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Zur Begrüßung erwartet mich ein Jubelchor.
Mein gesamtes Stammlokal ist zu dieser frühen Stunde schon gerappelt voll mit Gästen - um ehrlich zu sein kenne ich die meisten davon nicht, habe sehr sehr viele noch nie in meinem Leben gesehen und keinen einzigen Namen dazu im Gedächtnis, aber das ist wohl nebensächlich.
Die meisten sehen aus, als wären sie nicht SCHON da, sondern NOCH - und die Nacht scheint ganz feuchtfröhlich abgelaufen zu sein, die meisten Gesichter sehen doch etwas besoffen aus und die meisten Augen etwas glasig, aber das ist mir vollkommen egal. Wichtig ist nur, dass ich zwischen diesen ganzen Trunkenbolden tatsächlich noch drei nur allzu bekannte Gesichter entdecken kann.
Vier, um genau zu sein. Denn nachdem Luke mich überschwänglich umarmt und fest gedrückt hat, wobei er mich ein paar Zentimeter in die Luft befördert hat, gibt mir nicht nur Patty einen kleinen Schmatzer auf die stoppelige Wange, sondern vor allem und am wichtigsten steht auf einmal Karl vor mir und lächelt ein bisschen unbeholfen. Das vierte Gesicht kriecht gerade aus meiner Kapuze und schnuppert neugierig in meine Richtung.
Ich schenke Alina das letzte Stückchen von meinem Brötchen-Frühstück und während sie damit knuspernd wieder in der Kapuze verschwindet, bin ich doch latent schockiert, als Karl ziemlich steif und sich doch noch dagegen sträubend für eine kurze, holprige Umarmung auf mich zugestolpert kommt und es zulässt, dass ich ihm danach grinsend freundschaftlich gegen die Schulter boxe.
Zwar habe ich nicht den blassesten Schimmer, was die anderen glauben, was ich die letzten drei Stunden getan haben könnte, aber letzten Endes ist es egal.
Wir sind hier. Wir sind alle wieder vereint und jedem von uns geht es gut; das ist wohl die Hauptsache nach derartig aufregenden Tagen!
"Hey Mädels!", Luke ruft drei leicht bekleidete, ziemlich scharf aussehende Damen zu sich und sie drücken sich kichernd und ein bisschen lasziv um seine breiten Schultern herum, schauen mich mit klimpernden Augenaufschlägen an, "Seid doch mal so gut und lasst den Bauer hier wissen, was ihr von ihm haltet!"
Aber während die Ladies schließlich mich umgarnen, als hätte Luke sie dafür bezahlt, habe ich noch ein paar ungeklärte Fragen in meinem Kopf, die ich nicht für mich behalten kann.
"Wo zur Hölle habt ihr diese ganzen Menschen hier aufgetrieben?!", frage ich Patty vollkommen fassungslos.
Niemand sitzt an auch nur irgendeinem Computer, dafür wäre bei dem Betrieb hier auch gar kein Platz mehr. Patty ist damit beschäftigt, den Leuten an der Theke genügend Schnaps nachzuschenken, sie verdreht nur die Augen.
"Ach Ratte!", seufzt sie, als wäre alles wie immer.
Dann lacht sie, "Das sind Freunde von Luke. Er meinte, wir hätten was zu feiern. Ich weiß zwar nicht genau, was wir feiern, aber-- gibt es nicht immer irgendeinen Grund?"
"Es gibt definitiv Anlass zur Freude", mischt sich Karl so trocken und informativ wie immer ein, "Doms System läuft wieder ohne Probleme. Ich habe vorhin die Protokolle überprüft und es ist alles im grünen Bereich. Tatsächlich konnte ich durch das Einspielen meiner Software auf seinen Server sogar noch einige Fehler in meinem eigenen Script beheben, damit wäre ALINA.exe perfektioniert und die benutzerfreundliche Auskopplung einer kleinen, abgespeckten Testreihe als frei verkäufliche Backup-Software steht somit nichts mehr im Wege."
"Und das heißt auf Deutsch?", fragt Luke.
Alle lachen.
Auch ich lache, laut und herzhaft und einfach nur glücklich. Es ist mehr das berauschende Gefühl, hier so nett in Empfang genommen zu werden; immerhin habe ich wirklich keine Heldentaten vollbracht und was dann tatsächlich im Hauptquartier von DIZZORDER abgelaufen ist, wird auf ewig ein kleines Geheimnis zwischen zwei Menschen bleiben, aber...
Die drei Ladies sind wirklich sehr nett zu mir, aber ein bisschen aufdringlich. Den Rücken massiert zu bekommen ist ja echt super, die langen bunten Fingernägel an meinem Hals kann ich auch noch tolerieren, aber bei den Lippen in der Nähe meines Ohres wird mir doch ein bisschen schwummrig und ich entferne mich diskret, aber doch energisch, um mich wieder an Karl zu wenden.
