14 ~ 2861 Follower
Zwei Wochen vergingen, in denen ich mir selbst ein Bild von Costas und Hannahs Beziehungsstatus machen durfte. So flirteten sie direkt vor meinen Augen oder gingen Hand in Hand durch den Schulflur, während ich wie ein Hund hinter ihnen hinterher dackelte. Bislang hatte ich dennoch kaum ein Wort mit Hannah gewechselt. Sie schien sich mehr für Costa zu interessieren, weshalb ich mich zurückhielt.
Mittlerweile waren wir am Anfang des Novembers angelangt und es wurde von Tag zu Tag kälter und dunkler. Meistens, wenn wir Unterrichtsschluss um vier Uhr hatten, stand die Sonne schon als halbe Scheibe am Horizont, sobald ich Zuhause ankam. Es war unfassbar, wie lange es schon her gewesen war, dass wir kurzärmlig hinausgehen konnten.
Da wir seit einer Woche nichts mehr Spannendes gepostet hatten, außer ein schönes Zitat über Freundschaften hier und da, forderte ich Costa kurzerhand dazu auf, einen kreativen Tag zu erleben, während er gerade in einer aspektorientierten Gedichtsanalyse nach Rechtschreibfehlern suchte.
„Wir sind doch gerade kreativ. Naja, wir versuchen, dieses scheußliche Gedicht zu interpretieren. Das ist doch kreatives Denken", hatte er darauf geantwortet.
Ich hatte nur mit dem Kopf geschüttelt und erwidert: „Von wegen. Wenn das kreativ sein soll, dann verstehe ich nicht, wieso ich dafür alle Zeitepochen auswendig können muss. Ich meine, dass wir am nächsten großen Post arbeiten sollten. Wir müssen den Leuten etwas Neues bieten."
Als er mein Anliegen endlich richtig verstanden hatte, hatte er schließlich zugestimmt. Und so saßen wir nun hier in seinem Auto auf dem Weg in einen Park, in dem keiner von uns jemals zuvor gewesen war. Das sollte unseren Blick erweitern und uns neue Inspirationen geben. Es war nicht meine Idee gewesen, aber es sollte einen ganzen Samstag füllen.
Der Park war recht groß dafür, dass er in einem Dorf lag. Vermutlich gab es hier mehr Touristen als Einwohner. Wir wollten erst einmal eine Runde um den See laufen, der sich in der Mitte einer großen Wiese befand.
„Also, worauf genau achten wir?", hakte ich nach den ersten zwanzig Schritte vom Auto entfernt nach. Costa schüttelte amüsiert den Kopf und fuhr sich über den Kopf.
„Nach gar nichts. Versuch einmal diesen Instamüll zu vergessen und abzuschalten. Dann kommt die Inspiration von ganz alleine."
„Und was, wenn nicht?" Ich hob einen Mundwinkel und blickte die Allee hinauf, die von braunen und orangefarbenen Blättern gesäumt war. Die Sonne bahnte sich ihren Weg durch die Äste und warf bunte Muster auf den Boden.
„Dann wissen wir, dass wir den neuen Post genauso gut in einem abgedunkelten Raum ohne Fenster gestalten können."
Zunächst war ich noch zwiegespalten und glaubte nicht daran, dass es half, das eigene Ziel, weshalb wir hergekommen waren, aus den Augen zu verlieren. Stattdessen wollte ich mich auf irgendetwas konzentrieren wie Mindblowing für unterwegs.
Doch nach einer halben Stunde bewies mir Costa, dass es durchaus erforderlich war, abzuschalten, während man nach neuen Ansätzen suchte. So entdeckten wir einen Schwan, der sich mit einigen Haubentauchern um ein Stück Brot stritt, das zuvor ein älterer Mann mit Gehstock ins Wasser geworfen hatte. Der Schwan fauchte sie an, als Costa dazu sagte: „Ich bin froh, keine Katze zu haben, die mich genauso anfaucht, sobald ich ihr etwas zu essen wegnehme." Wir lachten zeitgleich und gingen weiter.
