ein Hustenbonbon einzuwerfen, weil ihr Hals unglaublich trocken geworden war. Sie fürchtete sich bereits davor, wie es in den überfüllten Messehallen ohne ordentliche Frischluft Zufuhr werden würde.

Sasha antwortete nicht, stattdessen drehte sie sich im Kreis, um sich zu orientieren. Rey wusste ganz genau, dass es eigentlich eher zu Sashas Lebensstil passen würde, wenn sie immer mit der Bahn fahren würde, wie es Rey tat. Denn sie war gegen alles, was für Anti-Umwelt stand. Dazu gehörte dummerweise auch Cherry.

Doch Sasha konnte sich nicht von ihrem geliebten Flitzer trennen, auch wenn ihr schlechtes Gewissen ständig dagegen stichelte, weil er Abgase von sich schleuderte. Ihr fast schon sorgebereitender Zwang zur Pünktlichkeit steuerte einfach gegen die Bahn und deren mögliche Verspätungen.
Wann immer Rey blicken ließ, dass ihre Straßenbahn mal ausfiel, bekam Sasha beinahe eine Krise, weil ihr die Vorstellung so sehr zu schaffen machte. Rey hatte schonmal darüber nachgedacht, ihre Freundin zu einem Therapeuten zu schicken, der ihr diesen Trieb zum eigenen Wohl etwas abgewöhnen konnte. Doch daraus war bisher noch nichts geworden.

"Am besten wir folgen einfach all den anderen Menschen", beschloss Sasha, nachdem sie aufgegeben hatte, einen eindeutigen Weg zur Messe zu finden. Sie hakte sich wieder entspannter bei Rey ein und zog sie mit sich, nachdem sie ihre Kirsche abgeschlossen hatte.

Von ihrem nur knapp abgewendeten Anfall im Auto, war innerhalb weniger Sekunden nichts mehr zu spüren. Stattdessen strahlte sie wieder voller Energie und Aufregung und baute zu Reys Amüsement ab und zu einen Hüpfer zwischen ihre Schritte ein.

Die beiden schlossen sich nach ein paar Minuten des Herumirrens auf dem Parkplatz endlich einer fünfköpfigen Gruppe von Leuten an. Sie schienen genau zu wissen, wo sie hinmussten und die Chance ergriffen Rey und Sasha doch glatt beim Schopf.

Es war nicht schwer zu erkennen, dass es eine Tattoo Convention war, denn weit und breit musste man sich anstrengen, jemanden zu finden, der keine Tinte unter der Haut trug. Rey stach gegen ihre Erwartungen mehr raus, als gedacht. Denn selbst neben Sasha, die auch lange Hosen und lediglich ein olivgrünes Top anhatte, damit man das Tattoo ihrer Lieblingspflanze sehen konnte, sah sie aus, als hätte sie sich für eine Schneeballschlacht angezogen.

Sie schien eine von wenigen zu sein, die fast keine Haut zeigten. Irgendwie nicht total überraschend, trotzdem fand Rey es komisch, dass alle solch einen Drang verspürten, zeigen zu müssen, was sie hatten.

"Bist du schon aufgeregt? Ich kanns gar nicht glauben! Wir sind fast da!"

Rey nickte leicht, ihre Aufmerksamkeit schweifte jedoch durch die Menschenmasse, die scheinbar immer weiter um sie wuchs. Die fünfköpfige Truppe, denen sie noch vor wenigen Minuten gefolgt waren, hatten sich scheinbar in Luft aufgelöst, stattdessen liefen hundert andere neben, vor und hinter Rey auf den Eingang der Haupthalle zu.

Langsam aber sicher breitete sich nun doch ein mulmiges Gefühl in Reys Körper aus.
Vielleicht lag es daran, dass Sasha ihr in den letzten Tagen so viel Hoffnung eingeredet hatte, dass sie nun die Angst der Enttäuschung plagte?

Rey hatte keine Zeit mehr, tiefer auf ihre Gefühle einzugehen, denn Sasha stupste sie aufgeregt an und deutete auf die Eintrittskarte, die sie aus ihrem Mini-Rucksack gefischt hatte. Rey fing direkt an, in ihrer kleinen Handtasche zu kramen und für einen Moment beschlich sie die Panik, dass sie das Ticket zuhause liegen lassen hatte.

Doch dann fühlten ihre Fingerkuppen zwischen Portemonnaie und Lippenbalsam das stabile Papier und sie zog daran, bis sie es in der Hand hielt. Mal wieder wurde ihr verwehrt, sich näher mit einer Situation zu beschäftigen und anstatt noch einmal zu lesen, was denn da in schwarzer Schrift gedruckt war, wurde sie von dem Menschenstrom mitgezogen.

