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„Ja! Gewonnen. Sieht wohl so aus, als würdest du heute wieder zahlen!", rief Costa siegessicher durch die Luft und ließ gleichzeitig den Cutter mit ohrenbetäubendem Geräusch auf den Tisch fallen. Ich konnte ihm den Sieg nicht verübeln. Er mochte es einfach zu gewinnen, am liebsten beim Zocken vor der gigantischen Leinwand bei sich Zuhause, mit einer Packung Popcorn neben sich. Aber da er genau wusste, dass er keine Chance gegen meinen Kontroller hatte, musste er eben einen anderen Weg finden. Und der lag beim Candy Cutting.

„Ja, sieht wohl so aus. Aber das ist ja nichts Neues. Genieß den Genuss des Sieges noch, bevor ich dich bei Mortal Kombat fertig mache." Bis dahin würde es nicht mehr lange dauern. In einer Stunde würden wir schon auf Costas Couch sitzen, er würde mir einen Kontroller reichen und ihn dann angestochen durch das Wohnzimmer schmeißen, sobald ich seinen Avatar wie so oft umgebracht hätte. Ach ja. Auch ich fand den Gedanken des Sieges äußerst reizend.

Mit erhobenen Armen wirbelte Costa zu Stay'in Alive durch die Küche, ohne meinen Worten Beachtung zu schenken. Lächelnd stemmte ich die Hände in die Hüften und beobachtete ihn, wie er langsam zum Stehen kam. Der nächste Song, ein Oldie, setzte bereits ein, als ich fragte: „Können wir dann, Dancing Queen?" „Jap. Na los." Er schnappte sich meinen Rucksack unter dem Tresen, in dem er sein Handy gelagert hielt und ging zu den Regalen im Laden.

Erwartungsvoll verschränkte ich die Arme vor der Brust und lehnte mich an ein gegenüberstehendes Regal. Eine Mauer aus bunten Süßigkeiten türmte vor uns. Einladend lagen sie dort in offenen Gläsern und wollten eingepackt werden. Costa nahm sich eine kleine Tüte aus dem unteren Fach und packte wahllos welche ein, ohne dabei hinzusehen.

Als die Tüte fast am Platzen war, überreichte er sie mir. Mit der anderen Hand fischte ich nach meinem Portmonee in der Tasche, um zu bezahlen. Das war sein Triumph. Weniger der Sieg, mehr die gewonnenen Süßigkeiten interessierten ihn.

„Lass das Geld stecken", schaltete dich unser Chef Beño ein. Er musste gerade erst von draußen wieder hereingekommen sein. Sein Zigarettengeruch, der an seiner Kleidung haftete, verriet ihn. Normalerweise mochte ich ihn wirklich, nur dass er rauchte, störte mich an manchen Tagen. Ich würde ihn gerne darauf ansprechen, aber wer weiß, ob ich dann morgen noch meinen Job hätte. Schlafende Hunde weckte man lieber nicht. Mittlerweile musste es bei meinem Chef zu einer Sucht geworden sein. Ich hoffte, dass er irgendwann eine Therapie beginnen würde. Aber bei seinem Alter, das er oft betonte, war es ihm mit Sicherheit egal, ob er bis zu seinem Tod noch clean werden würde oder nicht.

Er kam um den Tresen gelaufen und hielt mich davon ab, mein Taschengeld in die Kasse zu legen. „Ihr habt euch heute wirklich verausgabt und mehr Candys geschafft, als an normalen Abenden. Ihr habt sie euch verdient."

„Danke", sagte ich ehrlich zu ihm und schaute zu Costa, der mir bereits die Tüte aus der Hand genommen und sich den ersten in den Mund geschoben hatte. „Danke", nuschelte er mampfend.

Beños Gesichtsausdruck war unbezahlbar. Er sollte mittlerweile nach zwei Jahren, in denen wir hier schon arbeiteten, Costas Benehmen hinnehmen, auch wenn ich ihn dafür selbst oft schlagen könnte. Wir verabschiedeten uns kurz von Beño mit einem Winken, bevor wir den Candy-Shop verließen und uns auf die Räder schwangen. Die Tüte mit den Süßigkeiten legte Costa in meinen Fahrradkorb vorne am Lenker, da er selbst keinen besaß. Das erste Mal hatte ich mich noch darüber beschwert, nun war es selbstverständlich wie eine Routine geworden.

Im Halbdunkeln radelten wir zu Costas Spielekonsole. Wir hatten uns gerade hingesetzt und den On-Button gedrückt, da klingelte es an der Haustür. Weil mein bester Freund noch mit den Snacks für die Gäste zugange war, stemmte ich mich hoch und rannte los.

