11 ~ 1012 Follower

In den nächsten Tagen posteten wir wirklich alles, was uns einfiel. Von einem Bild vom Eisessen bis hin zu dem Logo der Schülerzeitung, um weiter über das Presseinterview, den Bericht und die Kampagnen zu informieren. Wir posteten wirklich alles, ganze siebzehn Beiträge innerhalb von einer Woche, doch eines blieb aus. Eines, was viele Fans von uns forderten: Wir sollten unsere Gesichter zeigen, was für uns keine Option war. Aus diesem Grund blieben solche Nachrichten einfach unbeantwortet. Und das waren nicht gerade wenige.

Genauso viele Kommentare ließen mich wütend werden, weil sie forderten, wir sollten ein Paar werden, weil es vorherbestimmt wäre. Ich hätte in der Luft wie ein Ballon platzen können.
Costa sah es so ähnlich, konnte aber noch die Fassung behalten und mich davon abhalten, auf diese Kommentare mit einem fettgedruckten KLAPPE HALTEN, WENN MAN NICHTS PASSENDES ZU SAGEN HAT!!! zu antworten. Die Posts gewannen immer mehr an Beliebtheit und an jenem Sonntagabend erreichten wir eintausend Follower.

Das musste natürlich gefeiert werden. Zunächst posteten wir noch etwas aus dem Candy-Shop, da wir Dienst hatten. Beño konnte man schließlich nicht mit Social Media überzeugen, einen Abend freizubekommen. Costa besaß außerdem noch Pflichtbewusstsein, an dem es mir offensichtlich etwas mangelte.

Schließlich, nach der Arbeit, fuhren wir mit Costas Wagen zu unserer Lieblingsbrücke und drehten die achtziger ganz laut. Schreie flogen durch die Nacht, keiner zählte mit, wie viele es waren. Als sich der Song Sunglasses at night durch die Nacht schnitt, holte Costa eine schwarze Sonnenbrille hervor und setzte sie sich ganz lässig auf die Nase, als wäre er so ein Halbstarker mit gegelten Haaren und Lederjacke. Ich lachte laut auf, weil der Anblick gerade so zum losprusten war.

Als Nächstes schnappte er sich auch noch eine Wasserflasche vom Beifahrersitz und hielt sie wie ein Mikrophon vor seinen Mund, um lautstark I put my sunglasses at night mitzusingen. Ich bekam mich gar nicht mehr ein und selbst das Video, das ich von ihm drehte, verwackelte so sehr, dass man ihn kaum erkannte. Nach einer Weile stoppte ich meine Aufnahme und sprang wie wild neben ihm umher.

„Versprich mir, dass wir damit nie aufhören werden!", rief ich.

Erst als Costa darauf erwiderte: „Womit aufhören?", bekam ich die Klarheit, dass er mich nicht verstanden hatte.

„Na damit, verrückt durch die Nacht zu tanzen und zu singen. Nur wir beide!"

„So was von versprochen!", brüllte er und sang schließlich den Refrain erneut, zwar schief, aber was zählte das schon hier draußen. Die nächsten Häuser standen in einer Entfernung von fünfhundert Metern. Wir würden also niemanden so schnell aus dem Leichtschlaf holen und wenn schon. Was sollten sie der Polizei erzählen? Dass verrückte Leute irgendwo in weiterer Entfernung schrien, als gäbe es kein Morgen mehr?

Als Nächstes folgte noch der Song Ain't nobody von Chaka Khan, zu dem wir nur mit dem Kopf mitwippten. Costa kletterte auf seinen Wagen und zog mich hinterher. Wir setzten uns auf das Dach.

„Könnte das Ding nicht einbrechen? Ich habe gehört, dass es heutzutage nicht sonderlich stabil gebaut ist." Ich deutete unter uns auf das Autodach.

„Kein Problem", sagte Costa: „Und wenn es kaputtgeht, darfst du es reparieren lassen. Ist ja schließlich bald deins." Ich wollte ihn wegen seiner Antwort necken, doch der Gedanke an das neue Auto überwog. Meins. Mein eigenes Auto. Das, was Costa und mich seit Monaten beim Ritual unterstützte. Das Auto mit den vielen Erinnerungen. Was wohl meine Eltern dazu sagen würden? Egal. Darum machte ich mir jetzt noch keine Platte.

