1. prilogias [vorher-gesagtes]

Eisige Kälte umgibt die Berge.

Der Wind flüstert zischend Geschichten vor sich hin.

Nebel wabert über die verschneiten Hänge und scheint die Täler förmlich zu verkleben, doch auch oben auf den Gipfeln der steinernen Giganten haben die spärlichen Sonnenstrahlen keine Kraft, ihn zu durchdringen. Die massiven Felsen sind in wabernde, weiße Wogen getaucht, unurchsichtig und doch fein wie Spinnweben. Schnee liegt auf dem dunklen Stein und verdeckt das Schwarz darunter, und in der Luft hängen flirrende Flocken.

Eine Gestalt, klein im Gegensatz zu den riesigen Bergen, wandert durch die raue Landschaft. Ihre Schritte sind eintönig, als sei sie schon einen weiten Weg gegangen, und sie trägt einen dicken, langen Mantel. Ihre Rechte umklammert einen Wanderstab aus dunklem, starken Holz, mit dem sie sich beim Laufen im Schnee abstützt, um nicht abzurutschen.

Ihr Weg träg sie auf eine Anhöhe zu, vor der sie jetzt stehen bleibt, und erschöpft dreht sie sich um, um zu sehen, wie weit sie es schon geschafft hat. Ihre linke Hand, in einem Handschuh steckend, der nur die Hälfte eines jeden Fingers bedeckt, greift nach dem Kragen, den sie anstelle einer Kapuze tief in ihr Gesicht gezogen hat. Mit einem Ruck, den sie auf ihren tauben Fingerkuppen nur ganz leicht spürt, zieht sie den Reißverschluss auf.
Das Gesicht einer jungen Frau kommt zum Vorschein, rote, kurze Haare peitschen im heftigen Wind um ihren Kopf.

Langsam pustet sie ihren warmen Atem in den Nebel hinaus, die Kälte brennt auf ihrer Haut. Schon lange hätte sie gern Halt gemacht, hätte sie Halt machen sollen. Aber in diesen Bergen gibz es nichts als Felsen, Schnee und Nebel.
Sie starrt weiter in den weißen Dunst hinein. So weit ist sie schon gekommen. Hoch, aber nicht hoch genug.

Plötzlich ist da ein Geräusch hinter ihr, ein Sirren in der Luft. Eine Bewegung. Eine Silhouette, die von der Anhöhe springt. Ein Mann, und in seiner Hand eine Lanze.

Sie dreht sich blitzschnell um, blockt den Hieb mit ihren Wanderstab ab, fällt aber von der Wucht des Schlages nach hinten. Der Mann geht in die Hocke und federt so den Sprung ab, holt von Neuem aus.
Hiebe prasseln auf sie ein und sie greift nach dem Stab, doch er ist stärker. Seine Schläge treiben sie nach hinten und sie rollt sich über die Schulter ab, steht wieder auf, greift nach dem Stab, doch der ist nicht da.
Und schon ist der Mann wieder vor ihr, drängt sie gehen die Wand. Die harten Felsen stechen ihr in den Rücken, aber sie muss weitermachen. Nicht aufgeben. Nicht aufgeben.
Die messerscharfe Klinge der Sichel saust wieder auf sie zu und gerade noch rechtzeitig kann sie nach links ausweichen. Steinerne Kanten schlagen gegen ihre Wange, aber sie achtet nicht darauf. Weitermachen. Weitermachen.
Ein weiterer Hieb kommt ihr mit voller Wucht entgegen, zieht auf ihren Brustkorb, doch sie greift nach der Lanze. Das dunkle Holz wird gegen ihre Hände gepresst und sie muss die Zähne zusammenbeißen. Ihre Muskeln schmerzen und die Felswand sticht wie tausend Dornen durch den Stoff ihres Mantels hindurch. Durchhalten. Weitermachen.

Der Mann knurrt sie wütend an, seine dunklen Augen glimmen. Sein Oberkörper ist nackt, nur zwei Ledergurte überkreuzen sich in einem goldenen Ornament über seiner Brust und er trägt einen Gürtel. Ein langer Bart hängt von seinem grimmig verzogenen Mund hinab und er hat eine Glatze.
Und er ist stark. Stärker als sie.

Sie kneift die Augen zusammen. Durchhalten. Weitermachen. Ihre Hände sind taub, von der Kälte, von der Kraft, die der Mann ihr entgegenschleudert. Er zieht sie zu sich hin, schlägt sie gegen die Felswand. Einmal, noch einmal. Schmerzen ziehen über ihren Rücken und ihren Kopf und helle Lichtblitze tanzen vor ihren Augen, so wuchtig ist der Schlag.

