2. skalen [schuppen]
Schweigend liegt Pyropolis in der prallen Mittagssonne, vorsichtig und gepresst atmend, ein gewaltiger, bewegungsloser Körper inmitten von Staub und Schmutz.
Wie ein schweres Tuch ist die Hitze über der Stadt ausgebreitet, drückend füllt sie die vielen schmalen Gassen mit schwirrender Wärme und völliger Stille. Kein Wasserrauschen, kein Kinderlärm, kein Maschinengerappel, kein Menschengeschrei, kein Vogelzwitschern - doch man hört die Stadt atmen, leise und langsam, aber bemerkbar. Ein riesiger Blasebalg, verschmolzen mit der warmen, dampfenden Erde unter ihm.
Wie in tiefem Schlaf wirken die Gassen, doch die Ruhe täuscht: Es ist keine friedliche Stille, nein, es ist ein erwartungsvolles, angsterfülltes Schweigen.
Noch nie waren die Einwohner von Pyropolis sehr reich gewesen und schon immer hatte die Stadt, wenn sie auch im Laufe der Zeit gewaltige Ausmaße angenommen hatte, eher den Status der von kultivierten Menschen belächelten Lumpenmetropole erhalten. Denn wer würde schon so weit südlich siedeln, wer würde dort leben, wo allein die Mittagssonne reichte, um mit einem winzigen, auf Glas treffenden Strahl, ein Feuer zu entfachen, das ganze Stadtbezirke vernichten konnte?
Nun, aber man hatte es getan. Hatte die Häuser aufgegeben, viele Male, hatte die Armenviertel wieder und wieder aufgebaut, sich um die Waisen gekümmert, alle mit Wasser versorgt. Und man hatte das Verbot von Glas an der offenen Sonne während der drei Mittagsstunden erlassen - eine Regel, an die sich jeder hielt. Die meisten Bürger verbrachten jene drei Stunden sowieso lieber im Inneren ihrer Hütten, weil die Wärme teilweise solch unerträgliche Ausmaße annahm, dass man das Gefühl hatte, bei lebendigem Leibe zu verbrennen.
Die meisten Häuser sind klein, als sei man bei ihrem Errichten darauf bedacht gewesen, nicht allzu viel Wertvolles zu erschaffen, damit man nicht viel verlieren würde, wenn die Flammen wieder einmal in den engen, staubigen Gassen wüteten. Vielleicht aber liegt es auch an dem fehlenden Geld, das die Einwohner dazu veranlasste, nur winzige Baracken mit gräulich-braunen Dächern zu bauen.
Eine lange, zinnenbesetzte Stadtmauer grenzt die Stadt von den trostlosen Hügeln ab, die am Horizont liegen, schließt die kahlen, sanft geschwungenen Bergsegmente aus von der chaotischen, staubschnaufenden Atmosphäre des Hüttenmeeres. Der Wachturm ragt vor dem hellen, bewölkten Himmel auf, mit seinem gläsernen Fenster und den kunstvollen steinernen Verzierungen, als wollte er daran erinnern, wie reich und angesehen Pyropolis einst gewesen war - genauso, wie die mächtige Burgruine, die auf einem Hügel stolz, aber verlassen aus der Flut aus hellen und dunklen Vierecken heraussticht.
Eine lange Treppe führt nach oben, hin zu dem festen, in den Stein gehauenen Boden der ehemaligen Prachtfestung. Eine Prachtfestung, das war sie gewesen, bevor das Feuer zum ersten Mal gekommen war, der Stolz von Pyropolis und der Stolz des ganzen Landes. Dann hatten die Wiederaufbauten begonnen, das Errichten neuer Hütten und Häuser, das Aufstellen von Märkten und Mauern ... nicht aber der Mauern des Monuments, das die gesamte Welt über Jahrhunderte in Ehren gehalten hatte. Wohngebiete hatten begonnen, an den Rändern der kunstvollen Bauten zu nagen und schließlich alles gefressen, was nicht wieder hochgezogen worden war. Doch nur bis zu den Ausläufen des Hügels hatte der Hunger der Holzwände und Ziegeldächern gereicht, dann hatte die Ehrfurcht vor den ehemaligen Kuppelbauten, Steinfiguren und Säulenreihen sie eingeschüchtert.
