XXXV | Chaeng
Eine Stunde verstrich, in der ich nichts mehr von Daria hörte. Keine Anrufe, keine Nachrichten, keine Forderungen nach einer Erklärung. Aus der Stunde wurde ein Tag. Aus dem Tag eine Woche.
Natürlich sah ich sie noch oft genug. Sie wohnte schließlich neben mir. Doch wir redeten kein Wort. Sie kam nicht mehr zum Schwimmen, und irgendwann war der Punkt erreicht, an dem sich selbst Luis Sorgen machte. Es wurde nach ein paar Tagen sogar so schlimm, dass er in bester Chaeng-Manier verkündete, dank seinen Freunden und seiner Familie würde sein Leben nur noch aus Sorgen bestehen.
Was meine Rolle betraf, verhielt ich mich wie eine äußerst schlechte Freundin. Ich erzählte ihm nicht, was zwischen Daria und mir vorgefallen war. Dafür war es mir zu unangenehm. Und zusätzlich hatten wir immer noch keinen Plan für Matilde. Die Zeit wurde immer drückender. Zudem half es auch nicht, dass ich zwischendurch Evyen gefragt und sie von jeder waghalsigen Aktion abgeraten hatte. Unsere letzte Hoffnung war Chaengs Unterstützung.
Für letztere war ich gerade auf dem Weg zur Interexpress-Station. Ich hatte ihr versprochen, sie abholen zu kommen. Schon seit Monaten hatte ich mich auf ihren Besuch gefreut, doch nun war meine Laune deutlich getrübt. Wie hätte ich auch ahnen können, was für Wege mein Leben nehmen würde?
Endlich hielt das Moby vor einem flachen silbernen Gebäude an. Ich stieg aus und durchquerte die Drehtür. Dann stand ich in der Halle. Unzählige Stimmen hallten durch den Raum, vermischten sich zu einem stetigen Summen. Die Station war immer voll, zu jeder Uhrzeit. Nur die Reisenden unterschieden sich. Morgens und abends waren es eher Geschäftsreisende und Pendler, mittags und nachmittags die normalen Verreisenden.
Gerade war anscheinend so ein Zug angekommen, denn es kamen mir gleich mehrere Familien, Pärchen und ab und an mal Alleinreisende entgegen. Besonders in den Ferien war Edinburgh ein beliebtes Ziel für Touristen.
Ich nahm den entgegengesetzten Weg. Zuerst musste ich eine gigantische Rolltreppe runterfahren, bis ich auf der Zentralebene war. Von dort aus kam man auf die Gleise. Wenn es überhaupt möglich war, war es hier unten noch voller als oben. Die Menschen drängelten sich zu ihren Zielen, die mit leuchtenden Schildern über den Gleiszugängen markiert waren.
In einer einigermaßen ruhigen Ecke suchte ich auf meinem Airscreen nach Chaengs Gleis. Schon nach ein paar Sekunden war ich fündig geworden und machte mich wieder auf den Weg. Gleis drei, vier, fünf. Und schließlich war ich bei Gleis sechs. Ich folgte dem breiten Gang zwischen zwei weiteren Rolltreppen hindurch. Sie führten auf die unteren und oberen Ebenen. Chaengs Zug kam allerdings auf der Zentralebene an.
Auf dieser war unverändert einiges los. Ein Blick auf die Anzeigetafel verriet mir, dass der Zug die Rundlinie über New Angeles, Seoul und Moskau fuhr. Und, dass ich nur noch zwei Minuten zu warten hatte.
Schließlich hörte ich das bekannte, leise Rauschen. Es verstummte und die Wand, die das Gleis vom Bahnsteig trennte, fuhr zurück. Menschen strömten aus den Zugtüren heraus. Ich versuchte, den Überblick zu behalten, doch das war schwieriger als gedacht. Ich war nicht gerade die Größte und vor allem wusste ich auch nicht, wo genau Chaeng nun aussteigen würde.
Unzählige Personen strömten an mir vorbei, dann fingen andere Wartende, wieder in den Zug zu steigen. Doch dann fand ich endlich eine Person mit halblangen hellbraunen Haaren und einer euphorischen Miene. Sie kam direkt auf mich zu.
„Hey!", begrüßte sie mich und blieb vor mir stehen.
„Ebenfalls hi. Soll ich dir was abnehmen?", fragte ich.
Ohne zu antworten, drückte sie mir einen ihrer Koffer in die Hand. Dann machte sie sich daran, sich einen Weg durch das Getümmel zu bahnen.
„Gott, wie ich Bahnhöfe hasse", beschwerte sie sich, als wir endlich vom Gleis runter waren. „Zu viele Leute, viel zu hektisch, man hat keine Ahnung, wo man hinmuss. So stelle ich mir meine persönliche Hölle vor."
Ich kicherte. Es tat gut, sie wieder hier zu haben. Immerhin lenkte sie von anderen Problemen ab.
„Oben wird es nicht besser sein. Und wenn wir Pech haben, bekommen wir kein Moby und müssen nach Hause gehen."
