3. Kalypso

"Friendship is a single soul dwelling in two bodies."

Mit einem kräftigen Schwung durchbrach Leukosia die nächste zu überwindende Wasseroberfläche. Weiße Gischt stob sogleich in Form von funkelnden Tropfen in die Luft empor, bevor sich diese zischelnd zerstreuten und wieder zurück ins ruhige, dümpelnde Nass fielen.

Die natürliche Höhle, verborgen zwischen finsteren Felsspalten, hatte bereits vor ihrer Geburt existiert und würde vermutlich für alle Ewigkeiten auf die ein oder andere Weise weiter existieren.

Wie eh und je schimmerte das Wasser in einem klaren Blau, so rein, dass keine Trübnis der Welt es hätte entstellen können.

Ein tröstliches Gefühl, kaum greifbar und doch so nahe, überflutete ihre Seele und legte sich wie eine kuschelige Decke über ihr Selbst nieder. Dieser friedliche Ort erschien der Sirene tatsächlich als einziger Anker in der Unendlichkeit und würde daher gewiss nicht davor zurück schrecken, das steinerne Zuhause vor uneingeladenen Besuchern zu beschützen.

Leukosia ließ ihren Blick über das Innere der Grotte schweifen. Ein fein geschliffenes Steinufer umrandete jenes Wasserbecken, in dessen feuchtem Gefilde sich die Sirene gerade aufhielt. Unterhalb des unruhig hin und her schwappenden Wellengangs erstreckten sich mehrere, lang gezogene Steinfelsen, die zumeist als Ruhebetten für die drei Meerjungfrauen dienten.

Streng genommen sind wir nicht mehr aufs Schlafen, essen oder trinken angewiesen. Aber natürlich hatte Himeropa darauf bestanden, nicht völlig den alten Traditionen und Gewohnheiten zu entsagen. Und wie es zumeist der Fall ist, hat sie uns mit ihrer sanften Überzeugungskunst in die gewünschte Richtung gelenkt.

Erneut wanderte ihre Sicht durch die Höhle, blieb aber nirgendwo lange haften. Zu allen Seiten ragten gewaltige Felswände in die Höhe empor, wirkten wie raue Schutzwälle, die das Innere vor der neugierigen Außenwelt behüteten und dabei die Last dieses uralten Bauwerks stets auf ihren Schultern trugen.

Güldene Lichtstrahlen fielen hier und da durch einen kleinen Spalt an der Decke herab, ansonsten regierte eine düstere Finsternis diesen Ort mit einer eisernen Faust. Jedes hier gesprochene Wort hallte in Gestalt eines dumpfen Echos an den bedrückenden Wällen ab, bevor zischelnde Windböen die Tonfolgen erfassten und in eine weit entlegene Ferne hinfort trugen.

Diesen Zufluchtsort hatten die drei Sirenen zu ihrer neuen Heimat auserkoren, nachdem ihre verwandelten Vogelkörper einen weiteren, qualvollen Gestaltenwechsel hatten durchleiden müssen. Bei dem bloßen Gedanke an die fürchterlich Schmerzen, die meist mit solch einem Kraftakt einher gingen, jagte unweigerlich ein kühler Schauder der Erinnerungen über ihren Rücken hinweg.

Manchmal ist es besser, tiefe Mariannengräben um unerwünschte Rückblicke zu ziehen. Mir bringt es nichts, wenn ich immer und immer wieder in alte und geschlossene Wunden wühle.

Seufzend zog sich Leukosia ans Ufer, um sich daraufhin mit dem Einsatz ihr Arme auf den klammen Beckenrand empor zu hieven.

Ächzend setzte sich die Meerjungfrau so gut wie möglich auf, fühlte sich allerdings in jenem Moment mehr wie ein Walross als eine betörende Verführerin. Gerade als sie es sich dort halbwegs gemütlich gemacht hatte, kamen bereits ihre beiden Schwestern herein geschneit.

