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Am nächsten Morgen bin ich kurz davor, mir einen Krankenschein zu nehmen. Ich bin fertig mit den Nerven, Nyaz' unangekündigter Besuch hat mir gestern Abend den Rest gegeben.
Einzig und allein ein wichtiger Termin, den ich am Vormittag habe, hält mich davon ab, die Arbeit zu schwänzen. Um 11 Uhr kommt Nicolas zu mir, ein junger Mann, gerade 20 Jahre jung, der Zuhause rausgeflogen ist. Seitdem zieht er von Freund zu Freund, und von Couch zu Couch.
Heute wollen wir uns darum kümmern, endlich eine Wohnung für den Jungen zu finden, da er es alleine seit Wochen erfolglos versucht.
In solchen Momenten bin ich mehr Sozialpädagogin als Sachbearbeiterin, doch ich habe mir geschworen, nie eine Paragraphenreiterin zu werden, die vergisst, dass es bei unserer Arbeit nicht nur um Zahlen und Geschäftsvorfälle geht, sondern vor allem um Menschen.
Ich quäle mich viel zu spät aus dem Bett, schminke mich nicht und binde meine Haare zu einem unordentlichen Dutt zusammen. Ich ziehe ein Oversize-Shirt und eine Leggings drüber, ungewöhnlich casual für meine Verhältnisse, schnappe mir meine Tasche und fahre zur Arbeit.
Wie gerne würde ich die Zeit 24 Stunden zurück spulen, zurück an den Zeitpunkt, an dem ich gestern gut gelaunt mit Tuan in seinem Wagen saß und entspannt in den Tag gestartet bin. Als die Welt okay war, oder ich zumindest noch so tun konnte, als ob.
Stattdessen fahre ich alleine zur Arbeit, so traurig, dass ich das Radio ausschalte, damit bloß kein Song kommt, der mich zum Weinen bringt. Ich spüre, dass es heute nicht viel dazu braucht, dass bei mir alle Dämme brechen.
Als ich auf den Parkplatz biege, erschrecke ich. In der Nähe des Eingangs mache ich Tuans Silhouette aus. Er lehnt rauchend an seinem Auto und sein bloßer Anblick lässt mein Herz höher schlagen.
Fuck, wartet er etwa auf mich?
So süß das auch ist, so wenig kann ich diese Aufmerksamkeit heute gebrauchen.
Ich parke meinen Wagen in der erstbesten, freien Parklücke. Kaum, dass ich die Autotür geöffnet habe, läuft er schon auf mich zu.
"Guten Morgen", begrüßt er mich sanft und umarmt mich vorsichtig.
"Guten Morgen", gebe ich leise zurück.
"Ist alles okay bei dir?" Er mustert mich besorgt. "Du siehst echt nicht gut aus heute."
"Alles okay", gebe ich einsilbig zurück und laufe ohne auf ihn zu achten zur Eingangstür.
Er folgt mir und als wir den Fahrstuhl betreten, vermeide ich es, Blickkontakt mit ihm zu haben.
"Kann ich dir irgendwie helfen, Yael?"
Ich schüttele stumm den Kopf.
Ich habe mir geschworen, mich von ihm fernzuhalten und egal, wie sehr ich mir das Gegenteil wünsche, ich muss das durchziehen.
Nyaz lässt mir keine andere Wahl.
Ich zähle im Kopf die Sekunden. Keller, Erdgeschoss, erste Etage. Nicht mehr lange und ich kann endlich aussteigen. Raus aus dieser viel zu engen Kabine, in der ich mit jedem Atemzug sein herbes Parfum inhaliere und ihm so nah bin, dass ich mich kaum noch beherrschen kann.
Plötzlich ruckelt es heftig. Das Licht erlischt und der Fahrstuhl bleibt stehen.
Meine Augen weiten sich und mein Herz schlägt schneller.
Das kann nicht wahr sein.
Gibt es hier eine fucking versteckte Kamera?
"Was ist das denn für eine Scheiße?", fluche ich und merke selbst, wie nervös ich schlagartig werde.
"Keine Sorge, der wird schon gleich weiter fahren", antwortet Tuan gelassen und drückt erneut auf den Knopf mit der schwarzen Zwei, doch nichts passiert.
"Das kann doch nicht wahr sein, was soll das denn? Wie lange müssen wir jetzt hier drin bleiben? Ich muss hier raus, verdammt", fluche ich aufgebracht.
Tuan mustert mich kurz irritiert und drückt dann für einige Sekunden auf die Taste mit der Glocke, um einen Notruf auszulösen.