Für einen kurzen Moment starrte sie mich entsetzt an. „Du verarschst mich doch, oder?"
„Alles gut, ich habe daran gedacht, eins zu bestellen. Sogar ein großes. Man weiß bei dir ja nie, was für Gepäck du alles dabeihast."
„Das ist allerdings praktisch. Den Platz werden wir brauchen."
„Du hast noch mehr Koffer irgendwo herumfliegen? Die du irgendeiner armen Person zum Tragen aufgedrückt hast?"
„Nicht ganz. Aber sieh mal hinter dich."
Ich sah über die Schulter. Menschen tummelten sich auf der Rolltreppe, eine hochgewachsene Frau überholte uns alle mit großen Schritten.
Chaeng verdrehte die Augen. „Du kriegst aber auch gar nichts mit, oder?"
Ich schaute sie irritiert an. Was sollte ich mitbekommen? Hatte sie wieder irgendeine ihrer Überraschungen geplant?
„Siehst du den silberhaarigen Typen hinter uns?" Sie seufzte, als ich schon wieder nach hinten sah. Sie hatte recht. Da war jemand hinter uns, der silbergraue Haare, eine gerade, flache Nase und schmale Augen hatte. Irgendwie kam er mir bekannt vor. Als er meinen Blick bemerkte, winkte er.
„Nel, ich bin entsetzt! Du hast Tae doch erst letztes Jahr gesehen!"
Ich starrte entgeistert nach hinten und wieder zurück zu meiner Freundin. Jetzt, wo sie es sagte... „Das ist Tae?"
„Sage ich ja. Ernsthaft, was ist mit deinem Gedächtnis passiert? Hast du es in Oslo gelassen?"
Ich konnte nicht anders, als noch einmal einen Blick zurückzuwerfen. Egal, wie eindeutig es war, ich konnte es immer noch nicht fassen. „Du hast Tae mitgebracht? Einfach so? Ohne Vorwarnung?"
„Das stimmt so nicht", sagte Chaeng. „Ich habe dich vorgewarnt."
„Wann soll das denn bitte gewesen sein? Als ich geschlafen habe?"
„Was weiß ich, ob du beim Schlafen lesen kannst. Ich habe es jedenfalls in meinem ersten Brief nach Linti erwähnt, dass ich jemanden mitbringen könnte. Und du hattest nichts dagegen."
Jetzt sah ich die Zusammenhänge. Das war definitiv etwas, das nur Chaeng durchziehen konnte.
„Ich dachte, das war nicht ernst gemeint!"
„Das war wohl dann falsch gedacht. Du kennst mich doch. Und du brauchst dringend Ablenkung."
„Und deshalb bringst du einfach ungefragt deinen Cousin mit."
„Genau genommen ist er nicht mal mein Cousin. Genauso wenig wie dieser Sohn von Evyens Schwester dein Cousin ist."
„Harrys und meine Verwandtschaftsverhältnisse tun absolut nichts zur Sache", stellte ich klar.
„Ich weiß, ich weiß. Ich wollte es nur mal anmerken. Sag mal, wo sind nochmal die Toiletten hier?"
Ich deutete in Richtung Informationsstand. „Da drüben, kannst du nicht übersehen."
„Perfekt. Pass du so lange bitte auf die Koffer auf." Sie drückte mir auch noch ihr zweites Monstrum in die Hand und ließ mich einfach stehen. Einen Moment sah ich ihr nach. Dann wandte ich mich zu Tae um, der nun neben mir stand.
„Hi. Lang nicht mehr gesehen", sagte ich. Mit ein bisschen Mühe brachte ich einen von Chaengs Koffern in eine angenehmere Position. „Willkommen in Edinburgh, würde ich sagen."
„Danke." Er blickte sich neugierig um.
„Du warst noch nie hier, oder?", vermutete ich.
„Nicht ganz, vor fünfzehn Jahren mit meinen Eltern. Aber ich kann mich an kaum etwas erinnern. Tut mir übrigens leid wegen Chaeng. Sie kann manchmal etwas überrumpelnd sein."
„Oh, das brauchst du mir nicht zu erzählen." Ich lächelte, während ich an all die Erinnerungen von Chaengs sonstigen Überraschungen dachte. „Ich schlage mich ja schon ziemlich lang mit ihr durch."
„Wobei ich mich frage, wie du das aushältst. Wenn sie einmal bei uns zu Besuch ist, brauche ich erstmal eine Woche, um mich davon zu erholen." Er grinste. „Aber was soll man machen."
„Genau richtige Einstellung. Obwohl ich sagen muss, diese Aktion übertrifft ihre sonstigen nicht mal ansatzweise. Sie hat schon so einiges auf die Beine gestellt, bei dem ich mich gefragt habe, wie sie sich das vorgestellt hat."
„Aber irgendwie gehen ihre Pläne dann doch immer auf", ergänzte er. „Auch wenn man im Nachhinein nie weiß, wie genau sie das geschafft hat."
„Exakt. Wie geht es eigentlich deiner Schwester und deinen Eltern?", wechselte ich das Thema.
