[ 10100 ]

"Du bist WAS?", entfährt es mir lauter als geplant.

Karl knetet unruhig die Hände ineinander und sieht ehrlich so aus, als wäre ihm die ganze Chose sehr unangenehm.

"Es tut mir leid, Dom. Es ging nicht anders. Ich musste die Sache so"--

"Halt. Stop!", unterbreche ich ihn, "Jetzt rede ich!"

Reue zeigen ist zwar sehr nobel, bringt mich in dem Fall aber auch nicht weiter. Ich bin wütend, ja. Karl soll sich besser einen guten Grund für die Scheiße überlegen, sonst soll er sich ficken. Sicherlich kann das jeder nachvollziehen und wenn nicht, dann soll er sich eben auch ficken. Mir reicht's. Ich werde hier von Anfang an nach Strich und Faden verarscht.

Was kommt als nächstes? Luke, der mir unter Tränen beichtet, dass er eine neue Identität unter dem Namen DIZZORDER aufgebaut hat und mich in seinen Rosenkrieg mit Karl reinzieht? Ist doch alles gequirlte Kacke! Aber denke nicht daran, Karl zu Wort kommen zu lassen - dafür schäume ich zu sehr vor Wut und er muss sich jetzt erst mal meine Version der Geschichte anhören:

"Ok warte einen Moment. Ich verstehe ja schon - du musstest deine komischen N0PE-Aktivitäten geheim halten, weil es sonst gefährlich wäre. Natürlich wusstest du auch bis vor kurzem noch nicht, dass ich ABYSS bin oder warte, du wusstest es schon die ganze Zeit und ich durfte deswegen immer neben dir sitzen, damit du mich verfolgen kannst und mir immer einen Schritt voraus bist?!"

"Dom", versucht Karl einzulenken, "Das ist doch schon ewig her!"

"Ja, mag sein!", schnaube ich, "Lassen wir mal den Schnee von gestern weg - DU hast Probleme mit DIZZORDER. Aber was zum Geier habe ICH mit der Scheiße zu tun! Ich sag dir mal was, wie ich das sehe - hättest DU mich mal aus dem Spiel gelassen, dann stündest du jetzt ganz dumm alleine da. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du mich zur Zielscheibe gemacht hast, damit ich dich unterstütze! Ist doch so, was?"

Ich durchbohre Karl mit meinem wütenden Blick, aber wie immer schaut er mich nicht an, sondern irgendwie an mir vorbei. Das ist für mich das finale Indiz, dass ich recht habe und so kann mich nichts mehr halten, während ich mich mit all meinen Vorwürfen nicht mehr zurückhalte.

"Damit du nicht allein gegen DIZZORDER ran musst, machst du mich systematisch fertig, jagst mir so nen Schrecken ein und mich aus meiner eigenen Bude. Und nebenbei tust du noch wie ein Unschuldsengel-- Dom, ich hab dir Kaffee gemacht! Dom, ich hab dich vor dem Hackerangriff gerettet! Dom, ich kann nicht lügen, und-- pah! Mir wird schlecht, wenn ich dran denke, was für ne Platte ich mir gemacht hab!", ich schnaufe und streiche mir hektisch den Schweiß von der Stirn, "Meine Kamera hast du sicher nicht repariert, sondern manipuliert! Und was die Sache mit Luke sollte - klär mich auf, hast du ihn genauso verarscht und in die Enge getrieben, damit er mich bei dir vorbeibringt?"

Schließlich bin ich fertig und bebe am ganzen Leib. Ich starre Karl an, der auf den Boden blickt und schnaube:

"SAG WAS! Sag mir, dass ich recht habe! Sag mir, dass du ein verdammter Lügner bist. Wann immer du den Mund aufmachst und dann noch-- Uhh Dom, bitte nutze meine Ehrlichkeit nicht aus, mimimi!"

