5. nurawaister [dauernd-wach-sein]
Sintel gibt nicht auf.
Sie passiert die Einöden, die riesigen, kahlen Ebenen voller Felsen und toter Baumstümpfe. Graue, vertrocknete Grasbüschel zeugen von den weitläufigen Wiesen, die es hier gegeben haben muss, bevor die Sonnenstürme alles Leben gefressen haben. Steine und Skelette beobachten stumm, wie harte, rhythmische Schritte auf den steinernen Boden prasseln und ihr Schatten zieht lautlos in der Todesstille der Einöde hinter ihr her. Sie läuft, auch wenn ihre Füße schmerzen, durch die Nacht, bis ein zartrosa Morgen anbricht, immer in Bewegung, ihren Wanderstab gesenkt, als wollte sie jemanden angreifen.
Sintel durchquert die Große Sandwüste, zieht an den Kolonien der Gräbervölker vorbei, bis sie deren termitenhügelartige Städte hinter sich gelassen hat und wieder völlig allein ist. Glühend heiß brennt die Sonne vom nahezu wolkenlosen Himmel auf sie herab, während sie Düne für Düne erklimmt, sich den Schwaden an goldgelben Sandkörnern widersetzt, die der Sturm ihr ins Gesicht schleudert.
Sie schlägt sich durch die Wälder, in denen niemand ihre Sprache spricht, und die ihr unbekannt sind. Sie hat Pyropolis nie verlassen, aber von dieser grünen, lichtdurchfluteten Wildnis hat sie noch nicht einmal gehört. Sie begegnet kaum einem Wesen außer den bunten, schillernden Schmetterlingen, die überall um die langen, bambusähnlichen Stangen herumflattern. Sintels Schritte sind weich auf dem grasbewachsenen Boden, in dem die grauen Steine fast bläulich scheinen, und es fällt ihr leicht, voranzukommen. Dafür ist es schwer, ihren Weg zu finden. Es gibt niemanden, den sie nach den Drachen fragen kann, und wenn jemanden gefunden hat, kann sie es ihm nur schwer begreiflich machen. Außerdem verschwinden die Drachenspuren so schnell unter dem Moos, dass sie sich nach ein paar Tagen hilflos verlaufen hat.
Als der Dschungel langsam in felsigeres Gebiet übergeht, hat Sintel das Zeitgefühl völlig verloren. Lange wandert sie durch grobe, nackte Höhlen, bis ihr das Proviant ausgeht, und macht sich Markierungen an den braunen Steintürmen mit den feinen, länglichen, schwarzen Streifen, damit sie weiß, wo sie schon einmal vorbeigekommen ist. Mehr als einmal muss sie sich gegen hässliche, große Katzen behaupten, feindselige, wütende Tiere mit einem bedrohlichen Knurren, spitzen Zähnen und gestreiftem Fell.
Als der Regen einsetzt, ist sie fast erleichtert, wieder grüne Wiesen anstatt des roten Geröllbodens unter ihren Füßen zu spüren. Doch je tiefer sie in die flachen Ebenen hineingelangt, desto stärker werden die Schauer, und bald schlägt die angenehme Abkühlung in aggressiven Sturmregen über. Nebel und Dunkelheit, Blitz und Donner empfangen Sintel, und selbst, wenn sie ihren robusten Mantel, der ihr bisher immer gute Dienste geleistet hat, tief ins Gesicht zieht, spürt sie die klamme Kälte des Wassers. Das Haar klebt ihr an der Stirn und ihre Schritte werden schwerer und schwerer; wann Tag und Nacht ist, weiß sie nicht mehr, weil die Finsternis sie ständig umgibt. Sintel kann auch kaum schlafen; es ist schwer, einen Unterschlupf zu finden, der nicht durchnässt ist, und wenn sie doch vor Erschöpfung zu Boden sinkt, zittert sie vor Kälte bis in den Schlaf hinein. Irgendwann übermannt die Krankheit sie und sie muss rasten, Sintel weiß nicht, wie lange.
Dann, als sie denkt, dass es nicht mehr schlimmer werden kann, geht der Regen in Schnee über. Berge tun sich vor ihr auf, Berge, die noch weniger Schutz bieten, Berge voller Schnee und Kälte, und Sintel weiß, dass sie nicht lange darin überleben wird. Sie hat sich geschworen, Scales nicht alleine zu lassen, und das wird sie nicht. Aber wenn sie es nicht schafft, wird sie in diesen Bergen sterben.
Wenigstens manchmalbblitzt die Sonne hervor, wenn der Schneesturm nachgelassen hat. Aber an vielen Tagen ist der Wind und der Schnee unbarmherzig und ihr Weg steil. Sintel nutzt ihren Stab, um voranzukommen, doch oft muss sie klettern und braucht beide Hände. Der Stein ist rau unter ihren Händen, ihre Handschuhe abgewetzt, ihre Finger von der Kälte taub, aber sie kann ihren Körper auf das nächste Plateau hinaufziehen. Es ist nur eines von hunderttausend, die noch vor ihr liegen, das weiß sie. Aber daran darf sie nicht denken. Das kann sie sich nicht erlauben.
Erschöpft geht sie weiter, ihre Füße von den ermüdenden Schritten im Schnee schmerzend. Ein Schritt, zwei, drei, vier, das Gesicht in ihren Mantel gehüllt. Langsam pustet sie ihren warmen Atem in den Nebel hinaus, die Kälte brennt auf ihrer Haut. Schon lange hätte sie gern Halt gemacht, hätte sie Halt machen sollen. Aber in diesen Bergen gibt es nichts als Felsen, Schnee und Nebel.
Sie starrt weiter in den weißen Dunst hinein. So weit ist sie schon gekommen. Hoch, aber nicht hoch genug.
Plötzlich ist da ein Geräusch hinter ihr, ein Sirren in der Luft. Eine Bewegung. Eine Silhouette, die von der Anhöhe springt. Ein Mann, in seiner Hand eine Lanze und –
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