„Sieh mal da! Ich wusste gar nicht, dass man hier Stand-up-Puddeln kann", wunderte ich mich, als ich zwei Mädchen dabei beobachtete, wie sie kichernd auf zwei Boards im Wasser Platz nahmen. Die Ruder hielten sie ungeschickt gen Wasser, in das sie fallen würden, sobald die Mädchen eine falsche Bewegung machten. „Zumindest zu dieser Jahreszeit", ergänzte ich noch.
„Das könnte Spaß machen. Wollen wir?"
„Was? Bei dieser Kälte? Du weißt, wie kälteempfindlich ich bin!" Ich hielt mir demonstrativ die Arme. Ich würde mich ganz sicherlich nicht im November auf ein Board stellen und riskieren, ins eisige Wasser zu fallen.
„Ach, gib dir einen Ruck. Das wird bestimmt lustig und könnte hilfreich für einen Post sein", argumentierte er, als er schon zum Vermietungsstand lossprintete.
„Warte!", rief ich und lief im Schneckentempo hinterher.
„Zwei Boards bitte", sagte Costa gerade zu dem Vermieter mit verwuschelten Haaren und einem Vollbart, sodass man seine Mundbewegungen nicht erkennen konnte, als er „Ja, sofort" sagte.
„Wir haben Glück", wandte sich Costa an mich und deutete auf ein Schild am Schuppen für die SUP-Boards. Dort stand etwas von fünfzig Prozent Rabatt pro Board, da die Sommersession fast vorbei war. Wären wir erst in einer Woche gekommen, hätte hier niemand mehr auf dem Wasser fahren können. Ich wusste nicht so recht, ob das ein Pro- oder Kontra-Argument war.
Als Nächstes bekam ich ein hellblaues Board in die Hand gedrückt, das doppelt so groß war wie ich selbst. Costa drückte dem Typen einen zwanziger in die Hand und bedankte sich bei ihm. Dann folgte er mir Richtung Wasser und fragte, ob ich noch wüsste, wie lange wir beide kein SUP mehr gefahren waren. Ich erinnerte ihn daran, dass es schon mindestens drei Jahre her sein musste, da ich mich noch genau an den Tag im Sommer erinnerte.
„Wehe, du schubst mich wieder ins Wasser wie das letzte Mal."
„Keine Sorge. Ich kenne den Unterschied zwischen sommerlichen Wassertemperaturen und herbstlichen."
„Das will ich für dich hoffen. Ansonsten ist das Handy auch hin." Ich klopfte mit der freien Hand auf meine Jeanshose. Mir gefror jetzt schon das Blut in den Adern, wenn ich das Wasser sah, auf dessen Oberfläche die Blätter tanzten. Die Sonne verzog sich in den darauffolgenden Minuten hinter den Wolken, als wir hinaus paddelten. Während ich immer noch sicher kniete und vorsichtig voran ruderte, paddelte mein bester Freund wie ein Spitzensportler stehend voraus. Seine Hose war knietief mit eiskaltem Wasser übersät, die er hochgekrempelt hatte, doch es schien ihm nichts auszumachen.
In der Mitte des Sees kam er zum Stehen und schaute sich zu mir um. Nach zwei Minuten kam ich auch an. Die Sonne begrüßte mich freundlich mit ihrer Anwesenheit. Das glitzernde Wasser blendete etwas und erinnerte an den Sommer.
„Also", begann Costa und kniff die Augen zusammen: „Hol deine Kamera raus. Wenn das nicht kreativ ist, weiß ich auch nicht. Ein schöner See, eine schöne Landschaft und gute Stimmung. Wir photoshoppen einfach den Standort rein und keiner erfährt, wo wir leben. Schließlich ist der Park sehr weit von Rostock entfernt."
„Das stimmt." Ich nahm mein Handy und drückte auf das Kamera-Item. Danach richtete ich es gen Ufer aus und knipste drauflos. Später könnte ich die unbrauchbaren Fotos immer noch aussortieren. Ich streckte mich ein Stückchen weiter über das Wasser, um eine perfekte Aufnahme von einem Schwanenpaar zu bekommen.