Sie bekam gar nicht wirklich mit, wie ihr Ticket gescannt wurde, denn es dauerte nur wenige Sekunden, da war sie durch die Sicherheitsschleuse durch und drehte ihren Kopf wild hin und her, um nach Sasha Ausschau zu halten. Das letzte, was sie jetzt wollte, war ihre Freundin im Trubel zu verlieren.

"Rey!"

Ihr Kopf schoss nach links und erleichtert erkannte sie die schwarzen Locken, die man scheinbar nicht bändigen konnte.

"Wir sind drin! Ich kanns nicht fassen! Hier, ich habe mir grade zwei Flyer von da vorne geschnappt."

Rey grinste und nahm die glänzende Broschüre. Ihre Augen glitten kurz über die kleinen Texte und bunten Bilder, dann stopfte sie sie zusammen mit ihrem Ticket zurück in die Tasche.

"Oh, lass uns einfach loslegen! Ich habe keine Zeit, die Karte zu lesen."
Rey lachte auf Sashas Worte hin und stimmte zu. Mit ein paar langsamen Schritten, bahnten sich die Mädchen einen Weg zwischen anderen Messebesuchern hindurch und Rey war sich sicher, dass sie innerhalb der wenigen Augenblicke mehr Tattoos zu Gesicht bekam, als sie jemals zuvor gesehen hatte.

"Ich fühle mich richtig fehl am Platz mit meinem mickrigen Tat", gab Sasha zu und versuchte im nächsten Moment einem dicken Kerl auszuweichen, als der seinen Bauch wie einen Einkaufswagen durch die Gegend schob. Rey erhaschte einen kurzen Blick auf sein tätowiertes Gesicht, bevor sie sich schnell wegdrehte.

"Ach was. Hier rennen sicherlich einige rum, die noch nicht so oft unter der Nadel gelegen haben. Und wenn du unbedingt noch eins willst, kannst du dir ja vielleicht heute noch eins stechen lassen."

"Ich weiß nicht. Mal ganz davon abgesehen, dass ich meinen Soulmate nicht so überstrapazieren will, wie es deiner mit dir gemacht hat...", sie warf Rey einen vielsagenden Blick zu. "Ich kann mich nicht damit anfreunden, einfach so in einer riesigen Halle mit zigtausend anderen tätowiert zu werden. Außerdem habe ich gar keinen Plan, was ich haben wollen würde."

Rey konnte Sasha verstehen. Während sie an den vielen Booths vorbeiliefen, in denen das verräterische Brummen einiger Tätowierpistolen erklang, zählte sie bei den meisten mindestens fünf Zuschauer. Und der Gedanke, vor Fremden womöglich das ein oder andere Stück Haut zu zeigen, was man normalerweise nicht einfach so freilegte, verursachte auch in ihrem Kopf nicht unbedingt ein gutes Gefühl. Aber es war ja niemand gezwungen, sich Zehntausend Stiche pro Minute unter die Haut setzen zu lassen.

Rey selbst, hatte noch keine Erfahrung mit der Prozedur gemacht. Sie hatte auch noch nicht einen Penny für die Kunst auf ihrer Haut ausgegeben und Sasha hatte das nach ihrem erfolgreichen Tattoo-Termin absolut unfair gefunden. Rey selbst war einfach nur neugierig, wie viel Wert ihre Tattoos wirklich hatten. Dass sie die damit verbundenen Schmerzen nicht über sich ergehen lassen musste, erleichterte sie einfach nur.

"Du, denkst du, es wäre in Ordnung, wenn wir uns was zu essen holen?"
Rey runzelte verwirrt ihr Stirn, als sie die zögerliche Frage von ihrer Freundin hörte.
"Wieso sollte das ein Problem sein?"
"Naja, ich will nicht schuld sein, falls wir deinen Soulmate verpassen, weil wir uns die Bäuche voll schlagen, anstatt nach ihm Ausschau zu halten."

Rey lachte und bevor sie überhaupt Antworten konnte, dass der Gedanke absurd war, zog sie Sasha bereits zur 'Fressmeile', wie sie die aneinander gereihten Buden kurz darauf tauften. Hätte Rey nicht gewusst, dass es eine Tattoo Messe war, hätte sie glatt denken können, dass hier ein Food-Festival stattfand.

Die vielen, bunten Stände waren mit so vielfältigen Leckereien ausgestattet, dass es nicht nur eine ganze Weile brauchte, bis sie sich etwas ausgesucht hatten, es verlangte auch äußerste Selbstbeherrschung, nicht einfach all ihr Geld für unterschiedlichstes Essen auszugeben und einfach den ganzen Tag in diesem Teil der Messe zu gammeln.