»Bei Poseidons Dreizack, da seid ihr ja endlich! Habt euch ja ganz schön lange herum getrieben, was?«, begrüßte Leukosia sogleich die Zurückgekehrten mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, während sie sich zeitgleich eine störende Haarsträhne hinters Ohr schob. »Habt ihr Erfolg gehabt?«

»Leider nein. Wäre ja auch zu schön gewesen«, seufzte Aglaophonos aus tiefster Seele, ehe sie es ihrer jüngeren Schwester gleichtat und sich schlussendlich neben ihr auf der steinernen Kante niederließ. »Eigentlich dürfte ich nicht klagen. Mittlerweile passieren so wenig Schiffe unsere Küste, dass die gestrige Nacht schon fast an einem Wunder grenzt.«

Unauffällig musterte Leukosia die älteste Sirene im Bunde, die zu jeder Zeit mit ihrem offenkundigem Selbstbewusstsein hausieren ging. Ihr kreidebleiches Gesicht schien wie aus Marmor geschlagen, wies aber nichtsdestotrotz ein paar harte Züge auf. Kleine, kaum sichtbare Risse in einem nahezu perfektem Antlitz.

Wallendes, krebsrotes Haar setzte waldgrüne Augen und einen geschwungenen Schmollmond gekonnt in Szene, liebreizende Aspekte, die bereits viele törichte Männer buchstäblich um den Verstand gebracht hatten. Sowohl ihr Fischschwanz als auch das dazugehörige Korallenkorsett schimmerten in ihrer voller Pracht und erinnerten durchaus an den Anblick von lichtem Meeresgras.

»Trotzdem war der Ausflug schön. Unseren Weg haben sogar drei Nereiden gekreuzt, die ein ziemlich großes Interesse an einer gepflegten Unterhaltung gehabt hatten. Freundlich und nett, muss ich schon sagen«, erklärte Himeropa ihre eigene Sicht der Dinge, während ein federleichtes Lächeln ihre sanften Züge zierte.

Im Gegensatz zu den anderen Zwei schien das Haar der Jüngsten blond gefärbt, welches unter dem strahlenden Schein der Sonne fast übernatürlich weiß funkelte. Himmelblaue Iriden, stets einen friedvollen Ausdruck in sich tragend, verliehen ihr neben den butterweichen Gesichtszügen eine Aura der reinen Unschuld.

Derweilen griff Aglaophonos träge mit ein paar Fingern nach einer kleiner Fuhre Sand, nur um gleich darauf die feinen Körner wieder sanft herab rieseln zu lassen.

»Abgesehen davon, wartet eine Überraschung auf dich, weißt du? Diese sollte auch in Kürze hier eintreffen.«

Wie aufs Stichwort horchte Leukosia neugierig auf.

»Von welcher Überraschung sprichst du?«

Aglaophonos, die nun breit von Ohr zu Ohr grinste, streckte ihr daraufhin frech die Zunge entgegen.

»Jetzt sag schon! Spann mich bitte nicht auf die Folter! Und wehe deine Überraschung läuft wieder mal auf einen grässlichen Streich heraus. Ich hab das letzte Mal noch ziemlich gut im Gedächtnis, weißt du?«

»Also gut«, kicherte die neckende Meerjungfrau hinter einer vorgehaltener Hand »Dich kann man heute wieder leicht zur Weißglut treiben, was? Aber ich will, gnädig wie ich bin, deine Qualen lindern und sage dir, dass du dich geschwind umdrehen solltest! Kalypso ist nämlich soeben durch den Seiteneingang geschlüpft.«

Ruckartig folgte Leukosia dem Vorschlag ihrer Schwester, drehte den Kopf leicht nach hinten, nur um gleich darauf das grinsende Gesicht ihrer besten Freundin zu erblicken.

»Sei gegrüßt, Leukosia. Wenn ich deinen Ausdruck richtig deute, hast du mich heute nicht erwartet, was?«

Und dort, im einzig begehbaren Zugang dieser Höhle, stand die Meeresnymphe Kalypso, Tochter von Atlas und Pleione und die rechte Hand von Poseidon. Ihr hart erarbeiteter Ruf, nicht unbedingt zimperlich mit Feinden umzugehen, eilte ihr stets voraus und schwebte wie ein Damoklesschwert über dem stolzen Haupt hinweg.

Lange, bronzefarbene Locken umrahmten hierbei ein herzförmiges Antlitz, dessen Teint sich stets in das Gewand des Sonnenkusses einkleidete. Rehbraune Augen, sinnlich geschwungene Lippen und eine adrette Nase vervollständigten ihr edles Auftreten.

Um ihren kurvigen Körper schmiegte sich der gängige Chiton, ein weißes Tunikagewand inklusive eines hellbraunen Umhangs, der wiederum auf den klangvollen Namen Himation hörte. Befestigt schienen die unterschiedlich großen Leinenstoffe mit goldenen Klammern, die wohl allesamt Krebse darstellen sollten.