"Warum eigentlich Alina?", frage ich ihn.
Er druckst herum und wenn ich mich nicht täusche, sehe ich sogar einen zarten rosa Schimmer auf seinen Wangen. Ich grinse und denke mir meinen Teil- immerhin ist ja Sarah auch nach meiner Exfreundin benannt. Wir alle haben doch irgendwo ein Steckenpferd, nicht wahr?
Die drei Damen scheinen nicht arg enttäuscht von meinem Korb gewesen zu sein und scharen sich wieder um Luke, der äußerst betrunken und sehr zufrieden zu sein scheint. Er schreit Patty irgendwas über die Schulter zu und sie verdreht die Augen, wirft die himmelblauen Dreads über ihre tätowierten Schultern und holt noch mehr Schnaps.
Karl drückt mir ein Glas Coca Cola mit Zucker in die Hand, nimmt sich selbst eine Dose Energy Drink und gestikuliert ein bisschen zögerlich in Richtung der Tür.
"Können- können wir kurz nach draußen gehen?", fragt er und ich habe echt Mühe, ihn über den Lärmpegel hinweg zu verstehen.
Schließlich stehen wir im Hinterhof an den Schienen, Karl dreht zwei Zigaretten und zur noch immer ein bisschen kryptischen Feier des Tages rauche und huste ich nochmal mit. Alina streckt ihr Köpfchen nach draußen, was mich wieder an meine Frage erinnert, deren gedankliche Antwort mir genügt - Karl jedoch nicht!
Karl tritt von einem Bein auf das andere und klopft ein bisschen nervös aber durchaus rhythmisch anhörbar an seiner Dose herum.
"Was ich sagen wollte", er räuspert sich geräuschvoll, "Wegen neulich- ich habe mich anders entschieden."
"Du wirst jetzt mit dem Rauchen aufhören, kein Koffein mehr in rauen Mengen zu dir nehmen und auf einen ordentlichen Schlafrhythmus achten?", versuche ich grinsend zu raten.
Karls Mundwinkel zucken zu einem Lächeln.
"Nein", sagt er sachlich, "Wegen der N0PE-Sache"
Ich werde hellhörig.
"Du wirst weitermachen?", frage ich interessiert und kann nicht verhindern, dass hellste Freude in meiner Stimme mitschwingt.
Karl blinzelt und hebt abwehrend die Hände, "Das-- das habe ich nicht gesagt! Ich- ich meine--"
Ich lächele sanft und lege beschwichtigend eine Hand auf seine Schulter; Karl zuckt zwar zusammen, lässt es aber mit sich geschehen.
Karl nimmt die kleine Ratte, die zugegebenermaßen doch ziemlich süß ist für so ne Ratte, aus seinem Pullikragen und sie krabbelt fröhlich knuspert auf meinen Schultern umher, schnuppert eingehend und neugierig an meinen Ohren und verschwindet in meiner Kapuze.
"Mit Alina hat alles angefangen", weicht Karl meiner Frage aus, mal wieder ohne zu lügen, aber doch nicht so konkret, wie man es von ihm gewohnt sein könnte.
"ALINA ist ein Kürzel. Die Anfangsbuchstaben jedes Wortes in einem Satz", beginnt er.
Ich schaue ihn verwundert an und lege den Kopf schief, um ihn frech zu unterbrechen: "Abends lieber ins Bett und nicht arbeiten?"
Karl schaut mich ebenso verwundert an, "In diesem Fall würde es ALIBUNA heißen, also nein."
"Wofür steht ALINA dann?"
Karl zieht sein Handy aus der Tasche und kann sich ein kleines, aber feines Grinsen auf dem Gesicht nicht verkneifen, als er ein bisschen darauf herumwischt und der Bildschirm hellgrün leuchtet, nur um ein neues Video im N0PE-Style abzuspielen. Er schaltet sogar den Ton an.
Ein paar Floskeln, wie man es von der vermeintlichen "Gruppe" aus Hacktivisten gewohnt ist, dann aber hebt Karl den Zeigefinger, um meine Aufmerksamkeit wieder zu fokussieren und es werden große schwarze Buchstaben auf dem grellgrünen Hintergrund angezeigt.
ANOTHER
LIFE
IS
N0PE
ALONE
...
"Join us!"
Ich muss schmunzeln und schaue noch kurz zu, wie die animierte Pixel-Ratte, noch am Ausrufezeichen knabbert.
Aber erst als ich in Karls erwartungsvolles Gesicht schaue, dämmert mir, dass er mir das Video nicht aus Spaß an der Freude gezeigt hat.