Doch nach einer knappen halben Stunde (Sasha wäre beinahe aus allen Wolken gefallen, als sie zum Zeitcheck auf das Display ihres Handys geschielt hatte) verließen die beiden endlich das Sündenparadies. Sasha ausgestattet mit einer fruchtigen Bubble-Waffel und Rey an einem gold-gebackenen Taiyaki mit Vanillecreme-Füllung knabbernd.

"Wir dürfen nie wieder dahin gehen? Ich werde kugelrund!"
"Ja, gerade du, die essen kann, was immer sie will! Ich sehe es schon vor mir, wie dein kugelrunder Popo nicht mehr durch das Treppenhaus passt", witzelte Rey kichernd und Sasha schubste sie leicht mit dem Ellenbogen.

Die beiden unterhielten sich eine ganze Weile, blieben hier und da stehen, um zuzuschauen, was in einem Booth mit weniger viel Auflauf gerade gestochen wurde und zwischendurch regten sie sich gemeinsam darüber auf, wenn die Menschenmassen den Weg versperrten und es kein Vor und Zurück mehr gab.

Irgendwann hatten sie schließlich auch Halle eins abgeklappert und Sasha war mehr als nur enttäuscht, dass sie bisher weder ein exaktes Duplikat ihres eigenen Tattoos noch einen Menschen mit Reys Körperschmuck entdeckt hatte.

Das merkte man besonders, als sie in der etwas ruhigeren zweiten Halle ankamen. Sashas strahlte nicht mehr und ihre Schultern hingen weiter runter, als unter normalen Umständen.
"Denkst du, es ist überhaupt möglich, jemanden in diesem Gewusel zu finden? Selbst wenn die Person hier ist?"

Rey, die selbst ein bisschen niedergeschlagen war, drückte den Lockenkopf an sich und schaute sie lächelnd an.
"Noch ist nichts verloren. Und sieh es mal so, wenn es heute nicht klappt, dann kannst du dich einfach bei unserer nächsten Chance darauf freuen, dass es vielleicht soweit ist."

Sasha schien das nicht allzu doll aufzuheitern, aber Rey grinste sie zuversichtlich an und dem konnte sie gar nicht wirklich widerstehen.

"Vielleicht hätten wir einfach beim Essen bleiben sollen. Da kommt wahrscheinlich jeder mal vorbei", dachte Sasha laut, als sie zu einem Tattoo Booth mit dem Namen Beetle Ink schlenderten. Rey schmunzelte, musste aber zugeben, dass das gar kein schlechtes Argument war. Allerdings waren die beiden ja nicht nur zum Essen hergekommen und Reys Ziel lag auch gar nicht einzig und allein daran, ihren Soulmate zu finden.

Die Messe mit den tausenden Besuchern war auch der perfekte Ort, um Inspiration zu sammeln.

"Oh schau mal, das sieht doch schick aus!" Sasha riss Rey ohne Vorwarnung mit sich und deutete auf eine ausgehangene Tattoo Vorlage. Es war ein kleines Kaninchen mit Geweih und hinter ihm schien ein knallgelber Mond. Rey war nicht mal ansatzweise überrascht, dass ausgerechnet dieses Bild Sashas Aufmerksamkeit erweckt hatte. Alles, was Tiere in lebendiger und friedlicher Art und Weise darstellte, war in ihren Augen toll.

Rey sah sich den Stand genauer an. Die Aufsteller, die unterschiedlichste Motive zeigte, waren in mehrere Abschnitte aufgeteilt, über denen jeweils ein Name stand. Rey nahm stark an, dass es sich dabei um die verschiedenen Künstler von Beetle Ink und deren alternative Kunstwerke handelte. Einer von ihnen schien ein muskulöser, breit gebauter Kerl zu sein. Zumindest sah es so aus, als würde er dazu gehören.

Er redete gerade mit einer jungen Brünetten hinter seinem Tisch, auf welchem noch viele weitere Tattoo Schablonen und Broschüren lagen. Seine dunkelblonden Haare trug er in einem Männerdutt am Hinterkopf und seine ausdrucksstarken Tribal Tattoos auf Oberarm und Schulter konnte man durch sein knappes Muskelshirt kaum übersehen.

Während er mit der jungen Frau schwatzte, schien er den ein oder anderen Witz zu reißen, denn beide fingen mehrfach an, zu lachen. Rey war so vertieft darin, die beiden zu beobachten, dass sie erst wieder Sasha bemerkte, als diese nach ihrer Hand griff.

Verwirrt wendete sich Rey zu ihr, nur um festzustellen, dass ihre beste Freundin wie gebannt mit offenem Mund auf die Aufsteller mit den Tattoos starrte.
"Was ist denn?", fragte Rey besorgt, doch anstatt zu antworten, hob Sasha ihre Hand und deutete mit ihrem Zeigefinger auf ein spezielles Design.

