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Ich starre Karl an.

Er weicht meinem Blick auf und sieht auf den Boden, während er noch immer gleichmäßig das Gewicht vom einen Bein aufs andere verlagert, was mich zugegebenermaßen extrem nervös macht, je länger ich es mitansehen muss.

"Er hat was?", frage ich und hoffe, dass ich mich verhört habe oder dass Karl einen schlechten Scherz gemacht hat.

Karl schaut irgendwo an den Kragen meines Kapuzenpullovers und sagt: "Er hat eine Backdoor installiert."

Einfach so sagt er das, mir nichts, dir nichts, ist ja nicht so schlimm. Nicht so schlimm, dass DIZZORDER jederzeit, er müsse nur wollen, einfach wieder in mein System hineinmarschieren kann, wann immer es ihm beliebt! Ich stampfe wütend mit dem Fuß auf den Boden, auch wenn der mit zerbröckelten Fliesen bedeckte Beton streng genommen nichts dafür kann und mir auch einfach nur das ganze Bein wehtut, statt dass ich mich besser fühle.

"Und du hast nichts dagegen unternommen?", herrsche ich Karl an, als wäre das alles seine Schuld.

Karl sagt seelenruhig, "Ich habe versucht, es zu verhindern. Er war zu schnell, ich hatte keine Chance mehr."

Ach, ist doch nicht schlimm, jetzt raff dich mal. Ist doch nur irgendeiner im Schatten stehender Hacker aus dem geheimen Untergrund, der als allerersten Auftritt auf der Bildfläche zuerst einmal die Datenbanken eines berühmten Terroristen infiltriert und dessen Verschlüsselungen zu seinem neuen Spielplatz erklärt! Wirklich, Dom, stell dich nicht so an!

Ich fange an, eine ambivalente Mischung zwischen tiefster Dankbarkeit und unbändiger Wut für Karl zu empfinden. Der schaut allerdings immer noch mit glasigen Augen und dem üblichen Pokerface an mir vorbei und wischt sich noch einmal den Schweiß vom Gesicht.

"Scheiße!", mache ich meinem Ärger Luft und fluche laut,

"Scheiße Scheiße und nochmals Scheiße!"

Karl blinzelt.

"Es tut mir leid", sagt er mit einem seltsamen Unterton in der Stimme, den ich nicht ganz deuten kann.

Ich widerstehe dem Drang, ihm freundschaftlich auf die Schulter zu klopfen. Hat beim letzten Mal ja auch nicht geklappt. Dann ringe ich mir ein Lächeln ab, schnaufe tief durch und fasse mich langsam wieder.

"Schon gut", versuche ich Karl zu beruhigen, "Es ist nicht deine Schuld. Ich hätte besser aufpassen müssen. Du hast zumindest das Allerschlimmste verhindern können. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich muss dir trotz allem danken, Karl!"

"Gern geschehen, Dom", sagt er und während ich mich schon umdrehe, um wieder ins Rabbit Hole zu marschieren, mich auf meinen Platz zu pflanzen und um DIZZORDER mal gehörig den Marsch zu blasen, erstarre ich inmitten meiner eleganten Drehung auf dem Absatz kehrt.

Ich starre Karl an, aber dessen Mundwinkel zucken nur ein bisschen.

"Wie hast du mich gerade genannt?", will ich wissen.

Karl antwortet mir wenig informativ, aber dafür umso emotionsloser: "Ich war nicht aus Zufall in deinem System, um dich zu schützen und deine Verschlüsselung zu unterstützen."

"Du hast gewusst, dass DIZZORDER es auf mich abgesehen hat?", ich schnappe nach Luft, aber die Spucke bleibt mir so schnell nicht weg.

"Nein", sagt Karl, "Und nochmal nein. Ich habe es nicht gewusst und DIZZORDER hat es nicht auf dich abgesehen."

Ich schnaube aufgeregt und raufe mir die Haare unter meiner Kapuze, "Mann, das darf doch alles nicht wahr sein! Könntest du dir bitte nicht alles aus der Nase ziehen lasse, sondern mir erklären, was hier vorgeht?"

Karl schaut mich an.

"Natürlich kann ich es dir erklären", sagt er ruhig, "Aber an meine Nase lasse ich dich nicht!"

Für einen Moment weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Ich entscheide mich für ein gequältes Lächeln und ein Kratzen an meinem Dreitagebart. Dann schiebe ich meine Brille zurück auf ihre Position und bemühe mich um Contenance.

Nicht genug damit, dass Karl mehr weiß als ich. Er hat auch noch einen unheimlich schlechten Sinn für Humor. Und während ich beginne, nachdenklich hin und her zu laufen, die Hand am Kinn, um wie ein großer Denker auszusehen, wird mir klar, dass mir nicht einmal bewusst ist, WIE wenig ich von all dem weiß, was hier abzugehen scheint.

Vielleicht wäre es klug gewesen, wenn ich hier einen Rückzieher gemacht hätte. Wenn ich an diesem Punkt meiner Karriere Lebewohl gesagt hätte und den Schlussstrich unter meine Hacker-Aktivitäten gezogen hätte. Aus und vorbei der Traum, aber zumindest noch am Leben und halbwegs sicher vor unangenehmen Menschen, die mehr über dich wissen als du selbst.

