- 9 -
Montagmorgens gehe ich mit Bauchschmerzen zur Arbeit. Ich weiß, dass ich ihn treffe werde, aber ich hoffe, dass er mich einfach ignoriert, so wie ich versuchen werde ihn zu ignorieren. Daran glauben tue ich allerdings nicht.
"Guten Morgen. Konntest du etwas für Nicolas erreichen?", frage ich Dila und bleibe in ihrer Bürotür stehen. Ihren Anruf am Donnerstagabend habe ich nicht entgegen genommen und ihr stattdessen eine Nachricht geschrieben, dass ich mich bei ihr melde, was ich bis jetzt nicht getan habe.
Ich hatte zu viel Schiss davor, dass sie mich ausfragen würde, wieso und mit was Nyaz mich unter Druck setzt, schließlich habe ich ihr heulend dieses idiotische Geständnis gemacht.
Die schlanke, kleine Blondine sitzt hinter ihrem viel zu großen Schreibtisch und mustert mich durchdringend, bevor sie mir mit einer Geste bedeutet, einzutreten.
"Wir haben sieben oder acht Vermieter kontaktiert. Einer hat ihn immerhin zu einer Wohnungsbesichtigung am Mittwoch eingeladen", berichtet sie mir den aktuellen Stand der Dinge.
"Wenigstens etwas", seufze ich frustriert. Die aussichtslose Situation des Jungen liegt mir schwer im Magen.
"Okay, dann ist das geklärt. Können wir jetzt über deinen Nervenzusammenbruch reden?"
Ich seufze lautlos auf und fahre mir mit den langen, weißen Gelnägeln durch die Haare. "Du musst mir versprechen, dass du mit niemandem darüber redest, okay? Und wenn ich sage mit niemandem, dann meine ich mit wirklich absolut niemandem, okay?"
"Versprochen", antwortet sie und hebt zwei Finger zum Schwur.
"Nyaz lässt mich nicht gehen. Er setzt mich unter Druck, er erpresst mich, damit ich bei ihm bleibe und mich nicht von ihm abwenden kann."
"Und womit kann er dich bitte so krass unter Druck setzen? Hast du jemanden umgebracht und er ist der Kronzeuge?"
"Ich kann dir das wirklich nicht erklären, Dila. Fakt ist, dass ich aus der Nummer nicht rauskomme."
"Das heißt, du bleibst bis an dein Lebensende bei ihm, weil er dich sonst mit irgendwas dran kriegt? Ich kann mir nichts vorstellen, was schlimmer wäre, als für immer mit diesem Idioten zu bleiben!"
"Doch, glaub mir", antworte ich mit Nachdruck. "Es ist schlimmer."
"Yael", sagt sie ernst und ich fühle mich kurz in meine Kindheit zurück versetzt, in eine unangenehme Situation, in der meine Eltern mich wegen irgendeines Fehlers zur Rechenschaft ziehen. "Es gibt immer einen Weg. Du kannst zur Polizei gehen und ihn anzeigen. Du kannst dir Hilfe suchen. Notfalls schicken wir Tuan mit ein paar Leuten dahin, damit sie ihm auf die Fresse hauen, wenn er es gar nicht anders versteht."
Sein Name versetzt meinem Herzen einen Stich, doch ich bemühe mich, mir das nicht anmerken zu lassen. Tuan wäre wirklich meine letzte Wahl um dieses Problem zu lösen. Ich will mir gar nicht ausmalen, was passieren würde, wenn er von meiner dunklen Seite erfährt. Ich würde sterben vor Scham.
"Ich kriege das schon irgendwie hin", beschwichtige ich meine Freundin halbherzig, auch wenn ich selbst nicht davon überzeugt bin.
"Das glaube ich dir nicht. Ich habe kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache. Du prostituierst dich ja quasi."
Mit großen Augen sehe ich sie an, zutiefst schockiert, bis ich bemerke, dass sie Recht hat. Ich prostituiere mich für Nyaz. Nichts anderes ist das, was ich tue.
Abrupt erhebe ich mich von dem schlecht gepolsterten Stuhl. "Danke für deine Hilfe, aber ich muss da alleine durch."