„Pass auf, dass dein Handy nicht ins-", fing Costa an, doch es war bereits zu spät. Ich verlor das Gleichgewicht und klammerte mich mit beiden Händen instinktiv ans Board fest, um nicht herunterzufallen. Mit einem Platschen versank mein Handy. Ich bekam einen riesigen Schrecken.
„-Wasser fällt", beendete Costa gemächlich seine Warnung und sprang kurzerhand mit dem Kopf voran ins Wasser, um das Handy vor dem sicheren Untergang zu bewahren. Ich rief noch seinen Namen, doch da war er schon untergetaucht. Ich fasste es nicht, dass er auf die Idee gekommen war, einfach so hinterherzuspringen. Noch weniger glaubte ich, dass ich gerade wirklich mein Handy verloren hatte. Da war so vieles drauf, was mir wichtig war.
Ich verzweifelte fast, als die auftauchenden Luftblasen sich verringerten bis keine mehr auftauchten. Konnte eine Person in einem See wie diesem ertrinken? Es schien mir auf einmal nicht mehr so abwegig. Verdammt. Costa musste wieder auftauchen, egal ob mit Handy oder ohne.
„Costa?"
Ein Schatten näherte sich der Wasseroberfläche und tatsächlich. Mit lautem Prusten schwamm er wieder an der Oberfläche und streckte die Hand mit meinem Handy empor.
„Costa! Du bist verrückt geworden. Komm."
Er schwamm in meine Richtung und stemmte sich aufs Board, wobei ich fast selbst ins Wasser abtauchte. Ich umarmte ihn stürmisch.
„Du hast mir Angst gemacht." Er löste sich von mir und schaute mit wilden Augen in meine. Die Wassertropfen rannen ihm das Kinn hinunter. Gleichzeitig schnappte er nach Luft und fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht.
„Ich hab genug vom Wasser. Was meinst du? Fahren wir zurück?", fragte er leise, während Wassertropfen weiterhin an seiner Stirn hinab perlten. Er nickte dem Ufer zu.
„Ja, fahren wir zurück."
Am rettenden Festland angelangt, blickte ich noch einmal auf den See und den umwerfenden blauen Himmel, durch den ich mich wieder im Sommer gefangen fühlte.
Costa legte langsam seine Arme von hinten um meinen Körper und schmiegte sich an mich. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sich das Wasser seiner Kleidung auf meine übertrug.
„Hey, lass das. Ich will nicht auch noch eine Erkältung bekommen. Du solltest dir was anderes anziehen. Nimm die hier." Ich löste mich von ihm und zog meine Winterjacke aus, um sie Costa zu reichen. Ich hatte glücklicherweise noch einen Pullover darunter, sodass sich der Verlust der Jacke nicht sonderlich bemerkbar machte.
„Danke", entgegnete er und nahm die Jacke an sich: „Setzen wir uns doch irgendwo hin, um an dem Post zu arbeiten."
„Klar. Gute Idee." Ich griff nach dem Bord wie Costa und trug es zu dem Schuppen, wo der Mann sie uns wieder abnahm und fragte, wie es uns gefallen hätte. Er fing Costa zu mustern an und sich etwas zu wundern. Mit einem Finger deutete er auf seine nasse Kleidung und Haare und öffnete den Mund, doch Costa kam ihm zuvor. „Das ist nichts Dramatisches. Wir haben nur eine kleine Wasserschlacht gemacht, weiter nichts. Hat Spaß gemacht. Sie hat gewonnen." Mit einem Grinsen deutete er auf mich. Für jeden anderen Menschen auf der Welt wäre das die schlechteste Lüge der Welt gewesen, da ich kein bisschen nass geworden war, doch der Vermieter runzelte nur die Stirn und wünschte uns einen schönen Tag.
„Das war ja eine spitze Ausrede", meinte ich, als wir uns auf die Suche nach einem Picknicktisch begaben.
„Zumindest hat er sie mir abgekauft. Klingt besser als zu sagen, dass ich deinem Handy nachgetaucht bin."