Aber ich bin kein kluger Mensch. Ich bin Dominik Bauer und zu diesem Zeitpunkt begann die längste Nacht meines Lebens. Und auch wenn ich nicht Jack heiße und dieser Spruch in abgewandelter Form aus einem uralten TV-Format geklaut ist, bleibe ich abrupt stehen und lasse meine Fingerknöchel knacksen. Ich schaue Karl an und hebe das Kinn heldenhaft nach oben.

Er schaut mich einfach nur an, als wäre ich gerade im Begriff eine falsche Entscheidung zu treffen. Aber ich habe gelernt, dass jede noch so falsche Entscheidung besser ist als gar keine Entscheidung und so denke ich im Traum nicht daran, meine Hacker-Karriere an den Nagel zu hängen.

"Ok Karl", sage ich also und lächele, "Lass uns reingehen und das alles bei ein paar Wodka Bull bequatschen!"

Er nickt zögerlich und starrt meine Hand skeptisch an, als ich sie im entgegenstrecke.

"DIZZORDER will Krieg? DIZZORDER bekommt Krieg!", beginne ich meine Motivationsrede, "Schlag ein Kumpel, wir sind ab jetzt Verbündete! Zusammen kriegen wir diesen Kerl klein, oder was sagst du?"

Karls Mundwinkel zucken und sein Pokerface wandelt sich zu einem kleinen, aber feinen Lächeln.

"Ich hatte vorhin schon einige Ideen, wie ich seine Backdoor unbrauchbar machen kann", sagt er leise, "Vielleicht nicht alles entfernen, aber doch zumindest verhindern, dass er wieder reinkommt. Einen Alarm habe ich eben schon eingerichtet, du wirst sofort benachrichtigt, wenn er es versucht."

Ich grinse bis über beide Ohren. Das ist der Esprit, den ich hier brauche!

Meine Hand streckt sich Karl noch penetranter entgegen und ehe ich ihn am Arm antippen kann, scheint er sich ein Herz zu fassen und lässt sich auf einen erstaunlich festen, aber dennoch sehr knappen Händedruck ein.

"Super, Kumpel. Wir schaffen das!"

Und trotz des Reflexes, ihm meinen Arm um die hängenden Schultern zu legen, lasse ich die Finger von Karl und gestikuliere nur theatralisch in die Luft in Richtung der nicht einmal erkennbaren Betondecke über uns, "Das hier ist der Beginn der Allianz! Hast du einen Namen für uns?"

"Nope", sagt Karl und ich meine, in seinem Pokerface leichte Skepsis erkennen zu können.

Ich lasse meine Hand sinken und schnaube amüsiert schmunzelnd, schüttele nur den Kopf, "Sorry, da ging wohl irgendwas mit mir durch. Lass uns reingehen."

Trotzdem kann ich mir nicht verkneifen, auf dem kurzen Weg nach innen, die Titelmelodie von Indiana Jones zu summen. Karl folgt mir und wenige Zeit später sitzen wir tatsächlich an der Bar. Ich mit einem Bier, er mit einem Glas Wodka Bull und während Karl akribisch DIZZORDERs Vorgehensweise noch einmal nachvollzieht und mir alles im Detail erklärt, habe ich doch das Gefühl, dass ich etwas Entscheidendes übersehen habe.

Und während das Pokerface vor meinen Augen immer mehr und immer weiter zu verschwimmen scheint, meine ich sogar, mich daran zu erinnern, diese Sache selbst ins Rollen gebracht zu haben. Das letzte Mal, als wir hier saßen, habe ich Karl in meinem Suff von ABYSS erzählt. Dass ich ihn persönlich kenne und dass er mal ein guter Kumpel von mir war, ehe ihm der Erfolg zu Kopf gestiegen ist.

Ich habe in meinem Vollrausch von seinen wichtigsten und bekanntesten Hacks geschwärmt, um Karl ein bisschen auszuhorchen, und natürlich auch nur, weil es wieder einmal emotional mit mir durchgegangen ist. Es liegt auf der Hand, dass Karl diese Informationen danach überprüft hat. Dass er sich nicht hat vorstellen können, dass ausgerechnet Ratte aus dem Kaninchenbau diesen berühmten Cyber-Terroristen kennen könnte.

Und ich, ich habe Karl unterschätzt. Denn ich hätte niemals gedacht, dass er die kleine aber feine Verbindung zwischen Ratte und ABYSS in Erfahrung bringen konnte. Wir stoßen an, ich weiß nicht mehr auf was.

Wahrscheinlich trinken wir so lange, bis Patty uns verärgert rauswirft. Was passiert ist, nachdem sie uns keifend vor die Tür gesetzt hat, kann ich beim besten Willen nicht rekapitulieren. Denn in diesem Moment erinnere ich mich nur noch schemenhaft an ein immer kleiner werdendes Blickfeld meiner Augen - trotz meiner Brille mit den dicken Gläsern - und dann wird alles schwarz.

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