3. psipatril [seele-heimat]

»Shhht.« Beruhigend streicht Sintel dem kleinen Drachen über die winzigen Schuppen, doch es hilft nicht. »Wir sind fast fertig.« Ein lautes Schreien, ein quäkender schmerzvoller Schrei erfüllt das winzige Lager, das Sintels Zuhause in der großen, heißen Stadt voll Hütten und Häuschen geworden ist.
Mit einem herzzerreißenden Quieken versucht der Drache, von Sintels Schoß zu entkommen. Sie hat die Beine im Schneidersitz gelegt und versucht mit Mühe, das Junge abzuwaschen; nur sehr schwer kann sie es festhalten.

Sintels Heim besteht aus einer Ansammlung von Stoffen und Decken, die Rückwand des improvisierten Hauses bildet die kühle Backsteinwand eines verlassenen Gebäudes; mit dicken Seilen vertäute Holzbalken sind das Gerippe der zusammengebastelte Hütten, deren Dach aus großen, schweren Planen besteht. An vielen Ecken bleibt ein kantiges Loch, durch das am Tag die Mittagssonne und nachts der Mond herein scheinen.
Das Bett besteht aus einer Matratze, die von einem selbstgebauten Holzrahmen umgeben ist und direkt auf dem Boden liegt, zwei rotbraune Decken sind darauf platziert – eine als Laken, eine zum Zudecken, denn in der Nacht kann es auch kühler werden, und außerdem ist der Schutz einer Bettdecke ein Privileg, den Sintel auf keinen Fall wieder abgeben will.
Ihre Habseligkeiten sind in blockartigen Paketen verschnürt und teilweise selbst in das Haus miteingearbeitet, sodass es Dieben weniger leicht gemacht wird, sie zu stehlen. Vor ihrem Schlaflager steht ein Eimer mit sauberem Wasser, mit dem sie einen Lappen befeuchtet hat, um den kleinen Drachen zu waschen.

»Hey!« Tadelnd hält Sintel das unbändige Bündel zurück. »Bleib ruhig!«
Vorsichtig begutachtet sie die Wunde; sie ist nicht sehr breit, weniger noch als ein Viertel des linken Flügels ist eingerissen. Dafür ist die Verletzung tief, hat diesen gänzlich durchschnitten, und teils getrocknetes, teils warmes Blut bedeckt die Hälfte der sanft orange-hellbraunen, dünnen Haut.
Diesmal scheint der Drache auf sie zu hören. Obwohl sie ihn energisch nach hinten drücken muss, bleibt er in ihrem Schoß liegen, rollt sanft auf den Rücken, gibt nur noch ein leises Quäken von sich und sieht sie mit großen Augen an.
Auf Sintels Lippen spiegelt sich ein zufriedenes Lächeln: Es wird nicht lange dauern, dann wird die Wunde verheilt sein.

Vorsichtig reibt sie mit einem feuchten Tuch über das Blut. Sie will den Drachen nicht erschrecken, aber nun bewegt er sich kaum noch, sondern schaut sie noch immer neugierig an. Sie lächelt ihm aufmunternd zu. In den Lichtvierecken, die die Löcher in den Dachplanen auf das Lager werfen, wirken ihre Haare wärmer, nahezu rosafarben.
Behutsam neigt sie den Kopf und sieht dem Kleinen für einen Moment an. Er gibt einen fast kleinlauten schnorchelnden Ton von sich und verzieht die Lippen, sodass es fast wie ein Grinsen wirkt. Die großen schwarzen Pupillen glänzen im matten Licht.
Sintel schnaubt belustigt. Dann setzt sie den Drachen vorsichtig ab und beginnt, ein kleines Lager herzurichten; eine Decke und ein Tongefäß mit Wasser müssen reichen.

Mit einem Ruck stellt sie die dunkle Schale mit der klaren Flüssigkeit darin ab. Der kleine schillernde Spiegel darin schwappt leicht an der gebrannten Oberfläche auf und ab, bleibt aber in seinem Behältnis. Sintel drückt den schwarzen Stoff daneben auf dem Boden fest, ihre dunklen Handschuhe, die die Hälfte ihrer Finger bedecken, erzeugen ein sanftes, wattiges Geräusch darauf.
Der Drache krabbelt langsam auf sein Schlaflager zu. Er liegt zu Sintels Füßen am anderen Ende der Matratze, auf der sie sich unter der im Mondlicht rosa wirkenden Decke ihr Nachtlager eingerichtet hat. Von gediegenem, fast warmem Dunkelblau ist die kleine Hütte erfüllt, und die Erschöpfung steckt Sintel tief in den Gliedern.
Müde legt sich das kleine Bündel auf die Seite, rollt sich ein und schließt die großen Augen. Sintel schlägt ebenfalls die Decke über ihren Körper. Es ist eine laue Nacht, aber sie hat trotzdem das Bedürfnis nach Schutz.

