I

Simetra

Ines schaut auf das klobige Ding in ihrer Hand. Es ist ein Smartphone, jedoch ein ziemlich altes. Sie kann nicht sagen, was für ein Typ es ist, noch nicht einmal, zu welcher Marke es gehört. Jedenfalls ist es keines der aktuellen Modelle von Apple oder Samsung, so viel ist klar. Es ist ziemlich groß und schwer, hat aber einen recht kleinen Bildschirm und eine eigenartige, dunkel-violette Farbe. Das Telefon sieht benutzt aus, hat allerdings keine sichtbaren Schäden, wie etwa einen gebrochenen Bildschirm oder eine abgeplatzte Ecke. Wieso sollte es also jemand wegschmeißen, wenn es noch zu gebrauchen war - und vor allem, anstatt in den Müll einfach in den Hausflur werfen? Auf ihre Fußmatte!

Sie wollte es da nicht liegen lassen – vor ihrer Tür - und hat es deswegen mit reingenommen und auf ihren Küchentisch gelegt. Dann hat sie abgewartet, ob vielleicht irgendjemand anruft, aber das ist in der letzten halben Stunde nicht passiert. Hätte sie es lieber draußen liegenlassen sollen? Ach was!, denkt sie, dann hätte es vielleicht noch jemand mitgenommen, der nicht, wie sie, den rechtmäßigen Besitzer ausfindig machen will.

Der Sperrbildschirm ist auf jeden Fall nicht personalisiert, schlussfolgert sie, nachdem sie den Einschaltknopf an der Seite gedrückt hat und sich der Handybildschirm daraufhin aktivierte. Blautöne, die sich nach oben hin aufhellen, sowie weißliche, eingeschnittene Wellen, die von der Seite kreuzten - so in etwa sieht bei vielen Smartphones die Standardeinstellung aus. Schade, denkt sie sich leicht enttäuscht und muss sich aber gleichzeitig eingestehen, dass es ja auch nicht so üblich ist, bereits den Sperrbildschirm mit einem persönlichen Foto zu verschönern, weil es dann jeder andere auch sehen könnte. Sie selbst würde so etwas niemals machen! Hilfreich wäre es aber in diesem speziellen Fall schon gewesen. Vielleicht hätte sie so den Besitzer identifizieren können?

Sollte ich einfach mal versuchen, das Ding zu entsperren?, fragt sie sich, doch etwas neugierig geworden und spürt dabei sogar einen kleinen Anflug von Aufregung in sich aufflammen. Vielleicht gibt es ja gar keinen schwierigen Code zu knacken? Könnte ja sein, dass der Besitzer den Standardcode 0000 oder 1234 benutzt. Das wäre ihrer Meinung nach zwar sehr unvorsichtig, aber wenn jemand schon fahrlässig genug gewesen ist, das Telefon im Hausflur zu verlieren, dann legt derjenige möglicherweise auch nicht so viel Wert auf die Sicherheit seiner Daten im Allgemeinen. Jeder Jeck ist ann'ers – wie ihre Mutter gesagt hätte. Nichts ist unmöglich.

Sie wischt mit dem Finger einmal über das Display – und die Bildschirmsperre öffnet sich. Das war ja fast schon zu einfach, denkt sie verblüfft und sogar leicht amüsiert, doch im nächsten Moment verwandelt sich ihre Freude in Enttäuschung, denn auf dem Startbildschirm ist keine einzige App zu sehen. Nichts, womit sie etwas anfangen kann. Nicht einmal das Hintergrundbild hat sich geändert. Sie wischt nach rechts, dann nach links – und es passiert: nichts.

Verärgert schaltet Ines das Handy wieder aus und legt es zurück auf den Tisch. Sie hat sich definitiv umsonst Gedanken gemacht – reine Zeitverschwendung! Wer auch immer sich hier mit ihr einen Scherz erlaubt hat – er hat es geschafft, sie eine halbe Stunde lang mit diesem Streich zu beschäftigen. Vermutlich war es einer der jungen Nachbartypen. Das geistige Niveau der Bewohner dieses Studentenwohnheims erinnert doch eher an eine Jugendherberge! Ines ist schon Ende zwanzig und kann mit den Bübchen einfach nicht viel anfangen.