Ich boxte Costa verspielt in die Seite. Er kicherte und sah mich mit wilden Augen an. Dann verblasste sein Lächeln allmählich, auch meins, als ich die Ruhe in seinem Gesicht erkannte. Für einen Moment existierte keine Hannah für mich. Niemanden, der mir Costa wegnehmen könnte. Keine Zukunft, keine Gegenwart. Nur die Vergangenheit. Ich sah meinen besten Freund in diesem Augenblick als den Jungen, mit dem ich mich in der fünften Klasse angefreundet hatte. Der mir zur Seite gestanden hatte, als ich jemanden gebraucht hatte. Jemanden, der die Hobbys und den Musikgeschmack mit mir teilte. Jemanden, auf den ich mich immer verlassen hatte und immer könnte. Und irgendetwas verriet mir, dass er in diesem Moment das Gleiche dachte.

Die CD war komplett einmal durchgelaufen und so hörte man nichts als die Grillen im Gras neben der Straße ziepen. Costa löste seinen Blick von mir und griff nach seinem Handy. Die Helligkeit unterbrach diesen magischen Moment in der Dunkelheit, in der wir komplett in unserem Element gewesen waren. Man hatte nicht das Gefühl gehabt, beobachtet oder verurteilt zu werden. Es war, als wären nur wir beide auf dieser Welt gewesen.

„Es ist Zeit zu fahren", sagte Costa ruhig und klang etwas traurig darüber: „Morgen steht doch noch, oder?"

Die Rede war von unserem Ausflug ans Wasser. Nicht das direkt vor unserer Haustür, sondern ein Stück weiter südwestlich nach Hamburg. Ich wollte schon immer mal die Elbe und den großen Hafen mit den Schiffen sehen. Costa war schon einmal da gewesen und hatte mir versichert, dass er erstaunlicher wäre, als der vergleichsweise kleine Hafen in Rostock. Es bot sich also an und würde sicherlich auch gut bei unseren Fans ankommen. Als Extra wollten wir Stella mitnehmen. Ich freute mich schon drauf.

„Klar steht das noch. Das gute Wetter morgen müssen wir sowieso noch nutzen. Nächste Woche soll es nämlich dauerregnen." Ich lächelte und steckte ihn damit an.

Im Auto war es kalt. Trotz, dass Costa die Heizung aufdrehte, wurde es bis zu mir nach Hause kein Stück wärmer. Ich zitterte unter einer dicken Schicht von Jacken und Decken und wollte mich aus diesem Grund schnell reinflüchten. Als ich schon die Autotür zuschlagen wollte, öffnete sich die Fahrertür.

„Ich komm noch mit zur Haustür." Costa ging mir hinterher und passte auf, dass mir keine Decke auf den Boden glitt, die auf meinen Schultern ruhte. Glücklicherweise hatte er immer haufenweise Decken im Auto. Wahrscheinlich weil er genau wusste, wie sehr ich die Kälte verabscheute.

„Danke", sagte ich, als wir vor der Tür standen. Costa legte die Hände auf meinen Oberarm und rieb darüber, um mir Wärme zu spenden, was tatsächlich etwas half.

„Du solltest das Video veröffentlichen", meinte er plötzlich. Was?

Als könnte er Gedanken lesen - vielleicht auch nur meinen verwunderten Gesichtsausdruck - erklärte er: „Ich meine das mit der Sonnenbrille und mir. Veröffentliche es. Das wird gut ankommen. Dann wissen die Fans auch, das wir Ritualnächte haben, um unsere Freundschaft zu stärken."

„Aber dein Gesicht ist doch zu sehen. Identitätsschutz, weißt du noch?", protestierte ich, doch Costa schien es ernst zu meinen.

„Man sieht mich darauf nicht, jedenfalls nicht alles von meinem Gesicht. Meine Augen sind verdeckt und außerdem ist es ziemlich dunkel."

„Und du singst schief, also wird man deine Stimme wohl auch nicht erkennen", schlussfolgerte ich und kicherte im selben Moment wie er.

„Richtig. Nichts zu befürchten. Der Schutz ist garantiert." Er wusste genau, dass mir nichts anderes übrig blieb, als seiner Aussage Glauben zu schenken und seinem Vorschlag nachzukommen. Deshalb willigte ich schließlich ein, umarmte ihn zum Abschied und verschwand ins Warme. Das Licht im Flur blendete und warf mich zurück in die Wirklichkeit. Langsam schlich ich Richtung Bad und danach in mein Zimmer, um niemanden zu wecken. Zum Glück war morgen frei.