„YOLO!", bekam ich als erstes von Niels, einer von Costas Freunden, an den Kopf geworfen, als ich die Tür öffnete und er zusammen mit Josh und Henrik hereinplatzte. Ich schüttelte wie jedes Mal irritiert mit dem Kopf und beschwerte mich innerlich über seine Leichtigkeit und den Versuch, anderen mit seiner Art zu gefallen.

„Was gibt's Neues in deinem Leben, Zockergirl?", fragte Niels, als ich gerade hinter den dreien die Tür zurück ins Schloss fallen ließ.

„Erstens, nenn mich nicht Zockergirl. Und zweitens sollte ich das wohl eher dich fragen. Die Antwort darauf dürfte interessant sein. Ich tendiere mal zu der Antwort nichts." Ich liebte es, die Jungs zu necken und noch mehr ihre Verlierergesichter zu sehen. Die wesentliche Sache, die sie von Costa unterschied, war, dass sie den ganzen Tag nach der Schule mit dem Hocken vor ihren Hightech-Computern zubrachten, während mein bester Freund noch genug Zeit für mich und unsere anderen Hobbys fand und sich eigenständig die Regel auferlegt hatte, nicht mehr als jeden zweiten Tag mit den Jungs zu zocken. Was ich als ganz vernünftig empfand.

Josh und Henrik belustigten sich gerade darüber, wie ich ihren besten Kumpel alle Hops genommen hatte, als ich schon wieder zu Costa ins Wohnzimmer ging. Ich sicherte mir den besten Platz in der Ecke und legte mir ein Kissen auf die Oberschenkel, wo ich für das Match den Kontroller platzierte. Mein Freund lächelte darüber und setzte sich neben mich, die Beine auseinander haltend, mit der Macht übers Spiel in der Hand.

„Deine Kumpels benehmen sich wieder wie schräge Fünftklässler", meinte ich zu ihm, während ich bereits meinen Avatar aussuchte. Normalerweise hatte ich immer denselben - Kitana, eine in blau gekleidete Prinzessin, die zur dunklen Seite gehörte-, aber um es den Jungs etwas einfacher zu machen, mich zu besiegen, entschied ich mich heute für den Avatar, den für gewöhnlich meine große Schwester Zoe gewählt hatte, als wir noch zusammen gespielt hatten. Vermutlich hatte ich deshalb so gute Erfahrungen und Stärken im Spielen. Vor einigen Jahren kam meine Schwester in eine Verliebtphase und seitdem hatte sie schlichtweg keine Lust oder Zeit mehr zum Zocken. Aus diesem Grund war ich besonders froh darüber, dass Costa ab und an die Rolle meiner Schwester als Gegner übernahm.

Josh, Henrik und Niels kamen nun auch ins Wohnzimmer gestolpert, dicht an dicht, als Costa gerade etwas auf meine Feststellung erwidern wollte, nickte dann jedoch nur den dreien zu.

„Mann, Alter. Wieso hast du uns heute baumeln lassen? Wir hätten dich echt an unserer Seite gebraucht", ging Josh auf Costa ein und boxte ihm freundschaftlich in die Seite. Die Jungs wurden heute in der Schule von Frau Kranstadt klar erwischt, wie sie Federn aus dem Kunstunterricht mit einem Ventilator auf die Bühne befördert hatten, als die siebte Klasse gerade ihre Generalprobe im Fach Musik hatten. Knallhart hatte sie herumgefragt, wer aus unserer Klasse daran beteiligt gewesen war, woraufhin sich die drei Übeltäter mit einem breiten Grinsen im Gesicht verantwortlich gemacht hatten. Costa, der ihnen von der Aktion zuvor abgeraten, es aber nicht verhindert hatte, hatte sich schön rausgehalten. Zurecht. Nachdem er das letzte Mal unschuldig nachsitzen musste, nur weil er zu seinen Freunden hielt, hatte ich ein ernstes Wort mit ihm gewechselt. Umso vergnügter war ich also zu sehen, wie die drei ohne Costa zum Aufräumen der Bühne verdonnert wurden.

„Ganz einfach. Ich bin nicht Schuld an den verstörten Kids. Außerdem habe ich am Wochenende Besseres zu tun, als in der Schule mit einem Besen herumzurennen. Sorry Leute." Costa hob die Schultern und widmete sich dann wieder der Leinwand.

„Du hättest dir wenigstens das Lachen verkneifen können, als Frau Kranstadt uns die Strafe auferlegt hat", beschwerte sich nun auch Henrik und setzte sich schlecht gelaunt neben ihn auf die Couch.

