[ 100 ]

Es ist noch nicht einmal ganz Mittag, als ich mein Stammlokal betrete. 

Es trägt den illustren Namen "Rabbit Hole", vielleicht um an noch immer als Kult gefeierte Märchen von Alice im Wunderland zu erinnern. Da wir uns nach meiner Überwindung mehrerer stillgelegter Rolltreppen abwärts unter Tage befinden, muss die abgefuckte Spelunke nicht einmal abgedunkelt werden. 

Wahrscheinlich war das für unsere Verhältnisse doch recht geräumige Lokal mal irgendein überteuertes Vierundzwanzigstunden-Geschäft mit Kaffeeautomat, Kühltheke und Backofen gewesen, wie man sie an tatsächlich betriebenen U-Bahn-Stationen noch findet.

Es interessiert mich nicht besonders, denn jetzt prangt - gut sichtbar mit der ansonsten im Schacht nur spärlich flackernden Beleuchtung, die wir uns vom Stromnetz der Stadtwerke abspeisen - in neonfarbenen Leuchtbuchstaben der stilisierte Schriftzug "Rabbit Hole" neben einem ebenfalls leuchtenden Schild, auf dem ein weißer Hase mit zwei schwarzen X als Augen abgebildet ist.

Ich erinnere mich noch an damals, als das "t" kaputt war und ich jedes Mal mit einem undefinierbaren Grinsen reinmarschiert bin, während ich mir das Prusten verkneifen musste. Allerdings ist das relativ irrelevant, immerhin können sich nur noch die älteren unter uns überhaupt noch an praktizierte Religion erinnern. 

Nicht dass es verboten wäre, aber in einer Welt wie heute heißt der einzige Gott Google und wenigstens die meisten klassischen Glaubenskriege haben sich in die anders gearteten Fronten von Apple und Microsoft gewandelt.

Außer mir, der immer sehr interessiert in Geschichte gewesen ist, hat es also wohl herzlich wenige Leute interessiert. Mittlerweile funktioniert das "t" auch wieder, von daher also zucke ich mit den Schultern und ziehe mir das Halstuch vom Gesicht, als ich eintrete. Schon nach wenigen Metern im sogenannten Kaninchenbau bereue ich diese Entscheidung. 

Hier unten gibt es keine Zeit, es ist nicht gerade erst Mittag, man existiert einfach, so wie man zu jeder Zeit existiert. Und das in einer Atmosphäre, die nicht nur nach U-Bahn-Schacht, sondern vor allem nach Zigarettenqualm und in die Luft gepustetem THC riecht.

Die Luft steht hier drin noch mehr als im eigentlichen Schacht und für einen Augenblick frage ich mich, wieso es noch immer die geschlossenen Fenster und all die dicken, einbruchssicheren Wände gibt. 

Immerhin gibt es auch keine Türsteher - wozu auch, wir sind unter uns - aber vielleicht ist es genau eben jenes Feeling von eingesperrter Luft, die zum Schneiden dick nach ungewaschenem Mensch, heißgelaufener Hardware und wie schon erwähnt verschieden geartetem Rauch stinkt, die den Charme vom Rabbit Hole ausmachen.

Kurz frage ich mich noch, wieso ausnahmsweise mal gute Musik in dem Schuppen läuft. Aber nachdem die blauhaarige Kellnerin an mir vorbeirempelt und mich dabei erstaunlich tonlos anzupampen scheint, fällt mir auf, dass ich immer noch meine Stöpsel in den Ohren habe.

Ich ziehe meinen makellosen Musikgeschmack aus meinen Gehörgängen und komme sofort in den Genuss des Originalsoundtracks von Need For Speed Underground 2 - oder zumindest mal einem sehr sehr alten und mir eben dadurch bekannten Hip Hop Song aus der damaligen Gangsterszene irgendwo in den USA.

Aber wenn Patty Schicht hat, ist das immer so. Und wenn man es genau nimmt, hat Patty immer Schicht, denn der Laden gehört zu einem Drittel ihrem großen Bruder und der braucht billige Arbeitskräfte, um die Getränke zu verteilen. Immerhin kann es sich hier keiner erlauben, seinen Platz zu verlassen, nur um wahlweise hydriert zu bleiben oder sich selbst mit wie auch immer gerarteten Alkoholika zu dehydrieren.

Die übliche Gesellschaft tagt schweigend und in der Überzahl mit eigenen Kopfhörern ausgestattet an den einzelnen Sitzplätzen an den lieblos zusammengestellten Tischen. Man sieht eigentlich nur die Schatten auf den hell vom eigenen Bildschirm beleuchteten Gesichtern. Um sich miteinander zu unterhalten, wählen nur die allerwenigsten den direkten Weg und wenden sich vom Bildschirm ab.

Nach dem Motto "Don't ask - don't tell" kann hier jeden machen was er will, solange man niemand anderen dabei stört, stört es auch niemanden.