Sie lehnt sich zurück und lässt den Blick kurz über den Stapel Zeitungen auf dem Tisch schweifen. Was das gedruckte Wort angeht, ist sie eine ziemlich altmodische Person. Sie braucht das Gefühl, etwas in der Hand zu halten. Etwas, das raschelt und knistert. Ihr Telefon nutzt sie nur zum Telefonieren. Dafür sind die Dinger doch da, oder etwa nicht? Deswegen reicht ihr auch ihr altes Klapphandy vollkommen aus. Sicher kann sogar ein Billig-Smartphone tausend Dinge mehr als das Nokia, weil man mit diesen Apparaten online gehen kann, aber wozu? Für Internetrecherchen hat sie ja immer noch ihren Computer. Und mit ihrem Nokia könnte sie sogar SMS verschicken, oder ein paar pixelige Fotos machen. Könnte - aber wem sollte sie auch Bilder oder Nachrichten schicken? Sie meidet Fremde und Freunde hat sie keine. Die einzige Person, die ihr nahestand, war ihre Mutter gewesen, die jetzt schon viele Jahre tot ist. Ines ist aber kein eigenbrötlerischer Sonderling. Sie will wissen, wie das Leben da draußen so ist. Was Nachrichten angeht, die sie tatsächlich interessieren, ist das Internet meist aber nicht viel schlauer als ihre Tageszeitung. Die Zeitung weiß doch am besten, was los ist, findet sie. Zwei junge Frauen sind in den letzten Monaten in der Gegend verschwunden. Überschwemmungen bedrohen die Dörfer an der Elbe, wie eigentlich jedes Jahr. Die Bäckerei im Dorf ist pleite gegangen. Das hat sie alles im Lokalteil gelesen.

Auf einmal vibriert das Handy auf dem Tisch, gefolgt von kurzen, melodisch aneinander gereihten Piep-Geräuschen. Ines' Herz klopft viel heftiger, als sie es sich selber eingesteht. Sie zögert. Das könnte alles Teil des Streichs sein - vermutlich ist es das sogar! Aber vielleicht ist es doch kein Scherz und der Besitzer ruft gerade an, um das Handy zu orten? Ihre Neugierde gewinnt die Oberhand. Sie nimmt das Gerät auf und öffnet den Startbildschirm. Wenn es ein Streich ist, dann werden die sie kennenlernen! Sie wird diesen Idioten mal richtig die Meinung sagen – verziehen sollen die sich und lieber für ihre Prüfungen lernen! Na gut, sie wird vermutlich nichts von dem tun. Ines vermeidet Konfrontationen. Den Kontakt mit ihren Mitbewohnern hat sie auf das absolute Minimum begrenzt. Aber ärgern darf sie sich doch wohl! Bestimmt war es dieser Peter Fährmann aus der Wohnung über ihr, der den ganzen Tag nichts Besseres zu tun zu haben scheint, als laut Pop-Musik zu hören und nachts besoffen mit seinen Kumpels durchs Haus zu grölen. Merkwürdigerweise scheint das aber die anderen Hausbewohner nicht zu stören.

Auf dem Bildschirm sieht Ines jetzt ein neues Symbol, darunter das Wort Chats. Eine App, um sich mit anderen zu unterhalten - ziemlich eindeutig, eigentlich, denkt sie. Über dem nichtssagenden, blauen Icon blinkt eine rot eingerahmte Eins. Da ist wohl eine Nachricht eingegangen. Nur, weshalb sieht sie diese Chat-App auf dem Startbildschirm erst jetzt?

Sie tippt auf das App-Symbol. Ein neues Fenster öffnet sich mit der Überschrift "Chats", darunter findet sich aber nur ein einziger Eintrag: "Simetra". Sie überlegt kurz, ob sie diesen Begriff schon einmal gehört hat, ist sich aber schnell sicher, dass er ihr gar nichts sagt. Entweder ist es ein seltsamer Name für ein Ding oder eine Art Spitzname einer Person.

Ines öffnet den Chatverlauf. Er ist fast leer, bis auf eine einzige Nachricht:
»Angekommen«
Das Eigenartige ist nur, dass es so aussieht, als sei die Nachricht von diesem Handy aus verschickt worden, denn vor dem Textblock steht ein "Du" und das kleine Pfeilsymbol daneben zeigt nach rechts - ausgehend. Abgeschickt wurde der Text exakt vor einer Minute. Was soll das denn jetzt? Gibt es dafür auch eine besondere Einstellung, oder sowas - "Autotext" vielleicht, so wie man auch eine "Auto-Response" festlegen kann, wenn man E-mails nicht beantworten will?, fragt sie sich verdutzt.