„Nächstes Mal zeigen wir einfach auf ihn. Dann steht es drei zu eins", warf Josh ein und ließ sich zeitgleich mit Niels nieder. Ich wusste schon immer, dass die Jungs einen schlechten Einfluss auf meinen besten Freund hatten, aber das machte mich noch lange nicht zu seiner Anstandsdame oder einem Mutterersatz, auch wenn es sich mittlerweile so anfühlte. Bis jetzt hatte ich nichts weiter dazu gesagt, hatte das Vorgehen einfach nur beobachtet und mich innerlich darüber totgelacht, wie dämlich Jungs sein konnten, sich das Wochenende auf diese Weise vermiesen zu lassen. Mich hätte es nicht gewundert, wenn Frau Kranstadt genauso darüber dachte wie ich.

Als es mir schließlich zu langweilig wurde, drückte ich den Gästen ihre Kontroller in die Hände und knurrte: „Können wir dann endlich, meine Herren?"

„Natürlich, Mame", spielte Niels das Spiel mit und wählte seinen typischen Avatar - Johnny Cage, ein Hollywood-Action-Star, ein ziemlicher Angeber, wie ich fand. Er passte wunderbar zu Niels Erscheinungsbild.

Als schließlich jeder seinen Avatar gewählt hatte, drückte Costa auf Start und die Runde begann mit einem Battle zwischen uns Fünfen. Es war die perfekte Mischung aus Action, Spaß und Sieg. Mit der chinesischen Kampfkunst Mian Chuan und meinem Langschwert schnitt mein Avatar Mileena ihren Feinden direkt ins Blut und Fleisch und schickte sie zu Boden. Jeden Angriff der anderen werte ich ab und ließ ihn im Feuer ersticken. Es war viel zu einfach, die Jungs auf diese Weise zu besiegen. Obwohl ich nicht besonders mit Mileena eingespielt war, beherrschte ich sie besser, als die Jungs ihre typischen Kämpfer.

Plötzlich tauchte die Rangliste auf. Wie erwartet stand ganz oben der Name meiner Kämpferin, darunter auf Platz zwei Niels, Josh, Henrik und als ganz letzter Costa. Niedergeschlagen lehnte er sich in das Polster nach hinten.

„Dein Rückzug ist vergeben und vergessen, Alter. Ich bin endlich mal besser als du", präsentierte Henrik stolz und schaute dabei zu Costa, der sich deprimiert über seine Niederlage einen der Bonbons in den Mund schob.

"Schmeckt dein Trostpreis süß wie meine Rache?", neckte ich ihn. Er blickte mich kopfschüttelnd an und meinte nur: „Ha. Ha." Ich lachte und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Da hatte sich das Verlieren im Candy Cutting ausgezahlt.

„Wie hast du vorhin nochmal getanzt?", fragte ich in seine Richtung und ahmte seine Bewegungen zu Stay'in Alive nach. Kurz darauf landete ein Gummiherz gegen meinen Kopf, dann noch ein Gummifrosch. Jetzt musste auch Costa wieder lachen. Aufeinander fokussiert, mischte sich plötzlich Niels ein, der sich die Situation bis jetzt nur angesehen hatte: „Wann kommt ihr denn jetzt endlich zusammen?"

Unser Lachen verstummte und er erntete zwei böse Blicke. „Gar nicht. Das Thema hatten wir doch schon", beantwortete Costa die Frage als Erstes. Ich fügte schnell hinzu: „Und jetzt Rand halten, Niels." Ich wurde eigentlich erst nach einiger Zeit bissig, wenn mir eine Person ein Dorn im Auge war, aber wenn jemand mit dem Thema, dass aus Freunde immer Liebende werden mussten, um die Ecke kam, bekam er meine Zähne in seiner Haut zu spüren. Leider musste ich ziemlich oft so schnippisch werden, seit Costa und ich uns kannten. Von meinen Eltern, bis hin zu täglichen Leuten in der Schule, die uns nach unserer Beziehungszeit ausfragten. Es machte einen unfreiwillig zynisch.

Nach einigen weiteren Siegen verabschiedeten sich Niels, Josh und Henrik schließlich und verschwanden in der Nacht wie drei Schatten. Ich half Costa noch beim Aufräumen.