Ihre Lider sind noch nicht geschlossen. Sintel überlegt, ob sie etwas sagen soll, auch wenn sie der Drache nicht verstehen wird. Es ist so ungewohnt laut; da ist nicht nur ihr eigener Atem, den Sintel nur zu gut kennt, und die üblichen Nachtgeräusche – das hohe Sirren der Stadt, das mit der Dunkelheit einsetzt – sondern auch dünne, pfeifende, aber ruhige Stöße vonseiten ihres kleinen Gefährten.
Sie wirft einen Blick auf das Junge. Vielleicht schläft es auch schon; es hat doch einiges hinter sich. Ob sie dem Drachen das Leben gerettet hat?
Ein Lächeln fliegt über ihr Gesicht, denn nein, es ist nicht mehr irgendein Drache.
Sintel lässt ihre Augen zufallen. »Gute Nacht, Scales.«

[ ]

Der Hahn rennt um sein Leben.
Helles Klingeln begleitet das aufgeregte, erschöpfte Gegacker des weiß gescheckten Tieres. Irgendwoher trillern fröhliche, schnelle Flötentöne und Sintels hastige, unbeschwerte Tritte tocken leicht auf dem braunen Kopfsteinpflaster. »Los! Schnapp ihn dir!«

Die Gasse ist recht schmal; Sintel muss aufpassen, damit sie nicht gegen die herumliegenden Bretter, umgestürzten Leitern und aufgestapelten Fässer läuft oder an einer Mülltonne, einem Steinblock oder einem Ziegelhaufen hängen bleibt. Große, knorpelige Netze sind über das Gerümpel gespannt, hier und da liegen riesige Platten Wellenblech und halbfertige Holzkonstruktionen halten staubige Planen. Darüber strahlt der blaue Himmel mit seinen fetzenartigen weißen Wolken, dessen gleißendes Sonnenlicht alle Holzverstrebungen und Tücher fast weiß erscheinen lässt.

»Komm schon, hol ihn dir!« Der Hahn flüchtet laut gackernd durch eine umgestürzte Leiter; panisch schlägt er mit den hellen Flügeln und reckt den roten Kamm auf seinem Kopf in die Luft. Scales springt ihm mühelos mit leuchtenden bernsteinfarbenen Augen nach; sein kleiner Körper huscht blitzschnell über das heiße Pflaster. Sintel folgt den beiden, so schnell sie kann, springt über eine Kiste, rennt vorbei an ein paar Leuten, darunter eine blonde Frau im olivgrünen Gewand, die überrascht zurückweicht, als Sintel vorbeischießt. Ihr helles Lachen klingt durch die fast kleine Gasse, als sie um eine Ecke spurtet, an der vor den weißen, neuen Fachwerkhäusern eine Sammlung orangefarbener Kürbisse verkauft wird; dabei stößt sie fast mit braunhaariger Magd zusammen, die einen Korb mit Obst trägt, den sie fast fallen gelassen hätte. Sintel achtet nicht auf ihr missbilligendes »Uuh!« und auch nicht darauf, dass sie gleich darauf einen Kasten Äpfel umwirft, die raschelnd zu ihren Füßen über den Steinboden kullern. Der Hahn vor ihr springt über einen Karren mit Fässern, der vor ihr auf der Straße lehnt, und dann ist er weg.

Sintel sieht sich um.

»Scales?« Ihr Atem ist laut und vom Laufen ganz schwer, ihre Stimme verunsichert, ängstlich. Der kleine Drache hat sich in den letzten Wochen prächtig entwickelt und die Verletzung an seinem Flügel ist gut geheilt und vernarbt, aber wer weiß, was einem quirligen, unachtsamen Wesen wie ihm in seiner Neugier zustoßen kann?
Abwartend bleibt sie stehen, wippt ungeduldig hin und her. Wo ist er? Weit kann er nicht gekommen sein. Und sie kann auch weder seine trippelnden kleinen Krallen hören noch das todesängstliche Gegacker des Hahnes.

Der Hof vor ihr wird von der Sonne beleuchtet, die sich schon wieder auf den Weg gen Horizont macht; es ist bereits Nachmittag, und eckige Schatten schmücken das grau-braune Pflaster. Vor Sintel geht ein Mann mit einem groben Sack über der Schulter, links ein Baumeister, der sich wohl an einem Holzgerüst zu schaffen macht, vorn lehnt eine Frau an einem Steinblock, der wohl einmal ein Brunnen werden soll. Gerümpel. Holz. Stoff. Stein. Kein Scales.
Vorsichtig macht sie ein paar Schritte nach vorn, dreht dabei den Kopf aufmerksam nach links und rechts. Ein Mann mit Haube kreuzt ihren Weg, doch sie beachtet ihn nicht. Jetzt, wo sie so ruhig und angespannt steht, ist ihr Tattoo deutlich erkennbar. Es ist ein Drache, der auf ihrer Haut prangt.

Plötzlich ertönt ein schrilles Hühnerquieken und Sintel zuckt zusammen. Mit einem dumpfen Plumpsen landet der Hahn vor ihren Füßen, ein toter, regungsloser Körper, dem langsam kleine weiß-braune Federn nachrieseln. Sintel sieht nach oben.
Über ihrem Kopf flattert Scales auf eine der Holzstangen, offensichtlich stolz auf seine Beute. Frech schnaubt er eine kleine Feuerwolke in die Luft, als wollte er kommentieren, wie leicht ihm diese Jagd gefallen sei.

Sintel ist sprachlos. Ihre Augen werden größer, in der der Sonne leuchtend wie die Scales', und sie schnaubt einmal scharf, blinzelt ungläubig. Dann verzieht sie die schmalen Lippen zu einem spitzen, verschmitzten Lächeln, und löst ihren Blick von dem kleinen Wesen über ihr. In der Ferne zieht ein gutes Dutzend junger Drachen leise quiekend über den Himmel.
Scales wendet sich ebenfalls um, als er die winzige Bewegung in Sintels Augen erkennt. Er reckt den Körper nach oben, als habe er Sehnsucht nach der kleinen Schar. Dann blickt er zu Sintel zurück, und in seinen Augen liegt ein lebhaftes, herausforderndes Strahlen.

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