In diesem Moment schreibt Simetra, was Ines an einem sich bewegenden Stift-Icon erkennen kann.

»Hallo«, erscheint als Antwort auf die Geisternachricht. Vielleicht war das auch gar keine Reaktion darauf – wer antwortet schon mit Hallo? Dann, jedoch, folgt:

»Wo hast du das Handy her?«

Sofort spürt Ines, wie ihr Gesicht heiß wird und sich die Schamesröte ausbreitet. Sie fühlt sich ertappt – wie ein Ladendieb, der plötzlich die Hand des Securitymanns auf seiner Schulter spürt. Dann geht ihr jedoch auf, dass Fährmann eigentlich wissen sollte, wo sie es herhat – er hat es doch selbst dahin gelegt!

»Was soll das?«, schreibt Ines darum zurück.

Simetra antwortet nicht sofort, allerdings zeigt das Smartphone an, dass sie weiterhin online ist. Dann doch eine weitere Nachricht:

»Wo hast du es gefunden?«

Ines zögert kurz, antwortet dann aber doch. »Es lag auf meiner Fußmatte, das weißt du doch, oder?«, antwortet sie schließlich. »Was ist das hier? So eine Art blöder Witz? Ist das dein Handy? Wer bist du? Fährmann?«

»Dort kennst du mich, doch hier kennst du mich nicht.«

Nicht Fährmann, definitiv. Oder doch? Spielen wir jetzt ein Ratespiel? "Wer bin ich", oder so was Dämliches? Eigentlich sollte Ines nicht ihre Zeit damit vertrödeln, mit irgendeinem Spinner kindische Spielchen zu spielen, aber inzwischen will sie wissen, was es mit diesem Telefon auf sich hat.

»Bist du eine Art Promi, oder was?«, fragt sie also.

»Man kennt mich. Viele kennen mich. Aber nicht hier. Dort«

»Wie, „dort"?«

»Dort. Dort kennst du mich.«

»In diesem "dort" würde ich dich kennen, aber hier nicht?«

»Ja. So, wie du dich selbst kennst.«

Also, jetzt wird es mir zu seltsam, beschließt Ines. Am liebsten würde sie dieses Spiel hiermit abbrechen, aber sie bezweifelt, dass das Simetra so einfach akzeptiert. Ines starrt eine Weile gebannt auf den Bildschirm, dann folgt plötzlich ein neuer Text:

»Das führt zu nichts. Lassen wir das.«

Da hast du recht, denkt Ines, spürt aber, wie ihr Interesse erneut erwacht. Vielleicht wird das Gespräch ja wieder etwas rationaler.

»Also muss ich gar nicht erraten, wer du bist?«

»Nein.«

»Dann frag ich mich doch, was das hier soll.«

Ines runzelt die Stirn und schüttelt ärgerlich den Kopf.

»Hast du denn nichts Besseres zu tun, als fremde Leute zu nerven?«

Und das Dümmste ist ja, dass ich auch noch freiwillig mitspiele!, denkt sie erbost. Simetra bleibt stumm. Sie antwortet auch die nächsten zwei Minuten nicht, in denen Ines auf den Bildschirm starrt und nicht weiß, was sie jetzt tun soll. »Hallo?«, schreibt Ines noch, doch auch dieses Mal reagiert Simetra nicht, obwohl sie noch immer online zu sein scheint. In diesem Moment öffnet sich ein Fenster, das eine System-Aktualisierung ankündigt. Na dann eben nicht.

Ines schaltet das Smartphone auf Standby und legt es zurück auf den Esstisch. Vielleicht meldet sich ja noch jemand, dem es tatsächlich gehören könnte, und wenn nicht – dann ist das auch nicht ihr Problem. Sie beschließt, ein bisschen an die frische Luft zu gehen.

Als sie von ihrem kurzen Spaziergang zurück in ihre Wohnung kommt, findet Ines das Telefon unverändert und offenbar unberührt auf dem Tisch wieder. Insgeheim ist sie darüber enttäuscht, auch wenn sie gar nicht weiß, was sie anderes erwartet hätte – vielleicht, dass sich das alles als großer Irrtum herausstellt und eigentlich gar nichts passiert ist. Dass sie es sich eingebildet hätte. Geträumt. Aber nein, das fremde Telefon liegt noch immer da, diesmal beleuchtet vom künstlichen Licht der Deckenlampe anstelle des Tageslichts, das um diese Uhrzeit nicht mehr durch das Fenster scheint.