Am nächsten Morgen wurde ich von einem Augenpaar geweckt, das mich anstarrte, als hätte es nur darauf gewartet, dass ich aufwachte. Es waren Emis. Ich schreckte hoch und wurde von einem schrillen: „GuTeN MoRgEn!!!" begrüßt. Als nächstes erklärte meine Schwester: „Du hast verschlafen. Dein Wecker hat schon vor einer Stunde geklingelt, aber du hast ihn unbewusst ausgeschaltet. Costa ist schon da."

„Was?" Ich blickte auf die Uhr. Punkt acht.

„Oh mist. Ich komme zu spät zur Schule!", fluchte ich und stolperte aus dem Bett, um Costa nicht warten zu lassen. Er würde genauso zu spät kommen wie ich und das war meine Schuld. Moment mal, wieso hatte Costa mich dann nicht schon viel früher geweckt, wie in der Neunten, als ich mal vergessen hatte, den Wecker überhaupt zu stellen?

Als ich vor dem Bett zum Stoppen kam, wurde plötzlich die Tür aufgerissen und ich stolperte einen Meter zurück und fiel beinah über Emis Kleiderstapel, doch zwei Hände hielten mich fest. „Guten Morgen, Sonnenschein", sang mein bester Freund und half mir wieder auf.

„Costa." Ich rieb mir die Augen. „Oh Gott. Heute ist frei und wir wollten nach Hamburg. Gott, ich dachte schon, ich wäre zu spät zur Schule dran."

„Keine Sorge. Dazu lasse ich es nicht kommen. Nicht nach dem Nachsitzen in der Neunten." Wir lachten zeitgleich über diese Erinnerung. Wir hatten mit Abstand die fieseste Lehrerin der Schule abbekommen und ausgerechnet in ihrer Stunde waren wir zu spät gekommen. Es endete in einer der langweiligsten Stunden nach dem offiziellen Schulunterricht und dann auch noch auf einen Freitag.

„Ich mach mich schnell fertig, esse was und dann kann's losgehen. Wartest du schon lange?"

„Nö, überhaupt nicht. Seit etwa-", er blickte auf seine Uhr: "-einer dreiviertel Stunde."

„Das tut mir so leid." Ich schlug mir die Hände vors Gesicht. „Ich beeile mich." Damit verschwand ich im Bad. Unglaublich, dass ich sonst nie verschlief, heute aber schon. Das war verflucht.

Schon auf der Hinfahrt in Costas Wagen fotografierte ich die schöne Landschaft aus dem Auto und postete die Nachricht, dass wir heute nach Hamburg fahren würden. Natürlich folgten schon die nächsten Nachrichten, dass Person X und Person Y, die Follower von uns waren, in Hamburg wohnen würden.

Nachdem ich gestern das Video von Costa gepostet hatte, waren die Followerzahlen nochmal in die Höhe geflogen. Viele hatten sowas wie OMG! OMG! OMG! geschrieben mit dicken Herzchen-Emojis dahinter. Dass sie Costa als süß bezeichnet hatten, hatte ich ihm noch nicht erzählt. Sein Ego sollte nicht deswegen zu groß werden. Obwohl man sein Gesicht kaum erkannt hatte, bis auf die Rundungen seines Kinns, war er über Nacht wohl zu einem der größten Teenager-Schwarme in Norddeutschland geworden.

Auf der Fahrt las ich noch etwas durch die vielen Geschichten unserer Anhänger, was sie für Erfahrungen in diesem Thema gemacht hatten, und trug Costa die besten vor.

„Ann-Marie schreibt: Hey Leute. Ich freue mich riesig über eure Kampagne. Endlich mal jemand, der das Thema in die Hand nimmt. Ich hatte mal einen besten Freund, Oskar, doch eines Tages - ich war neun - zwangen uns unsere Mitschüler dazu, uns zu küssen, was wir nur getan haben, um keinen Ärger zu bekommen. Glaubt mir, vor denen hatten wir richtig Angst. Sie erzählten überall herum, dass wir ein Paar seien und dieses Klischee konnten wir bis zur Zehnten nicht abschütteln. Wir haben uns leider lange aus den Augen verloren, aber dank eurer Kampagne habe ich den Mut bekommen, ihm wieder zu schreiben. Und stellt euch vor: er wollte mir auch schreiben und hatte genauso wenig Mut wie ich, weil er nicht genau wusste, wie ich über uns dachte. Nun wollen wir uns bald wieder treffen und ich bin mir sicher, dass wir unsere Freundschaft wieder in den Griff bekommen werden. Und das alles nur dank euch. Ich bin sooo froh, dass ihr den Mut zusammengenommen habt!"