"Hallo, hier spricht die Leitzentrale", ertönt rauschend aus einem Lautsprecher. Ich blende aus, wie Tuan dem Mitarbeiter die Situation schildert und konzentriere mich darauf, ruhig weiter zu atmen.
Als das Gespräch beendet ist, wendet Tuan sich wieder an mich. "Hast du Platzangst?", fragt er einfühlsam und mit sanfter Stimme.
Ich schüttele energisch den Kopf. "Ich will einfach nur nicht in diesem beschissenen Aufzug feststecken", antworte ich hysterisch und bin gleich wieder auf 180.
"Sie schicken sofort jemanden vorbei, es wird nicht lange dauern", versucht er mich zu beschwichtigen.
"Es ist jetzt schon zu lange", zische ich zurück.
"Was ist denn heute los mit dir? Du warst schon bei der Begrüßung so kalt zu mir. Habe ich dir irgendwas getan?"
Ich lache verzweifelt auf. "Nein, hast du nicht." Er ist der Letzte, der was falsch gemacht hat.
Ich drehe mich von ihm weg, fahre mir durch die Haare und beiße mir auf die Zunge. Ich spüre, wie heiße Tränen meine Augen füllen und schaue ins Licht, um sie zu verdrängen. Ich kann jetzt wirklich nicht anfangen zu heulen, nicht hier, nicht mit ihm.
Ich atme tief durch, doch dann rinnt die erste Träne über meine Wange und zwingt mich zu kapitulieren.
Ich fühle mich eh schon schäbig, nach dem Blowjob, den ich Nyaz notgedrungen gegeben habe. Er hat mich benutzt wie eine Gummipuppe.
Noch dazu habe ich Liebeskummer, weil ich Tuan keine Chance geben kann, obwohl ich es so gerne probieren würde.
Und jetzt hänge ich hier, in diesem winzigen Stahlkäfig, mit dem Mann, den ich will, aber nicht haben darf, mit der Angst, nicht standhaft bleiben zu können aber zu müssen, nervlich eh schon völlig am Ende in dieser Ausnahmesituation und mir wird alles zu viel.
Tränen laufen wie Sturzbäche über meine Wangen, ich presse mir meine Hand vor den Mund um nicht lautstark zu schluchzen und senke beschämt meinen Kopf.
Plötzlich berührt mich eine Hand zaghaft an der Schulter und dreht mich herum. "Yael", spricht Tuan sanft. "Alles wird gut, hörst du?"
Er sieht mich aus seinen großen, brauen Augen an, die Sorge steht ihm ins Gesicht geschrieben.
Ich schüttele weinend den Kopf. Gar nichts wird gut, er weiß das nur nicht.
Der schöne Türke legt seine eine Hand an meine Schulter, die andere führt er an mein Kinn und hebt meinen Kopf sanft mit seinem Zeigefinger an, um mich zu zwingen, ihn anzusehen.
"Canim", flüstert er leise und bricht damit mein Herz. Wenn er wüsste, was ich gestern Abend noch getan habe, was ich in den letzten Monaten mit Nyaz getan habe, würde er mich niemals so nennen, dann würde er ganz andere Worte für mich finden.
Aus feuchten Augen sehe ich ihn durch einen Schleier von Tränen an. Er legt seine Daumen an meine Wangen und wischt liebevoll die Tränen aus meinem Gesicht.
"Weine nicht. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin bei dir, ich passe auf dich auf. Und gleich kommt Hilfe, es kann nicht mehr lange dauern."
Aber nicht die Hilfe die ich brauche, denke ich, doch ich spreche es nicht aus. Ich wünschte, ich könnte Tuan mein Herz ausschütten, doch ich kann nicht. Die Gefahr, wie er reagiert, wenn er von meinem Doppelleben erfährt, ist zu bedrohlich und die Gefahr, was passiert, wenn Nyaz seinen Willen nicht kriegt, erstrecht.
Tuan streichelt sanft über meine Wange und ich schließe kurz die Augen, blende alles aus und nehme nur seine seichte Berührung wahr.
Wie sehr würde ich mir wünschen, dass das nie aufhört.
Auf eine Art will ich unbedingt hier raus, doch andererseits würde ich auch für immer mit Tuan in diesem Aufzug bleiben, abgeschirmt von der Außenwelt, in Sicherheit vor Nyaz, nur wir beide.
Tuans Daumen wandert von meiner Wange zu meinen Lippen und streicht zärtlich darüber.