Nicht aufgeben. Weitermachen.

Ein weiteres Mal zieht er an der Lanze, sie stürzt nach vorne. Im Fall rutscht ihre Linke zu ihrem Gürtel, greift nach dem Messer und mit einer ruckartigen Bewegung sticht sie auf den Glatzköpfigen ein. Er schreit auf und seine Augen blitzen wütend, als die Klinge sich durch das Leder bohrt. Vielleicht hat sie ihn an der Schulter getroffen, aber sie kann es nicht genau sagen, denn er schleudert sie nach hinten.
Alle Luft wird aus ihren Lungen gepresst, als sie auf den Boden stürzt, wieder flimmern die Lichter in ihrem Blick und der Schnee scheint nach ihr zu greifen. Die Lanze fliegt ihr hinterher, landet nur ein kleines Stück entfernt von ihr. Ihre Augen leuchten kurz auf, doch sie schafft es nicht, wieder aufzustehen.

Das goldene Ornament auf der Brust des Mannes schillert flüchtig, als er auf sie zu kommt. Wut verzerrt sein Gesicht, und er zieht mit der rechten Hand ein Messer. Sie will aufstehen, aber es geht nicht.
Weitermachen.
Mit einem letzten Zusammennehmen ihrer Kräfte rutscht sie nach hinten, dreht sich auf den Bauch und greift mit der Rechten nach der Lanze. Mit einem Schrei holt der Glatzköpfige aus, doch sie dreht sich nach oben, zieht die Klinge hoch.
Der Schrei verstummt. Ein glasiger Blick tritt in die Augen des Mannes.

In seiner Brust steckt die Lanze, die sie langsam loslässt. Der tote, schwere Körper fallt mit einem dumpfen Schlag nach links in den Schnee.

Ihr Atem geht heftig und schnell, als wolle sie den Nebel mit jedem Zug ein wenig mehr verschlingen. Schmerzen greifen nach ihrem Körper, ihr Rückgrat brennt wie Feuer, als würde noch immer der raue Fels dagegenschlagen. Die Kälte frisst an ihren Fingern und der Wind zerrt an ihren Haaren, ihre Füße spürt sie nicht mehr.
Ein letzter Blick auf die Leiche neben sich, und sie dreht sich auf den Rücken, in der Hoffnung, der Schnee möge ihre Haut dort auch noch durch den Mantel kühlen und die Schmerzen lindern.
Sie presst die Hand auf den Bauch, ihr Herzschlag dröhnt in ihren Ohren. Ihre Sicht verschwimmt, löst sich auf in gleißendem Licht und sie schließt die Augen, lauscht ihrem Atem. Kurz wird ihr übel, denn wie lange hat sie schon nichts mehr gegessen? Doch dann überwiegt der Schmerz in ihren Muskeln und ihrem Rücken und die brennden Atemzüge.

Es wäre doch so einfach, jetzt zu sterben.

Einfach hier, in der Kälte. Niemand würde sie je finden. Weil niemand nach ihr sucht. Weil niemand sie vermisst. Sterben, einsam, neben der Leiche eines Mannes, den sie umgebracht hat. Nicht, dass sie Gewissensbisse hätte.
Einfach sterben, den Schmerzen entfliehen.
Nein, denkt sie, nein. Denk an Scales.

Kurz öffnet sie die Augen, und sie traut ihnen kaum. Da ist ein Licht, nicht weit entfernt. Sie hebt den Kopf, ihr Blick verschwimmt wieder, aber jetzt ist sie sich sicher: Da ist eine Hütte.
Weitermachen. Durchhalten. Sie stemmt sich hoch, trotz ihres protestierenden Körpers. Für Scales.

Ihre tauben Finger greifen nach der Lanze, schön, schwarz und mit einem Symbol darauf, einem großen Baum. Doch ohne dieses eines Blickes zu würdigen, zieht sie die Waffe aus dem leblosen Körper und geht einen Schritt nach vorne.
Schwindel überfällt sie, Übelkeit und Schwindel, und sie muss sich mit der Lanze abstützen.
Noch ein Schritt. Durchhalten.
Kälte. Sie zittert. Ihr Blick verschwimmt.

Acht Schritte. Jeder davon schmerzt.
Dann kippt sie nach vorne um und fällt mit dem Gesicht nach vorne in den Schnee.

Eisige Kälte umgibt die Berge.
Der Wind flüstert zischend Geschichten vor sich hin.
Eine davon ist ihre.

Ihr Name ist Sintel.

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