„Wow. Sehr bewegende Story", bewertete Costa und schüttelte den Kopf. Seinen Blick wandte er dabei nicht von der Autobahn ab. Die Sonne blendete mich.

„Man, Neunjährige können echt schrecklich sein. Warte, ich habe noch eine. Max schreibt: Hallo Vasta. Ich finde eure Seite klasse. Leider muss ich zugeben, dass ich ebenfalls schlechte Erfahrungen mit Vorurteilen gemacht habe. Ich war ein Jahr in Amerika auf einer richtigen High-School und habe ein Mädchen kennengelernt, meine beste Freundin. Sie hat mir dort wirklich geholfen, klar zukommen. Eines Abends sind wir zusammen auf eine Party gegangen, um Wahrheit oder Pflicht mit ihren Freundinnen zu spielen - viele von ihnen waren mit ihren festen Freunden dort. Nur wir beide sind nur als beste Freunde gekommen. Evelyn, eine ihrer Freundinnen, gab uns die Pflichtaufgabe, uns zu küssen. Nach einer Weile Protest machten wir es. War ja nur ein Kuss, dachten wir. Aber Evelyn fotografierte es und lud es bei Instagram hoch, wo auch meine deutschen Freunde das sahen und davon ausgingen, dass ich mit meiner besten Freundin zusammen wäre. Ich bekam erst davon Wind, als ich zurück in Deutschland war. Ich wollte es erklären, aber niemand verstand es und zog mich damit auf. Evelyn ist nicht mehr eine Freundin und meine Freunde stehen mir nun nicht mehr so nah, wie vor Amerika. Ich hoffe, ihr erreicht noch mehr Menschen. Ich drücke euch die Daumen und bin fest davon überzeugt, dass ihr beide nur Freunde seid. LG."

„Du hast recht. Menschen sind wirklich grausam", antwortete Costa: „Wenn dich sogar die eigenen Freunde hintergehen und kritisieren, muss das echt die Hölle sein."

Ich musste an Henrik, Josh und Niels denken, die uns auch ganz oft schon als ein Liebespaar abgestempelt hatten. Ich merkte auf einmal wieder die Wut, die ich bei jeder ihrer Äußerungen empfunden hatte. Ich dachte, Costa empfände in diesem Moment genauso, jedenfalls malte ich es mir so aus.

Stella ruhte entspannt auf der Rückbank und hatte aufgehört zu bellen. Stattdessen schnarchte sie jetzt leise vor sich hin. Ich schaute mich einmal zu ihr um und musste automatisch lächeln. Sie hatte definitiv einen guten Einfluss auf Costa. Allein deshalb musste man sie einfach lieb haben. Schade nur, dass Costas Mutter sie weiterhin beanspruchte. Ich hoffte wirklich sehr, dass Stella eines Tages komplett bei ihm wohnen könnte. Dann würde es uns allen besser gehen.

„Spielen wir ein Spiel", schlug Costa auf einmal vor: „Um unsere Spanischkenntnisse aufzufrischen."

Von allen Fächern, die wir hatten, konnte ich Spanisch am meisten leiden. Wir hatten es zwar erst seit letztem Jahr, aber Costa sah sich jetzt schon als Profi an. Ich wüsste nur zu gerne, wie er zurechtkommen würde, würde man ihn in Spanien aussetzen. Da ich sowieso nichts Besseres zu tun hatte, stimmte ich zu. Das würde die Stimmung nach den deprimierenden Geschichten wieder auflockern.

„Ich fange an: Veo algo que es rojo." Natürlich wusste ich sofort, was gemeint war. Hier im Auto gab es nur eine Sache, die rot war.

„Mein T-Shirt."

„Nö."

„Wie nö? Es gibt hier nichts anderes, das auch nur im Entferntesten rot ist."

„Doch gibt es", bestand er darauf: „Wer sagt, dass es im Auto sein muss?"

„Wenn es etwas draußen wäre, wären wir längst dran vorbeigefahren. Das gilt nicht." Fest von meiner Ansicht überzeugt, starrte ich Costa von der Seite an, wie eine Psychopathin.

„Es gibt etwas, das rot ist und uns die ganze Zeit außerhalb des Autos begleitet."

„Ach ja, was denn?"