„Verdammt, mein Handy!" Ich zerrte es hervor und wollte es aus Panik anschalten, um zu prüfen, ob es das Wasser ermordet hatte. Doch mein bester Freund nahm es mir ab und wies mich auf das hin, was ich in normalen Situationen auch angemerkt hätte, wäre es nicht mein digitales Leben gewesen.
„Nicht anmachen. Sonst kannst du es gleich wegschmeißen. Wir müssen warten, bis es wieder trocken ist."
„Stimmt. Jetzt verstehe ich langsam, wieso du mir empfohlen hast, ein wasserfestes Handy zu kaufen." Er grinste.
Als wir endlich einen Tisch gefunden hatten, an dem wir arbeiten konnten, fiel mir auf, dass das schöne Bild, das ich vom See gemacht hatte, bevor das Handy hineingefallen war, genauso verloren war.
„Verdammt. Das Foto war auf meinem Handy." Ich setzte mich frustriert hin.
„Kein Problem wegen dieses Ungeschicktes. Für solche Fälle hast du mich. Deinen persönlichen Retter in der Not." Er entsperrte sein Handy und reichte es mir. Darauf zu sehen war ein Bild vom See, wie es besser hätte nicht sein können.
„Du hast doch noch dran gedacht?"
„Überraschung."
Ich erwiderte sein Lächeln und fiel ihm noch einmal um den Hals, obwohl es für heute echt genügte mit den Umarmungen und Danksagungen.
In der nächsten halben Stunde bastelte ich an dem Bild herum, legte Filter darauf und schrieb eine kleine Botschaft darauf. Freunde helfen sich bei Schwierigkeiten. Liebende bereiten sich Schwierigkeiten.
Ich schaute zu Costa herunter, der auf der Bank gegenüber lag und sich mit Augen zu sonnte. Es war schwer zu beurteilen, ob er schlief oder nur das Gezwitscher um uns herum genoss. Als er anmerkte, dass er glaube, es finge bald an zu schneien, bestätigte sich meine zweite Vermutung. Wieso hing die ganze Arbeit des Postes eigentlich an mir?
„Du könntest mir ruhig hier helfen."
„Wer ist vorhin für dich ins eiskalte Wasser gesprungen? Dieser jemand sollte die Gelegenheit haben, sich von der Sonne aufzuwärmen und verehrt werden."
„Aber natürlich, euer Ehren. Tut mir vielmals leid, Sie gestört zu haben", warf ich ironisch zurück, woraufhin Costa sich aufsetzte und mir mit klaren Augen in meine blickte.
„Ich nehme die Entschuldigung an und bin gewillt, dir zu helfen, wenn du mir sagst, wobei."
„Zu spät", erwiderte ich: „Ich bin fertig. Aber eine Sache noch, bevor ich es hochlade. Sieht das gut aus?"
Ich hielt ihm sein eigenes Handy entgegen und er fing an, es mit größter Skepsis zu betrachten.
„Yup. Sieht Klasse aus. Ich hab mich geirrt. Du brauchst mich doch nicht so dringend." Er zog einen Mundwinkel nach oben und verweilte mit seinen Blicken bei mir.
„Quatsch. Natürlich brauche ich dich", erwiderte ich und fügte schnell hinzu: „Nur nicht für ästhetische Dinge."
„Recht hast du." Costa blickte mit ernster Miene um sich und fokussierte irgendwas in der Entfernung. Ich drehte mich um und folgte seinem Blick in Richtung des Parkplatzes. Es war schon dunkler geworden und die Dämmerung setzte in großen Sprüngen ein. Ich musste mich anstrengen, um überhaupt die Umrisse der Autos auszumachen. Was und wen genau suchte er? Wurde sein Auto gestohlen?
Mit einem Mal deckte Costa das Rätsel auf. „Sag mal, was stand vorne am Tor für eine Uhrzeit, wann der Park geschlossen wird?"
Es schlug wie ein Blitz in meine Gedanken, worauf er hinaus wollte.
Ich musste nicht antworten, um ihn genauso schnell in Bewegung zu setzen, wie ich es in dem Moment tat.