Und so ist die Burgruine geblieben, ein Mahnmal dafür, dass Pyropolis vergänglich war. Dafür, dass Pyropolis ersetzbar war, dass Pyropolis arm war. Und, dass die Gefahr vor dem Feuer jede Sekunde aufs Neue droht.
In einer dieser Gassen, voll von Staub und Schmutz, verlassen, aber noch am Leben, kniet ein Mädchen, eine junge Frau.
Die kleine Straße ist sehr eng, mehr eine lange Reihe von herumliegenden Pflastersteinen zwischen den Hütten, links und rechts wird sie von Wänden aus sorgfältig aufeinandergeschichteten Steinen und Ziegeldächern zusammengedrückt. Der Putz an der Wand ist noch zum größten Teil unversehrt, aber Türen und Fenster sind zugenagelt und versperrt, das Straßenpflaster kaputt. Behelfsmäßige Tücher zwischen den Dächern scheinen Schatten spenden zu wollen, sie tauchen die Gasse in ein beiges, helles Licht. Die Wärme ist gepresst, die Luft dick und abgestanden, und Krähen krächzen in der Ferne, doch sonst ist es still, der Atem der Stadt ist hier ganz leise, ganz warm und fast lautlos. Holzscheite liegen herum, abgefallen von den Fenstern und Balkonen der trostlosen Häuser, und bei einem dieser Holzscheite kniet Sintel.
Sie trägt eine dunkelbraune Hose aus vielen zusammengenähten Lederfetzen, zwei verschiedene Stiefel, einer mit verstaubten Metallplatten und einen, der mit provisorischen Stoffbändern verbunden worden ist, damit er hält. Ihr Oberteil ist grau und ärmellos, und auf der linken Seite trägt sie sowohl einen Armschutz aus Stoff als auch eine metallene Platte auf der Schulter, die die schwächere Seite vor Angriffen schützen soll. Die schmalen Finger sind eingewickelt in braune Handschuhe, die die Fingerkuppen freilassen, und um die Taille herum trägt sie ein ledernes Band, das vorne zugeschnürt ist. An einem Gürtel hängt ein Messer, ein kleiner Behälter und eine ehemals silbrig glänzende Platte, die an der seitlichen Hüfte Messerstöße abfangen soll.
Auf der linken Seite zwischen Schulter und Brust prangt ein graubrauenes, durch den Staub verblasstes Tattoo, spiralenförmige, dicke Linien, die sich ineinander verschlingen und ein Motiv darstellen, dass man nicht erkennen kann, während sie sich bewegt.
Mit einer ruckartigen, gleichgültigen Bewegung steht sie auf, schiebt routiniert eine Bretterwand beiseite. Als sie ein Brett vor sich wegrückt, sirren ihr Fliegen über den in der Mittagshitze stinkenden Abfällen in einem hölzernen Behälter entgegen. Sintel versucht, mit einer Handbewegung sowohl die Insekten als auch den Gestank zu vertreiben. Enttäuscht lässt sie das Brett wieder sinken. Ihre Augen sind dunkel, irgendwie voller Gleichgültigkeit, und obwohl sie noch immer glänzen, haben sich tiefe Schatten daruntergelegt; ihre Haare sind nicht nur rot, sondern auch schwarz vom Schmutz und kurz, geschnitten von einem einfachen, stumpfen Messer, ihre Kleidung ebenfalls verdreckt.
Prüfend hebt Sintel eine orangene Frucht aus der vermatschten Masse, aber sie ist verschimmelt und sie riecht nicht mehr so, als könnte man sie noch essen. Achtlos verschwindet sie wieder zwischen den Abfällen und eine zweite Frucht, eine Drachenfrucht wird vorsichtig begutachtet.
Doch noch bevor die junge Frau sich genauer damit befassen kann, ertönt ein lautes Geräusch, wie von etwas, das auf harte Dachziegel fällt, ein Plumpsen in der Stille des Stadtatems. Etwas fällt nach unten, etwas Helles, aber was es ist, ist nicht zu erkennen. Sintel sieht auf, kneift misstrauisch die Augen zusammen.
Nein, ein Feuer ist es nicht. Feuer klingt anders. Feuer zischt, Feuer schnaubt, windet sich bedrohlich durch die Gassen, frisst mit einem Schmatzen und brennt mit knarrenden, Funken sprühenden, knackenden Lauten.