Ich öffne die Augen wieder und schaue direkt in sein weiches Gesicht. Er betrachtet mich mit einem Ausdruck tiefer Zuneigung in seinem Blick.
Tuan riecht himmlisch, er ist wahnsinnig gutaussehend und seine Berührungen erfüllen mich vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen mit Wärme.
"Du brauchst vor nichts und niemandem Angst haben so lange ich bei dir bin, Yael."
Und wenn du es nicht mehr bist, ist da Nyaz. Ich glaube Tuan seine Worte nicht, er kann mein Leid nicht verhindern, doch es ist die schönste Lüge seit langem.
Ich lege meine Hand auf seine. Kurz halte ich inne, atme tief durch und dann presse ich kurzentschlossen meine Lippen auf seine.
Alles in mir verstummt für einen Moment, alle Ängste und alle Zweifel, es zählen nur Tuan und ich, seine Lippen bittersüß auf meinen.
Sofort erwidert er meinen Kuss, legt seine Hände in meinen Nacken und zieht mich näher an sich.
Er küsst mich so warm und weich, dass mich allein diese zärtlichen Berührungen auf Wolke sieben katapultieren.
Der Kuss ist nicht leidenschaftlich, er hat keinen Hauch von Härte oder Dominanz, und gerade deshalb ist er so perfekt, wie er nur sein könnte.
Es ist Tuan, der sich irgendwann aus dem liebevollen Kuss löst. Niemals hätte ich den vermutlich einmaligen Kuss zuerst beendet, schließlich bin ich mir sicher, dass es keine Wiederholung geben wird.
Das Lächeln, das er mir schenkt, ist so glücklich, dass es mir gleich wieder das Herz zerreißt.
Er weiß nicht, dass unser erster Kuss für mich ein Abschiedskuss war.
So schön unsere kurze Unendlichkeit auch war, so war sie nicht unendlich und das macht mein Herz viel zu schwer.
Keine Sekunde nachdem wir uns voneinander gelöst haben, bricht Scham über mich herein. Ich schäme mich dafür, dass ich mich nicht zusammenreißen konnte und dass ich es geschafft habe, Tuan völlig ohne Worte ein falsches Versprechen zu geben.
"Also wenn das immer so läuft, können wir gerne öfter zusammen im Aufzug stecken bleiben", versucht er die Situation mit einem Witz aufzulockern.
Doch anstatt zu lachen, sehe ich eher aus wie sieben Tage Regenwetter. "Tut mir leid", nuschele ich verlegen.
"Bist du wahnsinnig? Das braucht dir garantiert nicht leid zu tun. Es sollte dir lieber leid tun, dass du nicht schon eher in mein Leben gekommen bist und ich 32 Jahre auf so einen Kuss warten musste."
Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Wie sehr würde ich mir wünschen, ich wäre weder Sirius noch Nyaz jemals begegnet, sondern hätte gleich Tuan kennengelernt.
Wie viel Leid wäre mir dadurch erspart geblieben.
Doch das Leben ist kein Wunschkonzert und wir müssen lernen, mit dem zu leben, was passiert, egal wie grausam es ist. Man verliert nicht, man lernt - und manchmal eben nur, wie man es besser nicht macht.
Als plötzlich das Licht im Fahrstuhl wieder angeht und auch die Knöpfe aufleuchten, macht sich eine tiefe Erleichterung in mir breit. Wir haben es gleich geschafft.
Erneut geht ein kräftiger Ruck durch die stählerne Kabine und der Aufzug setzt sich wieder in Bewegung als wäre nichts passiert.
Als die Schiebetüren in der zweiten Etage aufgehen, stehen drei Techniker davor und sehen uns erleichtert an.
"Alles okay bei Ihnen?", fragt einer der Männer und betrachtet mich besorgt. Ich nicke und wische mir die letzten Tränen mit dem Handrücken aus dem Gesicht. Dann trete ich ins Freie, Tuan folgt mir. "Alles okay, danke sehr."
"Der Fahrstuhl scheint einen technischen Defekt zu haben. Wir werden ihn vorerst sperren, bis wir den Fehler behoben haben", informiert er uns.
Ich nicke nur, laufe wortlos in mein Büro ohne mich von Tuan zu verabschieden, schließe die Tür hinter mir ab und lasse mich kraftlos in die Knie sinken. Weinend schlage ich mir die Hände vor das Gesicht, unterdrücke mein Schluchzen um kein Aufsehen zu erregen, doch lasse die Tränen hemmungslos über mein Gesicht laufen.
Wie zur Hölle bin ich in diesen Alptraum nur rein geraten?
Und wie komme ich wieder heraus?
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