Kurz herrscht Schweigen und ich fühle mich komplett leer, nachdem ich all meine Wut rausgelassen habe. Leider ist es kein schönes Gefühl, sondern irgendwie beängstigend, wenn man bedenkt, dass Karl nicht aussieht, als würde er gleich in Tränen ausbrechen und sich entschuldigen. Er sieht nicht glücklich aus, nein. Aber er sieht auch nicht aus wie einer, den man gerade auf frischer Tat ertappt hat.

Eher schaut er drein, als würde er körperliche Schmerzen haben und als wisse er weder ein noch aus.

Dann nimmt Karl einen letzten tiefen Zug von seiner Zigarette und drückt sie im Aschenbecher am Fenster aus.

"Nein", sagt er leise, "Ich bin mir sicher, du merkst selbst, wie viele klaffende logische Lücken deine Version der Geschichte hat. Du bist bestimmt verwirrt, das verstehe ich. Du hast Angst, das ist vollkommen berechtigt. Aber zu keinem Zeitpunkt in meinem Leben habe ich etwas anderes als die Wahrheit gesagt."

"Du sagtest doch selbst, dass du kein Mitglied bei N0PE bist!", knurre ich anklagend, aber nur noch halbherzig, "Dass du nicht mit denen gemeinsame Sache machst!"

"Bin ich ja auch nicht und tue ich ja auch nicht", sagt Karl ruhig, "Wie soll ich ein Mitglied von einer Gruppe sein, die nicht existiert, weil es keine Gruppe ist? Wie soll ich mit jemandem gemeinsame Sache machen, der nicht über meine eigene Existenz hinausgeht? Ich gebe zu, es war missverständlich zu sagen, dass ich Kontakte habe - aber keine Lüge. Ich musste nicht nur mich selbst schützen, sondern auch dich."

"Pah!", mache ich und verschränke die Arme vor der Brust, "Hast du ja toll hinbekommen!"

Karl seufzt leise und schließt für einige Momente die Augen, ehe er wieder meine Nasenspitze anschaut, "Dom. Du weißt selbst, dass du in letzter Zeit sehr unter Spannung stehst. Dass du eine Gefahr für dich selbst bist, wenn du dich bedroht fühlst - weil du nicht nachdenkst, bevor du handelst. Du bist nicht du selbst unter diesen Umständen-- und versteh mich nich falsch, das ist ok! Das ist menschlich!"

Er schluckt hart und räuspert sich geräuschvoll, ich habe mittlerweile resigniert, sodass ich ihn einfach reden lasse,

"Aber nimm mir doch bitte nicht übel, dass ich dir helfen will."

Ich schnaufe tief durch. Dann raufe ich mir das Haar und gehe unruhig in der kleinen kahlen Küche auf und ab.

Tatsächlich hat er es geschafft, dass ich mir alles nochmal durch den Kopf gehen lasse, obwohl ich nie wieder denken, sondern vielmehr handeln wollte. Vielleicht ist das der Fehler. Und das schlimmste ist: Mit Karl kann man nicht streiten!

Es tut doch echt gut, wenn mal die Fetzen fliegen, aber nein, er verteidigt sich so sachlich und demütig, dass man ja gleich ein schlechtes Gewissen bekommt, ihn so angeschnauzt zu haben. Und während ich noch einmal die logischen Lücken meiner weit hergeholten Verschwörungstheorie durchgehe, werden die meisten davon mit der Wahrheit geschlossen, die ich mir nicht habe eingestehen wollen.

Karl ist nicht nachtragend, es war ihm schlichtweg egal, dass ich trotz der alten Eskapaden neben ihm sitze. Er hat mich trotz allem vor DIZZORDER gerettet und wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, gibt es keinen einzigen Hinweis darauf, dass Karl schuld an dem Angriff gewesen sein könnte.