"Wann hast du Feierabend?", leuchtet auf meinem Handy auf, welches ich auf dem Schreibtisch habe liegen lassen. Nyaz. Der Junge ist wie die Pest. Ich schiebe meine Kaffeetasse auf dem Tisch vor mir herum und drücke mich vor einer Antwort so lange ich kann.
"Eigentlich um 16 Uhr, aber kann sein, dass ich heute länger machen muss, wieso?"
Will er mich zu dem nächsten Treffen zwingen?
Ich bleibe den ganzen Tag in meinem Büro, gehe nichts essen und nicht mal eine rauchen, aus Angst, Tuan zu begegnen. Kein Hunger und kein Schmacht kann so stark sein, wie das elende Gefühl, ihm in die Augen sehen zu müssen.
Ich bin froh um jede Stunde, die mein Feierabend näher rückt, ohne ihn getroffen zu haben.
Erneut leuchtet mein Handy auf.
"Ich hole dich in deinem Büro ab. Will mal sehen, ob dein netter Arbeitskollege auch da ist. Vielleicht umarmt er mich ja auch so herzlich zur Begrüßung."
Mein Herz stockt und ich lese die Nachricht ungläubig wieder.
Das kann er doch nicht ernst meinen?
"Du willst doch jetzt nicht wirklich zu mir auf die Arbeit kommen und hier Palaver machen, oder?", frage ich und starre fassungslos auf mein Handydisplay.
"Ne, kein Palaver. Ich will mein Revier markieren und klar stellen, dass dein Arbeitskollege nur ein Arbeitskollege bleibt und versteht, wem du gehörst."
Ich lege mein Handy kopfschüttelnd beiseite und widme mich einer Akte auf meinem Schreibtisch. Die Kundin hat sich gerade von ihrem gewalttätigen Mann getrennt, welcher der Alleinverdiener der Familie war, und ist Hals über Kopf mit dem gemeinsamen Kleinkind zu ihren Eltern geflüchtet. Nun braucht sie dringend eine Wohnung, eine Erstausstattung sowie überhaupt Geld, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Sie war in der letzten Woche mit dem kleinen Jungen bei mir und ist während unseres Gesprächs in Tränen ausgebrochen, so hoch ist der finanzielle Druck, der auf ihren Schultern lastet.
Doch so sehr ich mich auch bemühe, mich um sie zu kümmern, meine Gedanken driften immer wieder zu Nyaz' letzter Nachricht ab.
Ich will nicht, dass er hier auftaucht.
Nach der langen Zeit, die wir mittlerweile miteinander verkehren - im wahrsten Sinne des Wortes - weiß er natürlich auch, wo ich arbeite. Auch wenn wir keine Freundschaft pflegen, tauscht man sich trotzdem mal über das ein oder andere private aus. Vermutlich habe ich auch mal erwähnt, in welcher Abteilung oder Etage ich arbeite und dann wird er sich einfach zu meinem Büro durchschlagen oder rumfragen, was die ganze Nummer noch unangenehmer macht.
Ich werde zunehmend nervöser und unkonzentrierter.
In was für einen Alptraum bin ich hier nur geraten?
Und wie komme ich da wieder raus?
Ich kann nicht mehr schlafen, nicht mehr essen, nicht mehr denken.
Wenn das so weitergeht, drehe ich bald durch.
Ein kräftiges Klopfen an der geschlossenen Tür lässt mich vor Schreck zusammen zucken. Mein Herz beginnt zu rasen und mein Mund wird ganz trocken.
Er hat seine Drohung also wirklich wahr gemacht.
"Herein", rufe ich mit zitternder Stimme, dabei würde ich mich am liebsten tot stellen.
Doch es ist entgegen meiner Erwartung nicht Nyaz, der mein Büro betritt, sondern Tuan. Mit traurigem Gesicht kommt er herein und schließt die Tür hinter sich.
Ich schließe für eine Sekunde die Augen und zwinge mich dazu, ruhig weiter zu atmen.
Was zur Hölle macht er jetzt hier?
Wenn Nyaz gleich wirklich hier auftaucht, und mein ungutes Gefühl sagt mir, dass er das tun wird, gibt es eine riesige Katastrophe.
"Können wir bitte nochmal reden?", fragt er sanft aber entschieden.