So ungefähr hatte Kalypso ihr die Funktionalität dieser modernen Kleidung während des letzten, freundschaftlichen Treffens zu erklären versucht.

Leukosia fragte sich abermals, wie viele Jahrhunderte es wohl her war, seit dem sie selbst fallende Stoffe auf ihrer früheren menschlichen Gestalt gespürt haben musste. Ein paar Erinnerungen spukten zwar noch dunkel in ihrem Kopf umher, doch ob diese tatsächlich nach all der vergangenen Zeit der Wahrheit entsprachen, stand hingegen auf einem völlig anderen Blatt.

Alles in allem gedachte die Sirene aber die Freundschaft mit der Meeresnymphe, die sich in all der vergangenen Zeit wie ein güldenes Band um beider Seelen geschmiegt hatte, für keinen Preis der Welt mehr missen zu wollen.

Odysseus, ein legendärer Held, hatte nämlich nicht nur ihr, sondern auch Kalypso ziemlich übel mitgespielt. Aber darüber wollte sich die Sirene gerade nicht den Kopf zerbrechen, lieber wollte sie im Hier und Jetzt bleiben.

Mit größter Sicherheit basierte der Grund ihres Besuchs darauf, sie alle auf den neusten Stand bezüglich der übernatürlichen Sphäre als auch der Welt der Menschen zu bringen. Aufgrund der lästigen Unfähigkeit, sich aus eigener Kraft Beine wachsen zu lassen, schienen die Schwestern zeitwährend an die launische Natur des Meeres gebunden und blieben somit seit langer langer Zeit von allem Ländlichen getrennt.

Obgleich sich Leukosia nicht unbedingt als Klatschweib betrachtete, so gefiel ihr doch den aktuellen Tratsch aus Kalypsos redseligem Munde zu hören. Quasi wer mit wem das Bette teilte oder welch törichter Narr wieder einmal Zeus sichtbare Stirnvene vor Zorn zum Pulsieren gebracht hatte.

Alles erheiternde Erzählungen, für die Leukosia durchaus großes Interesse empfand. Schließlich strotze das Meer nicht unbedingt vor lüsternen Skandalen oder wilden Faustkämpfen auf Leben und Tod.

Lachend winkte sie ihrer besten Freundin zu, ehe der Schalk in ihren Augen aufblitzte.

»Kalypso. Mit dir hätte ich wahrlich  nicht gerechnet. Aber dafür freue ich mich umso mehr dich in unser nassen Gruft willkommen zu heißen. Sag mir, welchem Grund verdanken wir denn deinem spontanen Besuch? Reine Langeweile?«

Mit der Eleganz eines Delfins, der aus den Wellen sprang, ließ sich die grinsende Meeresnymphe auf einen nahegelegenen Felsvorsprung nieder. Auch in ihren Augen funkte ein Hauch von Humor auf.

»Ach, Leukosia. Warum muss es denn immer einen konkreten Anlass für mein Vorbeischauen geben? Kann ich nicht einfach meine liebsten Sirenen heimsuchen ohne gleich in meiner Motivation hinterfragt zu werden?«

»Nein, kannst du nicht.« Aglaophonos, die gleich einer launischen Göttin auf der Felskante ruhte, warf sogleich einen spöttischen Blick in Kalypsos Richtung. »Wenn du hier auftauchst, bedeutet das in der Regel entweder Ärger oder Klatsch - und ich bin an bei beidem stark interessiert, vielen Dank der Nachfrage. Spuck also aus, was du für Neuigkeiten an uns zu berichten hast, oh rechte Hand Poseidons!«

Unwillkürlich zog Kalypso eine gezupfte Augenbraue hoch.

»Wie ich sehe, hat sich unser Rotschopf noch immer keinerlei Umgangsformen angeeignet«, erwiderte die Nymphe näselnden Tonfalls, obwohl ihre erheiterte Miene verriet, dass sie sich keinesfalls von den fordernden Worten der Sirene beleidigt fühlte.

Gleich darauf schenkte die Besucherin ihrer besten Freundin einen wissenden Blick.

»Ich sag's ja nicht gern, aber deiner Schwester sollten irgendwann einmal die Hammelbeine lang gezogen werden. Irgendwann wird einmal der Tag kommen, an dem sich ihr vorlautes Mundwerk bestimmt rächen wird.«

»Aglaophonos und Manieren? Da lernen wohl eher Schweine fliegen, als dass sich meine zauberhafte Schwester mal in feiner Zurückhaltung übt«, zwitscherte Leukosia fröhlich, woraufhin sie sich nur Sekunden später einen kleinen Klaps auf den Hinterkopf einfing. Zwar schenkte ihr die älteste Sirene einen bösen Blick, doch die zuckenden Mundwinkel straften der Geste rasch Lügen.