Sintel ist nicht neugierig. Aber sie ist wachsam, und sie ist misstrauisch. Sie ist eine kluge junge Frau, und sie kennt die Gefahren der Gassen von Pyropolis. Sie kennt sie nur zu gut.
Die Drachenfrucht lässt sie wieder zurück in die Abfälle fallen, dann springt sie vorsichtig über die losen Pflastersteine, zieht sich an den Brettern einer Hauswand nach oben und zieht noch in der Bewegung ihr Messer. Ihr Herz pocht, aber es ist nicht die Aufregung, es ist nicht die Angst. Wer in den Gassen von Pyropolis lebt und überlebt, der muss wissen, welche Gefahren dort lauern können.
Ihre Haare wehen zur Seite, sie verzieht das Gesicht, in der rechten Hand ihr Messer, kniend auf den erhitzten Ziegelplatten des Hausdaches. Sintel will schon nach vorne schießen und zustechen, doch dann erschrickt sie.
Vor ihr sitzt ein Drache.
Es ist ein kleiner Drache, winzige, hellbrauen Schuppen bedecken seinen Körper, und er hat die ledrigen Flügel schützend vor seinen Körper gespannt.
Mit einem Schrei rückt er unbeholfen von Sintel zurück, Panik liegt in seinen Augen. Leise quiekend presst er sich gegen den Schornstein, sein Flügel verrutscht. Blut kommt darunter zum Vorschein, dunkelrotes, dickes Blut, das aus einem Riss an seinem zweiten Flügel rinnt. Er stößt mit dem Kopf an einen kleinen Steinquader, der zu Boden fällt, und ein weiteres verängstigtes Quieken dring aus dem weit aufgerissenen Maul.
Sintel kennt die Gefahren der Stadt. Sintel kennt ihre eigenen Feinde.
Aber sie weiß, dass dieser Drache hier keiner davon ist.
Erschrocken zieht sie das Messer zurück. Vorsicht liegt in ihrem Blick, Überraschung und Mitleid. Sie setzt sich zurück, lässt die Hand sinken. Kneift die Augen zusammen.
Der Drache ist hilflos. Der Drache ist alleine, und er ist hilflos - genau wie sie es gewesen ist.
Sie beugt sich vor, um ihn genauer anzusehen. Das kleine Tier quäkt noch einmal auf, dann ist es ruhig. Blut quillt aus der Wunde am Flügel, verteilt sich unter dem kleinen, geschuppten Körper, vermischt sich mit dem Staub des Daches. Große, braune Augen sehen Sintel an, eingerahmt von den beigen Schuppen, direkt über dem Maul mit den vielen winzigen Zähnen und zwischen den kleinen Hörnern, die nach unten gedreht sind. Angst liegt in den schwarzen Löchern, die seine Pupillen sind, und der geschuppte, kurze Schwanz schabt aufgeregt über das Dach, aber irgendwie ist der Drache ruhig.
Sintel sieht ihn an. Ihre Augen leuchten in einem hellen Bernsteinton, ihre Haare werfen Schatten auf die rechte Seite ihres Gesichtes.
Aufmerksam sieht sie auf, betrachtet das kleine Bündel Elend, den kleinen Körper und das viele Blut, das aus seiner Wunde rinnt.
Dann rutscht sie näher.
Ihre Hände sind frei, das Messer steckt in der Scheide, und kniend schlittert sie über die Dachziegel, langsam, um das kleine Wesen nicht zu erschrecken.
Der Drache quäkt, aber es ist nicht mehr so laut und hell wie zuvor. Er hat das Mäulchen noch immer aufgerissen und er atmet aufgeregt, rutscht ein wenig zurück.
„Schhht." Sintel hält ihm ihre Hand hin, beruhigend, versucht nicht, ihn anzufassen. Es ist eher ein Angebot, es ist nicht nur das Mitleid, das sie ihm entgegenbringt.
Es ist die Gleichheit, es ist das Alleinsein, das sie kennt. Es ist dieses schmerzliche Bewusstsein, das sie genauso oft gefühlt hat.
Der Drache schließt das Maul, schnuppert an ihren Fingern. Vorsichtig begutachtet er die helle Haut, berührt sie mit seiner Schnauze voller Schuppen, die sich anfühlen wie raues Gestein. Er ist ganz still, er schaut sie an mit seinen großen, braunen Augen, und sie schaut zurück mit dem Bernstein in ihren. Und sie beginnt zu lächeln.
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