Sie überlegt, ob sie es ignorieren und sich stattdessen aufs Sofa legen sollte, doch dann nimmt sie es doch an sich und schaltet es ein. Der Hintergrund hat sich nicht verändert. Nicht weiter verwunderlich eigentlich, denkt sie. Allerdings ist nun ein weiteres App-Symbol auf dem Startbildschirm zu sehen. Eine Art Bilder-Galerie. Ines zögert erneut. Sollte sie wirklich durch die privaten Bilder eines fremden Menschen blättern? Ihre innere Stimme warnt sie davor – sowas tut ein gutes Mädchen nicht.

Dennoch öffnet sie das Fenster. Fotos und Videos steht da jetzt geschrieben. Sie klickt auf Fotos und eine Slideshow öffnet sich. Die Bilder darin zeigen alle eine junge Frau mit hellbraunem, langem Haar und einem spitzen Mausgesicht. Könnte das die Eigentümerin des Telefons sein? Oder ist das vielleicht diese Simetra? Die Frau ist recht zierlich und dünn, scheint etwa Anfang zwanzig zu sein und zeigt in fast jedem Foto ihr breites Zahnpasta-Lächeln. Ines zieht eine Augenbraue in die Höhe. Sehr selbstverliebt, dieses Mädchen! Vielleicht ist sie auch die Freundin des Handy-Besitzers. Allerdings kommt ihr diese Person keinesfalls bekannt vor. Nur das letzte Bild ist anders. Es scheint eine Aufnahme eines kleinen, menschenleeren Badezimmers zu sein – mit einem Kleiderständer und einer Toilette, als hätte sich jemand aufs Waschbecken gesetzt und ein Foto geschossen. Ines schluckt. Sie kennt das Bad! Nein, das kann nicht sein! Die Räume sehen doch alle gleich aus, hier im Wohnheim. Das ist nicht meins!

Der Bling einer eingehenden Nachricht lässt Ines hochschrecken, dass sie fast das Handy fallengelassen hätte.

»Da bist du ja wieder.«

Woher weiß sie das? Ines spürt, wie sich ihre Nackenhärchen aufstellen und sie instinktiv hinter sich schaut, in ihre leere Wohnung hinein. Sie hastet zur Couch und setzt sich. Zumindest hat sie so alles besser im Blick, sagt sie sich und gibt dabei gedanklich selbst zu, dass das schon ein bisschen paranoid klingt. Doch sie hat genug schlechte Bücher gelesen, um zu wissen, dass man immer auf der Hut sein sollte.

»Lass mich doch in Ruhe, du Stalker!«, schreibt sie wütend zurück.

»Hast du dir die Galerie angeschaut?«, fragt Simetra, ohne auf ihre Provokation einzugehen.

Erneut spürt Ines die Gänsehaut auf ihrem Armen kribbeln, doch dann kommt ihr der Gedanke, dass das vermutlich alles Teil des Streichs ist. Na gut, dann spiele ich mit und drehe den Spieß um! Jetzt verwirre ich sie einmal!

»Angekommen«, tippt Ines und muss dabei sogar leicht grinsen.
Simetra schreibt...

»Hast du auch die Videos gesehen?«

Verdammt, sie hat ihr Ablenkungsmanöver komplett ignoriert! Ines überlegt. Was soll das mit dem Video jetzt schon wieder bedeuten?

»Mir haben die Bilder schon gereicht. Manche Leute respektieren das Privatleben anderer Menschen!«

»Und, was sagst du dazu?«

Die Frage überrumpelt sie jetzt doch etwas. Sie tippt:
»Wozu?«

»Zu den Bildern.«

»Bilder, halt. Wer ist die junge Frau? Gehört ihr das Telefon?«

»Es hat ihr Mal gehört.«

»Und wem gehört es jetzt?«

»Dir«

Was? Diese Unterhaltung wird absurd.