Kurz verschwende ich einen Gedanken daran, wie wohl ein Heiratsantrag von Karl aussehen würde und ob er den vielleicht sogar im selben Stil formulieren würde, aber dann--
Dann bekomme ich tatsächlich ein bisschen Pipi in den Augen, auch wenn das herzliche Lächeln nicht von meinen Lippen weicht, als ich die physische Ratte Alina vorsichtig aus der Kapuze hole, kurz über ihr Köpfchen streichle und sie dann wieder auf Karls Hand krabbeln lasse, wo sie in seinem Ärmel verschwindet und ich sehe, dass sie bis zur Armbeuge hochkrabbelt.
Ich habe vielleicht drei Züge genommen, trotzdem werfe ich den Rest der Zigarette nicht rauchen. Ich bin einfach kein Raucher. Aber ich kann akzeptieren, dass Karl diese ekligen, selbstgedrehten Kippen raucht. Ich kann akzeptieren, dass er schon wieder herumhampelt und von einem Bein aufs andere trippelt, ich kann akzeptieren, dass er nervös an seiner Lippe kaut und bemerke, dass ich ihm wohl noch eine Antwort auf seine sehr sehr indirekte Frage schuldig bin.
"Lass uns erst mal rein gehen, ist kalt hier draußen. Einfach noch ein paar Wodka Energy kippen. Wenn du dann noch nen Kaffee kochst, während ich langsam auf meinem Küchenboden aufwache-- ich hab übrigens das Überwachungsvideo noch angeschaut. Sorry dafür!"
Karl grinst schief und schnaubt amüsiert. Dann wird er sehr schnell wieder ernst:
"Wenn wir gerade schon dabei sind, offene Fragen aufzuklären- kannst du dich erinnern, was bei der Schule passiert ist?"
Ich kratze mich am Kinn und schiebe meine Brille ordentlich auf meine Nase zurück. Dann zwinkere ich Karl zu und winke ihn hinter mir zurück ins Rabbit Hole.
"Wir alle sollten unsere kleinen Geheimnisse behalten", sage ich lächelnd.
Und während Karl sich damit zufrieden gibt, mir folgt und wir wieder reingehen, ist mir persönlich klar, dass egal was damals passiert ist, egal welche Erinnerungen meine alte Schule wieder in mir ausgelöst hat und wie krass es mich immer noch aus dem Konzept gebracht hat- die Zeiten sind vorbei.
Es beginnt eine neue Ära.
Nicht nur die Ära, in der DIZZORDER vielleicht zukünftig nachdenkt, bevor er irgendwelche krummen Dinger dreht, mit denen er sich vor allem selbst eine Grube gräbt. Auch nicht die Ära von Wodka Energy und Kater-Kaffee am Morgen in meiner Bude.
Vielleicht ist es eine Ära, in der ich öfters mal auf einem hohen Dach stehen und mir den Sonnenaufgang anschauen werde.
Eventuell beginnt auch für ABYSS eine neue Ära, in der N0PE kein einzelner dahergelaufener Typ ist, sondern tatsächlich eine Gruppe.
Aber vor allem beginnt eine Ära, in der ich kein Einzelgänger mehr bin, der weder Wurzeln noch ein Ziel hat. Vielleicht bin ich immer noch derselbe, immerhin nehme ich an der Theke innen angekommen schnell und heimlich einen Schluck aus meiner Pepsi light, während Patty nicht hinschaut.
Vielleicht habe ich auch zu viel Adrenalin im Blut, als dass ich klar denken könnte, aber ich krame Sarah aus meiner Tasche und drücke ihr grinsend einen Knutscher auf, ehe ich mit meinem Smartphone eine kurze Nachricht auf Karls Handy sende.
Dann stoßen wir alle miteinander an, dafür reicht mir Patty gnädigerweise ein Bier, das ich sicherlich trotzdem bezahlen muss, und Luke drückt mich nochmal kumpelhaft, um seinen schwankenden Alkoholleichen-Körper an mir abzustützen.
Alle gröhlen.
"Auf Bauer!", schreit Luke und alle fallen mit ein.
Karl wirft mir nur ein kleines vielsagendes Lächeln zu, nachdem er auf sein Handy geschaut hat.
Es fühlt sich allerdings wirklich so an, als hätte ich zumindest teilweise meinen Platz in dieser seltsamen Welt gefunden. Und obwohl es eigentlich ein recht einschüchternder Gedanke ist: Ich bin nicht mehr allein. Auch wenn eigentlich das meiste so bleibt, wie es ist - einiges hat sich doch geändert.
Karl ist kein namenloser Niemand mehr.
Karl ist das, was ich mir immer gewünscht habe:
Karl ist mein Freund.
ENDE.
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...???
............ loading N0PE.exe .............
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