So schnell wir konnten, nahmen wir die Beine in die Hand und vergewisserten uns, dass das schlimmste eingetreten war, das wir geahnt hatten. Für einen kurzen Moment davor hatte ich noch Hoffnung gehegt, der Typ mit dem Schlüssel wäre nach Hause gefahren, ohne seine Aufgabe zu erledigen.
„Verdammt", fluchte ich. Das Tor zur Straße war verschlossen worden und Costas Wagen war der einzige, der noch auf diesem verfluchten Parkplatz stand. Selbst die Tür für Fußgänger war schon geschlossen worden und ein etwa drei Meter hoher Zahn trennte uns von der Außenwelt.
„Kein Beinbruch. Wir müssen eben ein wenig improvisieren", sagte Costa und zuckte mit den Schultern, als würden wir nicht hier festsitzen wie auf einer einsam gestrandeten Insel, kilometerweit von jeglicher Hilfe entfernt.
"Wäre es möglich, dass wir einfach im Auto übernachten und morgen zurückfahren, wenn das verfluchte Tor wieder offen ist?", erkundigte ich mich. Costa schüttelte den Kopf und deutete auf die Öffnungszeiten des Parkplatzes. Morgen würde niemand herkommen, um ihn für Autos zugänglich zu machen.
„Bis unsere Eltern hier sind, wird es mindestens drei Stunden dauern und dann nochmal drei Stunden, bis wir Zuhause sind." Ich erinnerte mich an die Autofahrt hierher, die uns noch mehr Zeit gekostet hatte.
„Wer sagt, dass wir Hilfe anfordern? Hier fährt bestimmt irgendwo ein Bus."
„Ach ja? Du bist ja optimistisch. Wir sind in einem kleinen Dorf im Nirgendwo und es ist spätabends. Hier wird garantiert nichts mehr fahren."
Nervös ging ich einige Schritte hin und her, während Costa versuchte, einen Balken Empfang für die Suche nach einer Busverbindung zu bekommen.
„Keine Sorge. Wir schaffen es schon irgendwie nach Hause. Wir haben schon ganz andere Situationen überlebt wie die, als dein Handy ins Wasser gefallen ist und ich fast ertrunken wäre, weißt du noch?"
Dass Costa jetzt einen Witz reißen konnte, entbrannte ein wenig Wut in mir, was vermutlich eher an meiner Verzweiflung lag. Ich antwortete nicht darauf und fragte stattdessen nach dem Stand der Dinge.
„Schon fündig geworden?"
„Nö, keine Chance. Hier gibt's garantiert keinen Empfang."
Ich stöhnte frustriert auf und schaute einmal um mich, als könnte eine Lösung sich irgendwo in einem Gebüsch verstecken.
„Lass uns erstmal über diesen Zaun kommen und dann ein bisschen die Straße hinuntergehen, in Richtung der nächsten größeren Stadt. Dann bekommen wir sicherlich Empfang und einen Bus."
Was blieb uns anderes übrig? Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm Costa mir den Rucksack ab, hing ihn sich über die Schultern und begann sein Vorhaben. Mit Leichtigkeit kletterte er drei Meter hinauf und sprang in der Freiheit hinunter. Dann blickte er mich erwartungsvoll an, als müsste ich nur einen Schritt vorwärts machen, um neben ihm zum Stehen zu kommen.
Als er bemerkte, dass ich zögerte, fragte er: „Hast du Angst?"
„Nein, natürlich nicht. Was sollte an einem Zaun schon beängstigend sein?" Er grinste und ich grinste, um mir den Unmut nicht anmerken zu lassen.
Normalerweise verunsicherte mich kaum etwas, doch wenn man irgendwo in der Pampa feststeckte, in der man nicht einmal Hilfe rufen oder alleine entkommen konnte, heckte man schnell Zweifel, ob man es in vollkommener Dunkelheit überhaupt zum nächsten Dorf schaffen könnte.
Ich machte es Costa gleich und kletterte etwas unbeholfen über den Zaun. Als ich neben ihm mit einem kleinen Sprung landete, musste ich feststellen, dass es kein einziges Licht gab. Keine Straßenlampe oder irgendein Haus, das noch einen wachen Menschen beherbergte.