„Das sollst du ja herausfinden." Ich schaute mich noch einmal um. Mir fiel aber absolut nichts ein. Costa gab mir schließlich einen Tipp.

„Weißt du noch, als du vorgestern deinen roten Lippenstift benutzt hast, als du auf der Motorhaube saßst?"

Nun ahnte ich, worauf er hinaus wollte. Ich blickte durch die Windschutzscheibe auf das Metall vor uns. Tatsächlich. Kaum erkennbar, aber da; ein Strich roter Lippenstift von vorgestern. Ich hatte ihn unbedingt ausprobieren wollen, als wir bei DM waren, um den Gutschein einzulösen, den ich seit zwei Jahren in meinem Zimmer aufbewahrt und nie gewusst hatte, wofür ich ihn benutzen sollte. Unglaublich, dass er noch gültig gewesen war und noch mehr, dass Costa eine Ahnung von Lippenstiften hatte. „Meine Oma hat früher viele vor meinen Augen benutzt und mir alles darüber erklärt", hatte er dazu kommentiert. Natürlich waren seine Hände und Arme nach der Make-up-Hilfe vollkommen mit Farben übersät gewesen. Die Kassiererin hatte uns komisch angeschaut, als sie Costas Kunstwerk bemerkt hatte.

Schließlich entschuldigte ich mich für meine vorgestrige Aktion und versicherte, dass ich es sofort säubern würde, sobald wir anhalten würden. Costa winkte mit einer Geste ab. „Schon gut", sagte er: „Ist nicht schlimmer als ein Vogelpups. Ich hätte es eigentlich auch schon abgewischt, wenn ich es nicht fürs Spiel gebraucht hätte."

„Du hast das schon geplant, dass wir das spielen werden?"

„Na Logo. Ich kenne uns doch." Er schaute kurz zu mir und sah dann wieder auf die Straße zurück. Ich grinste unbemerkt und fuhr fort: „Veo algo que es azul."

Costa überlegte einen Moment angestrengt. Er sah sich aber nicht um und behielt lieber die Autos vor sich im Auge.

„Das Spiel Ich sehe was, was du nicht siehst funktioniert nicht, wenn du den Gegenstand nicht ansiehst", warf ich ein.

„Ist es dir lieber, ich baue einen Unfall? Wenn ja und ich komme um, dann dürftest du mit dieser Begründung nicht beim Richter punkten, würde ich mal behaupten."

„Haha. Sehr lustig." Ich schüttelte mit dem Kopf, meine innere Stimme jedoch gab ihm definitiv recht. Das könnte nicht gut für mich ausgehen.

„Stellas Halsband ist blau", sagte Costa plötzlich und deutete ohne zu schauen hinter sich auf die Rückbank: „Hab ich mir alles vor der Fahrt eingeprägt."

„Ja klar." Ziemlich unbeeindruckt gab ich mich schließlich geschlagen. Anscheinend konnte man das Spiel auch ohne Augen spielen.

„Hab ich schon erwähnt, dass ich in diesem Spiel Weltmeister in der Grundschule war?"

„Ja, das sagst du immer, wenn wir das Spiel spielen, großer überlegender Weltmeister", spottete ich und warf einen Blick aus dem Fenster. Wir rasten an einem blauen Schild vorbei, auf dem Auf Wiedersehen im echten Norden stand. „Willkommen in Hamburg", kündigte Costa an. Ich hatte nicht einmal mitbekommen, durch Schleswig-Holstein gefahren zu sein.

„Schön, wie lange dauert es noch bis zum Hafen?"

„Nicht lange. Vielleicht fünfzehn Minuten, wenn der Verkehr mitspielt."

Natürlich dauerte es dreißig Minuten aufgrund eines Unfalls direkt auf unserem Weg, doch das störte mich nicht. Im Gegenteil; es war höchst interessant die hohen Häuser und die Brücken über die Elbe zu sehen.

Als wir endlich ankamen, parkten wir direkt in der Nähe der berühmten Elphi, die ich nur aus dem Internet und von einem Bild in Backs Büro kannte. Es war schon lustig, dass wir gar nicht so weit weg wohnten, gerade einmal knappe zwei Stunden, und ich dennoch nie zuvor hier gewesen war.

Natürlich mussten wir die Stadt erst einmal von oben sehen. Auf der Aussichtsplattform der Elphi war es unglaublich windig, aber auch schön mit einem guten Blick auf den Hafen. Wir staunten nicht schlecht.