"Es bringt nichts, wenn wir uns gegenseitig beschuldigen", sagt Karl schließlich, "Wir müssen zusammenarbeiten, um DIZZORDER zu stellen. Dann kannst du wieder nach Hause und deinen Tätigkeiten nachgehen und ich-- ich kann vielleicht endlich mit dieser N0PE-Sache abschließen und ein normales Leben führen."

Mir stockt der Atem-

"Wie jetzt?", frage ich verdattert, "Du baust dir eine Existenz auf, in der alle dich für einen Haufen super begabter Hacker halten, die all ihre Kräfte zu einem großen Projekt bündeln, stemmst den Scheiß ganz allein und dann hast du keinen Bock mehr drauf?!"

Karl schüttelt den Kopf und hebt abwehrend die Hände, "Dom. Darüber möchte ich jetzt nicht diskutieren."

"Mensch Karl!", entfährt es mir.

Ich will ihm weniger einen Vortrag halten, als dass ich einfach nur laut denke: "Du musst ein Genie sein, wenn du das ganze Projekt allein auf die Beine gestellt hast! Weißt du, was die Leute über N0PE sagen?"- ich erkenne mich kaum wieder, als ich es plötzlich schaffe, die andere Seite der Medaille zu sehen -"Mensch! N0PE ist ein Name, den man kennen muss. Vielleicht ist es heutzutage still geworden, ja. Aber damals-- damals, als ich angefangen habe! Mensch Karl, JEDER hat über N0PE gesprochen! Die Helden einer neuen Generation-- Aktivisten, die endlich für die Rechte der Menschen aufgestanden sind!"

Ich schlucke mühsam, denn Karl wendet sich nun komplett ab, "Karl, schon allein die blöde Ratte! Jeder kennt diese blöde Ratte! Das ist eine Marke, ein Wahrzeichen, das alles, N0PE-- nein, DU! Du gehörst zum aktuellen Zeitgeschehen dieser abgefuckten Stadt und wirst in die Geschichte eingehen!"

"Falsch", sagt Karl sehr leise, "N0PE ist fast schon Geschichte."

"Aber"-- will ich einwenden, breche dann aber ab.

"Du musst es nicht verstehen, Dom", sagt er nur und lässt die Schultern hängen, "Bei einer Sache hattest du recht. Ich bin auf deine Hilfe angewiesen. Und du auf meine. Wir ziehen diese Sache durch, danach geht alles wieder seinen gewohnten Gang."

"Aber du kannst nicht mit N0PE aufhören!", entrüste ich mich noch immer.

Karl seufzt und kramt in seiner Hosentasche, aus der er ein Bündel Scheine zieht und mir in die Hand drückt:

"Zehntausend. Sieh es als Entschädigung für die Umstände und Bezahlung für deine Dienste. Wir müssen DIZZORDER der Polizei ausliefern und fertig. Ich hoffe, wir kommen ins Geschäft."

Ich bin sprachlos und schaue verwirrt auf das Vermögen in meiner Hand, dann wieder zu Karl, folge ihm intuitiv aus der Küche raus bis in einen Gang, auf dem sogar Teppich auf dem Fußboden ausgelegt ist und der viel weniger wie eine alte Fabrikhalle als wie eine kleine Wohnung wirkt.

Er schließt eine Holztür auf und gibt mir den Schlüssel, "Du kannst hier übernachten und dir alles nochmal genau überlegen. Wir treffen uns morgen zum Frühstück und wenn du immer noch dagegen bist, bring ich dich wieder raus. Wir finden sicherlich einen Weg, wie DIZZORDER dich in Ruhe lässt-- oder schleusen dich hier raus oder irgendwas, Dom."

Karls Kopf hängt fast demütig auf seinen Schultern und irgendwie tut er mir leid.

"Ich hoffe, du kannst gut schlafen. Wenn was ist-- du findest mich."

Und damit nickt er mir noch kurz zu und lässt mich stehen.

Mit zehntausend Euro, mit einem Schlüssel zum augenscheinlichen Gästezimmer und mit meinem schlechten Gewissen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top