„Okay, laufen wir los", sagte ich. Costa folgte mir. In der Dunkelheit hätte man schwören können, dass wenn man jetzt auf einen Mörder stoßen würde, niemand jemals erfahren würde, wo die Leiche lag. Ich verbannte diesen gruseligen Gedanken aus meinem Kopf und ergriff automatisch Costas Hand. Er machte keine Anstalten oder riss Witze darüber. Nur dieser kleine Hautkontakt gab mir die Hoffnung und Sicherheit, dass wir es irgendwie sicher nach Hause schaffen würden.
Nach einem Kilometer prüfte Costa noch einmal sein Handy.
„Ich hab was", gab er bekannt: „In einem halben Kilometer kommt eine Haltestelle, die uns auf direktem Wege zum Hauptbahnhof Rostock bringt. Von da aus sind es dann nur noch einige Kilometer nach Hause."
„Klasse. Nichts wie hin. Wann kommt er?"
Es herrschte kurz Stille und würden wir uns nicht immer noch bei der Hand halten, hätte ich schwören können, dass ich ihn verloren hätte.
„In...vier Minuten. Ansonsten erst wieder morgen um sechs."
Mein Herzschlag machte einen riesigen Sprung. Sofort rief ich: „Lauf! Lauf! Nichts wie hin. Schnell!"
Wir rannten los, obwohl ich nicht einmal sagen konnte, ob es die richtige Richtung war oder ob wir uns nicht längst auf eines der Grundstücke der Einwohner befanden.
Als wir an der Haltestelle ankamen, stand der Bus schon abfahrbereit. Costa legte einen Sprint hin, um dem Busfahrer unsere Anwesenheit zu signalisieren. Glücklicherweise ließ er uns noch herein und wünschte uns einen schönen Abend, als hätten wir entspannt auf ihn gewartet.
„Guten Abend", erwiderte Costa dennoch, bezahlte für uns beide und suchte uns einen Platz. Der Bus war komplett leer, was mich nicht wunderte. Während wir uns hinsetzen, bemühten sich meine Augen, sich an das Licht zu gewöhnen.
„Gott", flüsterte ich außer Atem und ließ meinen Kopf auf seine Schulter fallen.
„Das war ein Abenteuer. Sieh es so. Und wir haben es geschafft. Wir kommen nach Hause."
„Stimmt. Das war ein Abenteuer. Aber ich hätte gut drauf verzichten können. Es mit dir erlebt zu haben, hat es allerdings etwas lebenswerter gemacht."
Costa blieb zwar still, doch ich spürte, wie er lächelte.
Der Bus setzte sich in Bewegung und ließ das Dörfchen hinter sich zurück. Wir würden erst in drei Stunden in Rostock ankommen. Meine Augen fielen schon nach einer halben Stunde zu, während ich weiterhin an meinen Freund angelehnt lag.
Als ich das nächste Mal die Augen öffnete, lag es daran, dass Costa sich bewegt hatte, um seine In-Ear-Hörer aus dem Rucksack zu holen.
"Sorry", entschuldigte er sich, als er bemerkte, dass ich wach war: „Ich wollte nur Musik anmachen. Schlaf weiter. Wir sind erst in einer halben Stunde da."
„Ne, lohnt sich nicht mehr. Kann ich mithören?" Ich stemmte mich hoch und nahm den Stecker entgegen. Im Bus saßen nun schon drei Personen mehr.
Costa machte einen unserer Lieblingssongs an: The Best von Tina Turner. Und aus irgendeinem Grund übertrug ich den Songtext auf unsere Freundschaft. Costa war definitiv der wichtigste Mensch in meinem Leben. Mit meiner Schwester konnte ich noch so im Reinen sein, Costa und mich verbannt etwas viel Stärkeres, das, so war ich mir sicher, niemals jemand oder etwas durchtrennen konnte. Ich fühlte mich niemandem mehr verbunden. Das war eine klare und unerschütterliche Tatsache.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top