»Und wieso sind dann immer noch ihre Bilder auf dem Handy?«

»Weil du sie nicht gelöscht hast.«

»Das wird mir jetzt zu schräg«, schreibt Ines hastig zurück. »Sorry, das Spielchen hat ja sogar ein bisschen Spaß gemacht, aber jetzt wird es mir zu persönlich.«

»Sieh dir die Videos an.«

»Ich will aber nicht!«

»Sie beantworten deine Fragen.«

Daraufhin geht Simetra offline. Was für eine Gruselkuh! Falls er/sie/es denn überhaupt tatsächlich eine Frau ist. Davon ist Ines fürs Erste ausgegangen, weil Simetra eher weiblich klingt. Allerdings könnte es auch sein, dass Simetra ein fünfzigjähriger, fettbäuchiger Pädophiler ist. Sie spürt, wie ihr Magen bei diesem Gedanken leicht flau wird. Ich sollte ja aus seinem Beuteschema herausgewachsen sein, oder?, beruhigt sie sich, ohne sich dabei tatsächlich zu beruhigen.

Ines schüttelt konsterniert den Kopf, öffnet aber die Galerie erneut. Diesmal klickt sie auf das "Videos" Album. Sie scrollt hindurch und versucht, sich dabei selbst Desinteresse vorzuspielen. Dann klickt sie auf ein Video. Es zeigt einen Typen mit schwarzer Strickjacke, krankhaft blasser Haut und ungekämmten Haaren, wie er versucht, auf sein Skateboard zu springen. Hinter der Kamera hört man das Lachen einer Frau. Irgendwann sieht der Typ diese mit gespielter Verärgerung an und meint, sie solle gefälligst mit dem Filmen aufhören. Na ja, belanglos, denkt Ines und klickt auf das Nächste. Jetzt sieht sie die junge Frau, die sie von den Fotos kennt „Hi!" in die Kamera rufen. Ihre Stimme geht im Rattern der vorbeirauschenden Wagen einer Achterbahn unter. Sie sind offenbar in einem Freizeitpark. »Wir sind jetzt angekommen!« »Jaah!«, ruft eine zweite Frau mit dunklen Locken, die ins Bild kommt, einen Arm um sie schlingt und sie zu sich zieht. »Ist ja mega was los hier!«, ruft das Foto-Mädchen und dreht ihre Selfie-Kamera in Richtung einer großen Menschenmenge. »Wie auf einem Open-Air Festival...« »Emmi, mach Schluss. Wir wollen noch zum Flugsimulator!«, wird sie von ihrer Freundin unterbrochen. Emmi erscheint wieder im Bild und haucht mit einem affektierten Schmollmund: »Bis dann!«, was allerdings schon im Gefuchtel ihrer Freundin untergeht, die lachend nach dem Telefon greift, um die Kamera abzuschalten.

Emmi.

Ines weiß, dass es zwecklos ist, und doch versucht sie, irgendwelche Erinnerungen hervorzukramen, die sie mit diesem Namen in Verbindung bringen kann. Er fühlte sich so vertraut an. Doch sie ist sich sicher, diese Frau niemals zuvor gesehen zu haben. Der Name hallt in ihrem Gedächtnis nach, wie die Endlosschleife eines Ohrwurms. Emmi.

Ines scrollt weiter durch die Videogalerie, als sie auch schon ans Ende gelangt. Das Vorschaubild des letzten Video ist deutlich schwärzer als der Rest, der hauptsächlich im Tageslicht aufgenommenen Filme. Es scheint einen dunklen Raum zu zeigen. Ein Schatten ist auf dem Bild zu sehen, allerdings sieht es sehr unscharf aus. Ines klickt das Video an.

Das Kamerabild wackelt, sie hört schnelle Schritte hallen. Darunter gehetzten Atemzüge der Person, die dieses Video aufnimmt. Diese rennt - und schluchzt dabei immer wieder verzweifelt auf. Dann fokussiert der Film kurz auf eine dunkle Gestalt in einem dunklen Raum. Ein Ruck geht durch das Bild. Eine Treppe. Verwackelte Stufen werden für einen Augenblick scharf und verschwimmen dann wieder. Haare fliegen kurz durchs Bild. Dann dreht sich die Kamera der filmenden Person zu. Ines erkennt Emmi trotz ihres verheulten Make-ups und der Dunkelheit sofort. Ein erneuter Ruck geht durch das Bild und das Video endet.

Ines starrt entsetzt auf den Bildschirm - nicht in der Lage, sich zu bewegen. Was war das? Wovor hatte Emmi solche Angst? Am liebsten würde sie das Handy sofort wegwerfen, oder jemand anderem auf die Fußmatte legen. Sie hat Angst vor diesem Ding. Nein! Sie will kein Feigling sein!