„Ziemlich gut gespielt", sagte mein Freund und fegte einige Krümel vom Boden. Als ich ihn dabei sah, lenkte ich vom Thema ab. „Soll ich den Staubsauger holen, damit du dich nicht so quälen musst?" „Nö, schon gut. Morgen muss ich sowieso das ganze Haus staubsaugen." „Ah, der Putztag." „Jap, immer der erste Samstag im Monat." Als wüsste ich das nicht, nickte ich bloß und schenkte ihm ein kleines Lächeln: „Falls du dabei Hilfe brauchst, ruf an. Ist immer noch besser, hier bei Musik sauberzumachen, als es in der Schule vor den Augen des Hausmeisters machen zu müssen." Costa lachte kurz dumpf auf und sammelte einige Chipsreste vom Tisch auf.

Nachdem ich Costa sein Handy aus dem Rucksack wiedergegeben hatte, klopfte ich an die Arbeitszimmertür seines Vaters an. Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete ich sie und fand dasselbe Bild vor, wie jeden Tag, wenn ich in seinem Haus war. Ein Journalist, tief gebeugt über seinem Laptop und vertieft in seine Zeilen. Ich wusste, woher sein Sohn sein Schreibtalent hatte.

„Tschüss, Back."

Er blickte aus seiner runden Brille von dem Bildschirm auf und drehte sich mit einem Lächeln zu mir um. „Tschau, Val. Komm bald wieder und grüß deine Eltern von mir." „Mach ich." Sein Dreitagebart und die verwuschelten schwarzen Locken verrieten mir, dass er sich schon wieder viel zu lange der Arbeit verschrieben sah, dennoch fand er immer Zeit, um mich zu verabschieden. Ich schätzte das sehr an ihm. Er war mir mehr ein liebevoller Vater, als es meiner jemals sein könnte.

Costa schlich sich von hinten an und zwickte mir in die Seiten. Ich kicherte leise auf und haute ihm auf die Schulter, damit er aufhörte. „Ich begleite dich noch nach Hause", flüsterte er mir zu. „Nein, tust du nicht. Ich bin alt genug und kann auf mich selbst aufpassen. Mach deinem Vater lieber etwas zu essen." Bei diesem Kommentar schaute Back zwar wieder auf seine Worte, aber einen Mundwinkel musste er dennoch unbemerkt heben.

Mürrisch drehte Costa um und kam meiner Aufforderung nach. Ich schloss die Tür wieder und folgte ihm in die Küche, wo er bereits eine Scheibe Brot abschnitt. Helfend holte ich Butter und Käse aus dem Kühlschrank, das was Back am liebsten hatte.

„Danke", sagte Costa, als ich alles neben ihm abstellte: „Du bist ganz sicher, dass ich dich nicht nach Hause bringen soll? Ich hab heute nichts anderes vor."

"Ganz sicher." Ich stützte mich mit beiden Armen an der Küchenspüle ab und winkelte ein Bein an. Im Licht der kleinen Lampe glitzerte die Butter auf dem Messer, das sanft übers Brot strich. Es war schön mitanzusehen, wie gut er sich um seinen Vater kümmerte. Auch wenn es eigentlich andersherum sein müsste, konnte ich es verstehen. Back hatte gerade erst seine Scheidung hinter sich gebracht und fand Trost in dem, was ihn schon immer angespornt hatte, dem Schreiben.
Und Costa, der sich kaum verletzlich über den Auszug seiner Mutter zeigte, hatte mich. Ich war da, wenn er bereit war, darüber zu reden. Ich kannte zwar bereits den Grund dafür, aber ich wollte es nicht laut herausposaunen und ihn täglich an den Verlust erinnern.

In gewisser Weise war ich wohl doch ein Mutterersatz für meinen besten Freund. Es war nicht verwunderlich, schließlich war auch dieses Haus mit seinen Bewohnern ein großer Teil meines Lebens geworden. Ich verbrachte hier mehr Zeit als in meinem eigenen Haus. Dieser Ort war mehr Zuhause als meines jemals sein könnte.

Ich richtete mir noch einmal den Zopf mit den pinken Strähnen im schwarzen Haar vor dem Spiegel im Eingangsbereich und betrat daraufhin die Veranda vor dem Haus. Es war erstaunlicherweise nicht kalt, obwohl sich der Sommer langsam verabschiedete. Costa lehnte an der Tür und wartete darauf, dass ich mein Fahrrad zur Hand nahm und ihn verabschiedete.

„Morgen gleiche Zeit?", fragte er. Ich nickte. „Morgen gleicher Ort."

Dann trat ich in die Pedalen und verließ das Grundstück. Kaum hatte ich die friedliche Stille verlassen, rutschte ich auch schon wieder in das alltägliche Familienchaos, das geprägt war von einem gedeckten Tisch und den lauten Rufen meiner kleinen Schwester Emilia. Nicht, dass mich ihre kindliche Art schon genug aufregte, waren ihre pinken Kleider ein bitterer Augenkrebs für mich.