Reys blaue Augen folgten der Richtung neugierig und es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie verstand, was los war. Ihre Augen weiteten sich und ihr Körper fühlte sich plötzlich an, als würde jeder Muskel, jede Ader und jede Faser in Flammen aufgehen, nur um sich genauso blitzartig in eine eisige Kälte zu verwandeln, welche ihr Blut gefrieren ließ.

Ihre Augen fuhren jede Kurve, jeden Punkt und Strich der Abbildung nach und je mehr sie es anstarrte, desto klarer wurde, dass sie das Motiv kannte. Tatsächlich war es ihr so vertraut, dass sie genau wusste, dass die Linie, welche das linke Ohr des Anubis zeichnete, einen winzigen, kaum sichtbaren Knick besaß, noch bevor sie die Stelle überhaupt angeschaut hatte.

Überfordert mit der Situation, hielt sie sich doller an Sashas Hand fest, weil sie Angst hatte, einfach umzufallen, und war dankbar, als ein bestärkender Händedruck zurückkam.
"Das-das ist sicherlich nur ein Zufall. Ein Anubis ist kein so seltenes Motiv, richtig?"

Eigentlich hatte es keinen Zweck, zu versuchen, ihre Hoffnungen im Zaum zu halten, immerhin wurde mit jeder Sekunde, die sie das Tattoo analysierte, klarer, dass es ein exaktes Double der Kreation war, welche den Großteil ihres Oberkörpers bedeckte. Doch Rey konnte nicht einfach so hinnehmen, dass das Foto wirklich einen Teil ihres Soulmates zeigte.

Die gebräunte Haut, die sich über die sichtbaren Brust- und Bauchmuskeln spannte? Könnte das tatsächlich das erste sein, was sie von ihm zu sehen bekam?

"Es ist aber nicht sehr häufig in dieser Art auf einem Oberkörper tätowiert, oder?", murmelte Sasha, sodass Rey sie fast nicht über das laute Brummen der Menschenmassen um sie herum hörte.

"Denkst du wirklich-"
"Naja, es gibt nur einen Weg, das rauszufinden."

Bevor Rey fragen konnte, was genau das bedeutete, ließ Sasha ihre Hand los und die Blondine einfach stehen und marschierte zielstrebig auf den Tisch zu. Rey folgte ihr eilig, wurde jedoch mal wieder durch ein paar andere Leute behindert, als ihr das Pärchen den Weg abschnitt, sodass sie eine harte Bremsung hinlegen musste.

Das hatte zur Folge, dass sie mit ein paar Sekunden Verzögerung neben ihrer Mitbewohnerin ankam. In der kurzen Zeit hatte sie allem Anschein nach bereits die Aufmerksamkeit des Kerls mit dem Dutt auf sich gezogen. Er war jedenfalls vor Sasha getreten und schaute sie belustigt und neugierig an.

"Was kann ich für euch tun, Ladies?", fragte er. Seine Stimme war angenehm und rau. Sie passte zu ihm, beschloss Rey.
Als er seine Arme vor sich auf den Tisch lehnte, traten seine Muskeln noch etwas prominenter vor und sie hätte womöglich seine Tattoos aus der Nähe betrachtet, wenn die Schmetterlinge in ihrem Bauch nicht so wild flattern würden.

"Die Frage lautet, wer dieses wundervolle Anubis Tattoo hergestellt hat."

Rey sah Sasha für einen Moment amüsiert von der Seite an, sagte aber nichts, sondern wartete gespannt auf die Antwort. Der Kerl fuhr sich mit einer geübten Handbewegung über die blonden Stoppeln seines Dreitagebarts und grinste.

"Das war dann wohl ich. Habt ihr Interesse an dem Motiv?"
Rey musste sich zusammenreißen, um nicht an einer kleinen Panikattacke zu erleiden, deshalb war sie auch mehr als dankbar, dass Sasha weiterhin souverän das Gespräch führte und sie selbst nichts weiter tun musste, als die Zähne zusammen zu beißen.

"Nicht direkt. Wir hätten eher Interesse an der Person, die dieses Kunstwerk mit sich rumträgt. Besteht die Möglichkeit, ein Treffen zu arrangieren?"

Der Tätowierer zog überrascht seine Augenbrauen zusammen und stieß ein irritiertes Schnaufen aus. Rey überkam augenblicklich die Angst, dass er sie abwies und somit alles verpuffen würde, was sich in den letzten Minuten bedrohlich schnell in ihrem Körper angesammelt hatte.

Doch dann zuckte der Muskelprotz mit den Schultern.

"Wenn es für euch in Ordnung ist, könnt ihr einfach warten. Aaron sollte in ein paar Minuten zurück sein. Oder ihr kommt später nochmal la-"

"Wir warten! Das ist kein Problem für uns!"







Ich hoffe, euch hats gefallen. 
Lasst gerne ein bisschen Feedback da :)

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