Währenddessen zog Kalypso einen nassen Stoffsack aus der Dunkelheit hervor und stellte diesen mit einem dumpfen Laut auf den steinernen Boden ab.

»Was... bei Zeus langem Gemächt, ist denn das?«, fragte Leukosia rundheraus, während in ihren Augen deutliches  Interesse aufblitzte.

»Geduld, meine Liebe«, plädierte Kalypso lachend für Ruhe und Ordnung. Geschwind öffnete sie den Sack und zog sogleich mit flinken Fingern ein paar gülden schimmernde Amphoren heraus.

Aglaophonos schnappte nun regelrecht  nach Luft.

»Ist das etwa Ambrosiawein? Ich dachte, diese Köstlichkeit wäre allein den mächtigen Olympiern vorbehalten. Nicht für den Pöbel, wie uns zum Beispiel.«

»Exakt«, bestätigte Kalypso, während ihre Stimme vor hörbarem Stolz vibrierte. »Hermes war so freundlich, mir während unseres letzten Treffens ein paar Flaschen mit auf den Weg zu geben.«

»Hermes? Unser liebster Schlitzohr-Götterbote? Warum, bei Zeus grellem Blitz, verkehrst du mit ihm und weshalb sollte er ausgerechnet dir Ambrosiawein überlassen?«, fragte Leukosia überdeutlich nach, während ein wissendes Grinsen um ihre Lippen spielte.

Kalypso lächelte geheimnisvoll.

»Sagen wir einfach, ich habe ihm bei einer ... delikaten Angelegenheit geholfen.«

Abwägend neigte Leukosia ihren Kopf zur Seite.

»Wirklich? Ich höre eher aus deinen Worten heraus, dass es sich vielleicht hierbei um den Beginn einer epischen Liebesgeschichte handelt? Lüg mir nichts vor, ich kenne dich doch. So wie du übers Gesicht strahlst, scheint mit doch die Sache ganz eindeutig.«

»Liebe? Bei Hades' dunkler Unterwelt, nein

Erschrocken riss Kalypso die Augen weit auf, ganz so, als hätte Leukosia sie gerade eben nach dem Verkauf ihrer Seele gefragt und keine harmlose Frage gestellt.

»Ich gebe doch meine Unabhängigkeit für keinen Mann der Welt auf, nicht mal, wenn er der Bote der Götter höchstpersönlich ist!«, rief Kalypso theatralisch aus und hob dabei die Hände in gespielter Verzweiflung gen Höhlendecke. »Lieber tanze ich den Kalamatianós mit der Hydra! Und glaub mir, das würde für niemanden ein gutes Ende nehmen.«

Schnaufend winkte die Ewige jegliche Erwiderung mit fahrigen Handbewegungen ab.

»Mal im Ernst: Abgesehen von... sagen wir mal... einer sehr erfreulichen körperlichen Dynamik und einer unkomplizierten Freundschaft läuft da gar nichts. Und da wird auch nie mehr laufen!«

Nur mit Mühe konnte Leukosia ein aufgestiegenes Lachen in ihrer Kehle niederringen. Gerade weil Kalypso die Unterstellung so vehement und mit voller Inbrunst abstritt, kaufte sie ihrer besten Freundin kein einziges Wort ab.

Abgesehen davon sprach auch das zarte Rosa auf ihren Wangen durchaus Bände. Doch fürs Erste würde de Sirene das Thema in sich ruhen lassen. Sobald sich eine ruhigere Minute bot, würde sie allerdings den Faden des los gelassenen Gesprächs wieder aufnehmen.

»Na schön, sei's drum«, meinte Leukosia geflissentlichen Tonfalls, ehe sie sich ein Stück weit gerader aufsetzte. »Was hast du uns also zu berichten Vielleicht magst du ja endlich mal mit der Sprache heraus rücken? Oder soll ich dir noch länger die Details deiner kleinen Tändelei aus der Nase ziehen?«

Kalypso knurrte, ehe sie tiefe Luftzüge einholte.

»Tändelei, pah! Aber wie ihr wollt. Ihr sollt unbedingt wissen, dass sich die Menschen in Athenai auf einen Aufstand vorbereiten.«

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