Sie verlässt die Galerie, als plötzlich eine kurze Vibration durch das Handy zuckt. Ihr Herz setzt für einen kurzen Moment aus. Dann Stille. Sie hält den Atem an und lauscht. Es hat einfach nur vibriert, beruhigt sich Ines. Verdammte Panik, sie sollte sich wirklich mal zusammenreißen!

Zögerlich öffnet sie den Chat erneut, fest entschlossen, dieser Simetra ihre Meinung zu sagen und diese Farce ein für alle Mal zu beenden. Dann starrt sie entsetzt auf die unbekannte Nachricht am Ende des Chats. Ein Video, aber es steht ein "Du" davor. Das Handy hat es selbst verschickt, in ihrem Namen! Gerade eben, in dieser Minute. Was zum Teufel? Wie geht das? Es ist ein dunkles Video, wie das von der rennenden Emmi.

Ines schluckt. Ein Knacken ist zu hören. Panisch hebt sie ihren Kopf, ihr Blick jagt durch das Zimmer. Nichts! Es war bestimmt nur das Holz des Türrahmens. Ich höre schon Gespenster!

Ein Blick auf das Smartphone bestätigt Ines, dass Simetra noch immer offline ist. Dieses Wissen beruhigt sie aber kaum. Wer diese merkwürdige Person auch immer ist, sie hat es geschafft, ihr angstzumachen. Eine Scheißangst. Vielleicht ist es ja auch gar keine einzelne Person. Vielleicht sind es viele. Vielleicht alle anderen in diesem Wohnheim!

Ines atmet tief durch. Es ist ein Scherz - mehr nicht. Sie muss sich keine Sorgen machen. Gott, sitzt sie hier wirklich in ihrer Wohnung und gruselt sich vor einem alten Smartphone? Das ist doch alles nur ein schlechter Joke, ein Spiel! Reiß dich zusammen, du bist kein Kind mehr! Lass ihnen nicht diesen Triumph!

Mit zittrigem Finger klickt sie auf das Video.

Der Bildschirm bleibt zunächst schwarz. Nur Pixelfehler und Rauschartefakte verraten, dass das Video läuft. Erst nach ein paar Sekunden schwenkt die Kamera und man erkennt den Kopf einer Frau mit langen, hellbraunen Haaren. Ihr Gesicht ist rot und fleckig, sie wischt sich hastig die Tränen aus den Augen. Ihre Gesichtszüge sind angstverzerrt. Die Kamera wackelt in ihren zitternden Händen. Sie sieht aus, als würde sie etwas sagen wollen, doch sie bringt nichts heraus. Dann holt sie tief Luft. »Es ist hier.« Ihre Stimme klingt hoch und dünn. Eine Störung verzerrt das Bild. Für eine halbe Sekunde wird der Bildschirm schwarz, dann sieht man Emmi wieder, diesmal auf einer Couch sitzend. »Ich bin Emma Weidekind«, sagt diese leise, aber deutlich. Das Bild springt zurück auf die weinende Emma in Nahaufnahme. »Ich kann es spüren«, flüstert sie und hält sich eine Hand vor den Mund, um hinein zu schluchzen. Ines nimmt ein unangenehmes, kribbliges Schwindelgefühl wahr, als hätte sie, auf einem Hochhaus stehend, einen Blick in die Tiefe gewagt. Ein eiskalter Schauer läuft ihr den Rücken hinunter. Im Video atmet Emma zittrig ein. »Es ist hier«, haucht sie. Dann ändert sich die Szeneneinstellung plötzlich und zeigt Emma mit in den Armen vergrabenem Kopf am Tisch kauern - mit bebenden Schultern, geschüttelt von Schluchzern. Das kann sie nicht selbst aufgenommen haben! Es muss noch jemand anderes im Raum sein! Ines' Atem stockt. »Lauf weg!«, schreit Emma im nächsten Take. »Es will nur di–«. Dann zerreißt sich die Szenerie in graue Pixel und das Video endet.

Ines spürt die Gänsehaut auf ihren Armen, das Zittern ihres Unterkiefers, doch der Rest ihres Körpers ist wie gelähmt. Sie atmet flach und hastig.

Der Signalton des Handys lässt sie krampfartig zusammenzucken. Systemaktualisierung steht auf dem Bildschirm. Noch zwanzig Sekunden. Noch zehn Sekunden. Noch fünf Sekunden. Eine Störung zuckt durch das Gerät, das Bild verpixelt sich und im nächsten Moment zeigt der Bildschirm einen Chatverlauf – Simetras Chat.