Lautlos seufze ich. Wieso kann er es nicht einfach dabei belassen? Wieso kann er nicht hinnehmen, dass ich ein schlechter Mensch bin, der ihm einen ekelhaften Korb gegeben hat, und auf mich scheißen? Er hat etwas besseres verdient, eine bessere Frau.
"Wieso meidest du mich so, Yael?" In seiner Stimme liegt ein solcher Schmerz, dass mein schlechtes Gewissen mich beinahe überwältigt.
Ich nehme all meinen Mut zusammen, um ihm zu antworten. "Bitte lass es einfach gut sein, Tuan", fordere ich und schiele nervös auf die Uhr. 15.55 Uhr. Mein Herz rast. Ich habe eine solche Angst davor, dass Nyaz gleich hier reinmarschiert und auf Tuan trifft, dass es mir beinahe die Kehle abschnürt. Die beiden dürfen niemals und gar unter keinen Umständen aufeinander treffen.
"Du hast doch jetzt gleich Feierabend, oder nicht?" Seine tiefe, melodische Stimme durchbricht meine Gedanken.
Ich senke den Kopf. Ich kann mir denken, worauf er hinaus will.
"Lass uns was essen gehen, egal worauf du Lust hast. Ich lade dich ein und wir reden nochmal in Ruhe."
"Ich will nicht reden", fahre ich ihn an. Seine Augen weiten sich und er betrachtet mich ungläubig. So einen scharfen Tonfall hat er von mir nicht erwartet.
"Es war doch alles gut zwischen uns, wir haben uns so gut verstanden. Wieso bist du von heute auf morgen so abweisend zu mir? Wenn ich dir was getan habe, dann sag es mir doch, ich mache es wieder gut. Aber mich von jetzt auf gleich zu ghosten, nachdem du mich geküsst hast, ohne irgendeine Begründung, ist richtig asozial."
Ich meide seinen Blick, denn allein bei dem Klang seiner Worte bricht es mir das Herz. Ich hasse es, dass er sich so um mich bemüht. Ich habe das nicht verdient, ich habe ihn nicht verdient.
"Du hast mir nichts getan, aber ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich momentan niemandem kennenlernen will."
"Und mich trotzdem immer wieder getroffen, mir falsche Hoffnungen gemacht und mich geküsst", stellt er klar, seine Kiefer verhärtet und seine Hände zu Fäusten zusammengepresst.
Ich stehe auf und gehe mit klopfendem Herzen auf ihn zu. Unsanft fasse ich an seine Schulter und schiebe ihn Richtung Tür.
Doch Tuan lässt sich das nicht gefallen. Er greift nach meiner Hand und umschließt sie fest mit seiner. Dabei zieht er mich ruckartig an sich heran, sodass er unsere Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander trennen.
"Lass mich los!", zische ich aufgebracht. "Ich will nicht mit dir reden, checkst du das nicht?"
Die Wanduhr zeigt 15:58 Uhr und mein Puls ist vermutlich jenseits von 100 Schlägen pro Minute.
"Hör auf mich anzulügen", fordert er und sieht mir tief in die Augen.
Ich lache auf. "Ich habe keine Ahnung, wovon du redest."
Seine Hände brennen auf meiner Haut. Sein intensiver Blick brennt sich in meine Augen, durchbohrt mich fast. Mir wird heiß und kalt zugleich.
"Dann sag mir, dass da nichts zwischen uns ist", fordert er. Seine Stimme ist sanft und rau zugleich und geht mit durch Mark und Bein.
Ich schüttele den Kopf. "Geh!"
Sein Kopf nähert sich meinem.
"Geh!", befehle ich ihm erneut, diesmal deutlich leiser und unsicher.
Er schiebt sich noch näher an mich, so nah, dass ich seinen Atem beinahe auf meiner Haut spüre.
"Geh!" Meine Stimme ist nur noch ein Flüstern.
Verdammt, dieser Mann zieht mich an wie kein anderer jemals zuvor. Sein einnehmeder Duft, sein breitgebauter Körper, seine wunderschönen Augen.
Ich will ihn küssen, großer Gott, ich will es so sehr.
In Zeitlupe legt er seine Lippen auf meine und ich bin gerade dabei, alles um mich herum zu vergessen, da klopft es lautstark an der Tür.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top