„Emi, sei leise. Papa wäscht sich doch nur die Hände. Hab Geduld", regte ich an, als ich mich ihr gegenübersetzte und ihre nervtötende Stimme für einen Moment verstummte.

„Val, sei nicht so streng zu deiner kleinen Schwester", ermahnte mich meine Mutter, die gerade einige Tomaten mit Mozzarella auf einem Teller positionierte. Ihre schulterlangen schwarzen Haare bedeckten ihr Gesicht, als sie sich über die Arbeitsplatte beugte.

„Ich hab's ihr aber schon tausendmal gesagt und sie hört einfach nicht drauf", konterte ich und bekam die Zunge von Emi ins Gesicht gestreckt. Ich würde nicht sagen, dass wir auf Kriegsfuß standen, aber für gewöhnlich hielten wir uns nicht im selben Raum auf, wenn es sich vermeiden ließ.

„Valeria!", ermahnte mich meine Mutter erneut, wurde jedoch in ihrer Rede von meiner großen Schwester Zoe unterbrochen, die nun auch an den Esstisch kam.

„Ist alles in Ordnung?", erkundigte sie sich besorgt: „Was hast du schon wieder getan?" Sie sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und musterte meine verwirrte Reaktion. „Ich habe nur meine Meinung gesagt, nicht mehr und nicht weniger."

„Sie sagt, ich bin ungeduldig", warf Emi ein und zeigte mit dem Finger auf mich. Die Wut keimte in mir auf. Sie war so eine Petze!

„Darum geht es doch gar nicht. Du sollst einfach nur auf mich hören, wenn ich dir versuche, etwas zum tausendsten Mal beizubringen."

Zoe stoppte unseren Zank und beendete die Diskussion, in dem sie erwiderte: „Emi ist kein Hund, Val, und auch wenn sie etwas mehr Geduld haben könnte, sie ist nicht einmal sieben. Hab du etwas Geduld, bis sie älter ist. Dann kannst du es ihr vorwerfen."

Ich wusste darauf keine Antwort mehr. Sie war meine große Schwester und neben Costa meine engste Vertraute. Ich wüsste nicht, wie ich ihr jemals böse sein könnte. Sie war wie ein Anker für mich, der mich seit Jahren stets am richtigen Fleck hielt. Ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal mit ihr Streit gehabt hatte.

„So, da bin ich, Kinder." Mein Vater betrat stürmisch den Raum und drückte jedem einen Kuss auf die Stirn. Ich strich mir seine Sabber sofort mit dem Ärmel aus dem Gesicht und zögerte nicht, die erste Brotscheibe aus dem Korb zu nehmen, als sich alle gesetzt hatten. Sofort begann zwischen meinen Eltern das tägliche Gespräch über industriellen Kram aus dem Groß- und Außenhandel. Das musste man über sich ergehen lassen, wenn die Eltern im gleichen Unternehmen und der gleichen Branche arbeiteten. Ich verdankte diesem Beruf mein Leben. Ohne ihn hätten sich meine Eltern nie kennen- und liebengelernt.

Auch wenn Zoe ab und zu eine Phrase in das Gespräch mit einwarf, weil das Fach Wirtschaft und Politik zu ihren Lieblingen zählte, konnte ich sie nach dem Essen davon überzeugen, mich nach oben zu begleiten. Wir räumten den Tisch ab, Emi legte die mit Salatcreme versehrten Messer direkt auf die Arbeitsplatte, sodass ich gleich mit dem Lappen noch einmal hinübergehen durfte, dann gingen wir die Treppe hoch. Glücklicherweise musste meine kleine Schwester noch Hausaufgaben machen, sodass Zoe und ich ungestört waren.

Ich setzte mich auf ihren Schreibtischstuhl, sie sich auf ihr Bett. Es war kein besonders großer Raum, reichte jedoch für uns beide komplett aus. Zoe erzählte ein wenig über ihren Tag, wie sie mit ihrem festen Freund am Strand spazieren war und ich erzählte von dem Candy Cutting und meinem Sieg. Diese besondere Zeit am Abend mit meiner Schwester wollte ich nicht missen. Ich hatte mir schon oft vorgestellt, wie es sein müsste, ein Einzelkind zu sein. Aber auch wenn ich daran etwas gefallen fand, konnte ich es doch nicht. Gerade in meiner Lage, in der ich außer Costa, Niels, Josh und Henrik keine weiteren Freunde in der Klasse hatte. Da war eine Schwester als eine Freundin immer gerne gesehen. 

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