Aber der Text erscheint ihr so fremd. Das ist nicht das Gespräch, das sie mit dieser Simetra geführt hat! Ihr Blick fliegt über das kurze Gespräch.

»Hey.«

»Hi, wer bist du?«

»Du kannst mich Simetra nennen.«

»Kennen wir uns?«

»Dort kennst du mich, doch hier kennst du mich nicht.«

Die gleiche Masche, die sie auch bei mir durchgezogen hat! Ines' Augen weiten sich vor Entsetzen.

»Was soll der Scheiß? Hat dir Erik meine Nummer gegeben? Sag ihm, er kann mich mal.«

»Es geht nur um dich.«

»Sorry, aber ich hab echt keine Zeit für den Mist jetzt.«

»Nur um dich, Emma Weidekind.«

Ihr Blick schweift über das Datum des Chats und gefriert sofort. Ihre Hände beginnen so stark zu zittern, dass sie das Telefon kaum noch halten kann. Elfter Juni 2012. Vor acht Jahren. "Emma Weidekind", halt es in ihren Gedanken nach, wie in einer Echokammer.

Die melodischen Piep-Geräusche, die eine neue Nachricht ankündigen, dringen gedämpft zu Ines' Trommelfellen durch. Die Nachricht öffnet sich automatisch.

»Du hast es gefunden.«

Ines ringt nach Atem. Es gelingt ihr nicht, ihr Brustkorb schmerzt, als würde sich ein Wurm durch ihre Lunge fressen, auf dem Weg zu ihrem Schädel.

Ich bin Simetra. Dort kennst du mich, doch hier kennst du mich nicht.

Der Handybildschirm flackert. Nein, nicht nur der. Sie hat das Gefühl, das der ganze Raum verschwimmt. Das Licht wird dunkler, dann heller. Es geht kurz aus, dann wieder an. Aus. An. So kurz, dass sie es gar nicht richtig wahrnehmen kann. Was machst du mit mir? Das sind nicht meine Erinnerungen!

Ines' Finger fühlen sich taub an, ihre Gelenke steif, als würde sie langsam zu Stein werden, als sie unter großer Anstrengung die kleinen Buchstaben auf dem Handydisplay berührt.

»Was hast du ihr angetan?«

»Frag sie selbst, sie kennt mich hier.«

»Ich versteh nicht! Wer bist du?«

»Ich zeig es dir.«

Ines fühlt sich wie eine Passagierin in einem abstürzenden Flugzeug. Ihre Gedanken wirbeln und tosen. Ein wütender Tornado fegt durch ihren Verstand, saugt ihre letzte Willenskraft heraus. Sie sackt zusammen - liegt gekrümmt auf dem Boden, in einem Raum mit flackerndem Licht und umklammert das Handy mit schweißnasser Hand.

Emma Weidekind. Es findet dich!

»Geh ins Badezimmer.«

»Nein!«, haucht Ines.

»Geh ins Badezimmer und sieh in den Spiegel.«

Ines bleibt liegen, starrt auf das Handydisplay in ihrer Hand. Kann den Text durch den Tränenfilm kaum noch erkennen.

»Sieh in den verdammten Spiegel!«

Langsam kriecht sie in Richtung Bad, schafft es mit letzter Kraft, sich aufzurichten, und öffnet die Tür.

Tu das nicht! Lauf weg! Es will nur dich!

Doch es ist nicht mehr Ines' eigener Willen, der ihren Körper kontrolliert.

Zitternd steht sie im dunklen Badezimmer, das Handy in ihrer rechten Hand haltend, als wäre es eine Waffe. Es ist eine Waffe. Eine Waffe, die auf sie selbst gerichtet ist.

Ihre Füße tragen sie vor den Spiegel, ihr Kopf hebt sich langsam, wie an Fäden geführt. Sie schaut hinein.

Sie steht der Reflexion einer jungen Frau mit sommersprossigem Mausgesicht und hellbraunem, dünnem Haar, das in einem Dutt auf ihrem Hinterkopf steckt, gegenüber.

»Das bin ich nicht!«, flüstert sie.

»NEIN!« Ihr Schrei verhallt zwischen den kalten, weißen Fliesen.

»DAS BIN ICH NICHT!«

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(3950 Wörter)

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