So ging es noch eine Weile weiter. Ich erfuhr, dass Jihoon es geschafft hatte, bei einer kurzfristigen Airscreenreparatur das gesamte Schulmaterial von Chaengs Cousine zu löschen. Das war natürlich erstmal zu einem Familienstreit ausgeartet. Zum Glück war Yunai nicht anwesend gewesen, sonst wäre es noch schlimmer geworden. Letztendlich hatten sie die Daten über ein paar Umwege auch wieder zurückbekommen.
Nach etwa zehn Minuten kam Chaeng auch mal wieder zurück. „Danke fürs Aufpassen." Sie schnappte sich ihren Koffer und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Tae und ich wechselten einen resignierten Blick und folgten ihr.
„Ich sehe genau, dass ihr vorhin zu einem perfekten Verschwörungsteam gegen mich mutiert seid", kam es von vorne. „Aber schön, dass ihr euch immer noch so gut versteht."
Na dann war ja alles gut. Ich navigierte sie durch die Tür und von dort aus zu den Mobys. Dank Chaengs ungeplantem Ausflug zu den Toiletten mussten wir nicht einmal warten. Ich half Tae, die Koffer zu verladen. Dann stiegen wir zu Chaeng in den Innenraum und ich gab unsere Adresse ein.
Als wir uns in Bewegung gesetzt hatten, fragte ich: „Um das aus dem Weg zu haben, wie hast du dir das vorgestellt? Wollt ihr beide euch das Gästezimmer teilen oder gibt es anderweitige Pläne?"
„Das Gästezimmer habe ich reserviert", erklärte Chaeng entschieden. „Da kommt keiner rein außer mir."
„Und was schlägst du dann vor?"
„Habt ihr nicht noch ein zweites Gästezimmer?"
„Wenn du das Ausklappsofa im Wohnzimmer nicht mitzählst, nein."
„Das ist schlecht."
Das war es tatsächlich. Noch so ein Problem, um das ich mich kümmern musste. Immerhin hatte dieses hier nicht unbedingt weltzerstörende Sprengkraft.
„Ich kann mir ein Hotel suchen", mischte sich Tae ein. „Es sollte hier zumindest genügend geben."
„Nein, lass das mal. Das kostet nur ein Mordsgeld und es ist Hochsaison. Fraglich, ob du überhaupt so kurzfristig was sinnvolles bekommst."
„Es wäre aber absolut kein Problem. Ich mag es nicht, damit zu kommen, aber am Geld wird es nicht scheitern."
„Das ist nett von dir, aber nicht nötig. Mir wird schon was einfallen."
„Ich meine das ernst. Chaeng hat mich mitgeschleppt, es ist nicht deine Aufgabe, eine Lösung zu finden."
„Lass mich das regeln", sagte ich deutlich. „Irgendwie habe ich in Chaengs Brief tatsächlich eingewilligt und daher ist es sehr wohl meine Aufgabe."
„Das stimmt", kommentierte Chaeng.
„Du warst aber auch nicht ganz unbeteiligt, wie es aussieht", sagte Tae. „Dann musst du wohl auch ein halbes Gästezimmer in Kauf nehmen."
„Das", sagte Chaeng und zog die Wörter in die Länge, „wird unter keinen Umständen passieren. Wenn ich so darüber nachdenke, war die Idee mit dem Hotel doch nicht so schlecht."
Tae sah sie vorwurfsvoll an. Ich stöhnte. Meine Energie war auch ohne solche Diskussionen schon am Limit und die beiden reizten dieses gerade ziemlich aus.
„Tae schläft in meinem Zimmer", beschloss ich kurzerhand. „Dann hast du dein Gästezimmer und alle sind zufrieden."
„Und was ist mit dem Sofa?", hakte Tae nach. Er schien sich nicht wohl damit zu fühlen, dass ich das einfach so entschieden hatte.
„Das Sofa", erklärte ich, „möchte ich wirklich niemandem antun. Ich habe ein Mal darauf geschlafen und danach dachte ich, ich wäre nie wieder in der Lage, mich ohne Schmerzen zu bewegen."
Chaeng nickte zustimmend. Sie war diejenige gewesen, die mein Gejammere hatte ertragen müssen. Doch Tae sah immer noch nicht überzeugt aus.
„Mein Zimmer ist groß genug", versuchte ich, ihn zu beruhigen. „Ein paar Nächte werden mich nicht umbringen. Aber wenn es an mir liegt, kann ich auch aufs Sofa umziehen."
Chaeng schnaubte belustigt, woraufhin ich korrigierte: „Oder eher zu Evyen. Läuft aber aufs selbe hinaus."
Eine Sekunde lang sahen wir Tae erwartungsvoll an, bis dieser den Kopf schüttelte. „Nein, alles gut. Für mich ist das in Ordnung."
„Geht doch", sagte Chaeng. „Übrigens, falls wir irgendwelche konspirativen Gespräche in Sachen Linti führen wollen, ich habe Tae im Zug schon eingeweiht. Wusstest du, dass sein biologischer Vater einer der Außerirdischen ist?"
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