Die dicke Schicht Beton über uns schirmt mithilfe von unserem vereinten Wissen über Störsender und Firewalls alles ab, was von draußen versucht reinzukommen. Natürlich auch sämtliche Signale, die nicht mehrfacht gefiltert und gesichert durch die riesige Empfängerschüssel an der Oberfläche ausdrücklich durchgelassen werden. Wer hier sein Gerät an den Strom anschließt, ist auch automatisch in unserem Netz. Das bedeutet allerdings keine Verknüpfung untereinander, lediglich nur einen Zugriff auf Energie und genügend eingehende und ausgehende Signale, um hier überhaupt arbeiten zu können.

Nicht einmal die CIA kommt hier rein - und wenn, dann kommt sie nicht mehr unbeschadet raus. Das ist kein angeberisches Statement, sondern eigentlich nur der einzige Grund, warum der Kaninchenbau nicht schon längst entweder ausgeräuchert oder gesprengt wurde. Es ist unser Niemandsland. Und auch wenn es Menschen gibt, die vermuten, dass hier derartige Dinge vonstatten gehen, wird das Thema in der Regierung wohl genauso tot geschwiegen wie bei uns untereinander.

Ich lehne mich gedankenverloren an den Tresen und schaue auf Pattys sehr sehr eng schwarzledern umhüllten Hintern, als sie sich nach unten beugt, um eine Flasche Coca Cola aus dem Kühlschrank zu ziehen.

"Pepsi ist heute leider aus. Und Lightprodukte gibt's immer noch nicht für Leute, die einen ganzen Schokoladenkuchen innerhalb von vier Stunden verdrücken können!", sagt Patty und schaut mich nicht einmal an, während sie das Glas vollschenkt und über die Theke in meine Richtung schiebt.

Ich kann nicht glauben, dass sie das mit dem Kuchen immer noch so gut in Erinnerung behalten hat. Ist immerhin schon über zwei Jahre her, aber wer kann ahnen, dass tatsächlich so wenig interessante Dinge im Rabbit Hole passieren, dass es ein Highlight ist, jemandem dabei zuzuschauen, wie er an nicht einmal einem ganzen Nachmittag allein eine Schokosahnetorte verdrückt.

"Danke trotzdem", ich grinse und zwinkere ihr zu.

Der Kuchen war verdammt lecker gewesen. Mehr habe ich zu meiner Verteidigung nicht zu sagen, ich schaue die Kellnerin nur einfach erwartungsvoll an.

Patty ist das Urgestein dieser Szene. Ich traue mich nicht einmal, ihr Alter nur still für mich zu schätzen, aber beide ihrer dürren Arme sind bis auf den letzten Flecken Haut volltätowiert und sie hat mehr Metall im Gesicht als gesund sein könnte. Dazu machen auch noch die himmelblauen, arschlangen Dreads ziemlich deutlich klar, wieso sie keinen Job an der Erdoberfläche gefunden hat.

Die heutige Gesellschaft ist bezüglich eigenwilliger Erscheinungen nicht gerade aufgeschlossener geworden.

Sie schaut mich unbeeindruckt an und verdreht die Augen. Ich lächle sie geduldig an und nehme einen großen Schluck Coca Cola mit Zucker. Sie scheint abzuwarten und mit jeder Sekunde genervter zu werden.

"Was gibt's, Ratte?", fragt sie mich dann tonlos, "Du stehst doch nicht zur Dekoration so lange bei mir!"

"Nein, ich glaube, dafür bin ich dann doch nicht ästethisch genug", sage ich mit einem breiten Grinsen und rücke spielerisch zwinkernd meine Brille zurecht.

Sie stöhnt entnervt auf und wirft ihre verfilzten Haare zurück. Ich weiß seit über zwei Jahren, dass sie nicht auf dünne Jungs mit schlechtem Sinn für Humor steht und ich somit keinerlei Chancen bei ihr habe. Vielleicht ist es genau dieser Fakt, der es so interessant für mich macht, diese kleinen freundschaftlichen Flirts aufrechtzuerhalten, die sie nicht einmal erwidert.

"Aber gib's zu, du hast schon weitaus Unästhetischeres als mich gesehen!", lege ich noch nach, dann trinke ich noch einen Schluck und komme tatsächlich ein bisschen zur Sache,

"Nein, eigentlich wollte ich dich fragen, ob du was von Luke gehört hast. Ob du weißt, wann der werte Herr denn gedenkt, sich mal wieder auf einen Besuch hier herabzulassen?"

Patty zieht die Stirn kraus und legt den Kopf schief, "Kommt drauf an, wer das wissen möchte. Was willst du von ihm?"

"Whow whow whow!", Ich trete zwei Schritte zurück und hebe lachend die Hände, "Kein Grund für die Löwin, ihren großen Bruder gleich bis auf's Blut verteidigen zu müssen! Ich würde nur mal gern wieder mit ihm plaudern, das ist alles."

Über Pattys Lippen zuckt ein bitteres Lächeln, "Das kannst du der Telekom erzählen. Ich kenne dich, Ratte!"

Ich muss schmunzeln und zucke mit den Schultern. Während ich mein Glas an mich nehme und mich mit einem angedeuteten Knicks an einen der Tische verabschiede, schüttele ich den Kopf und murmele lächelnd vor mich hin,

"Nein", ich schnaube kaum hörbar und eindeutig amüsiert,

"Nein, Patty. Das tust du nicht."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top