„Können Sie ein Bild von uns machen?", hörte ich Costa eine fremde Person fragen, als ich mit dem Rücken zu ihm stand und die Aussicht genoss. „Gerne", antwortete die junge Frau.

„Hast du nicht Angst, dass sie dein Handy klaut?", flüsterte ich nachdenklich zu ihm, als er neben mir posierte und mich in den Arm nahm.

„Da ist sowieso nichts Wertvolles drauf."

Wir lächelten breit in die Kamera und begutachteten schließlich das Ergebnis.

„Sieht gut aus", kommentierte Costa.

„Schade nur, dass wir es niemals posten werden."

Er schwieg. Sicherlich, wir wünschten uns beide, dass wir alles posten könnten, aber dann kam man im Endeffekt wieder auf den Identitätsschutz zurück. Nicht auszumalen, was passieren würde, würde uns jemand auf der Straße erkennen. Unsere Gesichter würden uns überall heimsuchen. Sogar auf dem Schulweg, an der Bushaltestelle und vor allem im Schulgebäude. Nein, das durfte nicht passieren. Und was Fans, die uns zusammen als Paar erleben wollten, mit unseren Bildern anstellen würden. Ganz klares Nein.

Als nächstes spazierten wir durch den Hafen, fotografierten hier und da, einmal fiel sogar mein Eis von der Waffel, weil ich zu lange nach dem besten Winkel zum Fotografieren gesucht hatte.

„Unglaublich, wie schnell wir uns in Handysüchtis verwandelt haben. Früher, vor unserem Erfolg, haben wir das Handy höchstens rausgeholt, um unseren Familien zu schreiben, dass alles gut ist", sagte Costa.

„Stimmt. Aber vergiss nicht, wofür wir das machen. Wir geben denen eine Stimme, die es sich nicht trauen oder nicht gegen Neunjährige angehen können."

Costa nickte und ging voraus, als die Fähre mit großer Wucht am Hafen anlegte. Wir wollten den Sonnenuntergang vom Wasser aus sehen. Wir setzten uns oben aufs Deck - wiedermal sehr windig - und ließen uns einmal den Hafen hoch- und herunterschippern, sahen schöne Architektur, hässliche Architektur, Häuser, Schiffe und sogar Möwen, die mitfahren wollten. Den anderen Passagieren erging es genauso wie uns. Keiner stieg aus und alle blieben bis zum Ende auf dem Schiff. Vom Sonnenuntergang sah man jedoch nur wenig. Costa begründete das damit, dass wir nun Herbst hätten und keinen Sommer mehr. Ich schenkte ihm Glauben und nahm mir vor, mit ihm im Sommer nochmal herzufahren.

Am Ende des Tages, als wir mit dem Auto zurückfuhren, schlief ich beinah ein, doch das hielt mich nicht davon ab, die Fotos des Tages zu posten. Auch wenn Costa über die Helligkeit des Bildschirms nörgelte, lud ich fünf Bilder hoch, die ich als besonders gelungen fand. Unser Selfie auf der Elphi bekam von mir einen Filter ab: Unsere Gesichter waren nun mit gelben Herzen abgedeckt, die Farbe für die Freundschaft. Es sah nicht wirklich schön aus, aber ich konnte es mir einfach nicht verkneifen, es der Welt zu zeigen. Schon nach zehn Minuten strömten die ersten Kommentare ein, die mich meine Entscheidung bereuen ließen. Sie forderten, dass wir ein Paar werden sollten, weil wir so cute zusammen aussehen würden.

„Wie können die Leute beurteilen, ob zwei Menschen zusammenpassen, wenn sie nicht einmal ihren Charakter oder das Gesicht kennen?", fragte ich müde und aufgebracht zugleich.

„Ich denke, die meisten Teenager, die ein paar Jahre jünger sind als wir, achten mehr auf den Körperbau und den Größenunterschied. Du weißt schon, das ist romantischer, als wenn der Junge zwei Zentimeter kleiner ist als das Mädchen, das etwas mehr auf den Rippen hat."

„Das ist so-", ich suchte nach den richtigen Worten: "-klischeehaft und kindisch."

„Jap. Können wir aber nicht ändern. Lass sie reden. Es gibt viele andere, die nicht über uns so urteilen. Mir ist es zumindest auch egal, ob ich nun größer bin als du oder andersherum. Freunde und damit basta."

„Genau. Danke", sagte ich noch vage und leicht benommen, bis mir schließlich die Augen zufielen und ich in die Dunkelheit glitt.

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