XXXIV | Nicht besonders gut

Evyen kam am späten Abend nach Hause. Zwischen ihrer Rückkehr und Luis' Besuch hatte ich mir Gedanken über alles Mögliche gemacht, bis ich mich dazu entschieden hatte, Essen zu kochen. Dabei hatte ich weiter Rachel zugehört, die mittlerweile bereits ihren Schulabschluss hatte und nun ein Auslandsjahr in verschiedenen Ländern der Kontinentalen Staaten machte.

Als wir am Tisch saßen, fragte ich: „Wo warst du eigentlich heute?"

Sie schaufelte sich Kartoffelpüree auf den Teller. „Mit der Uni fange ich erst nächste Woche wieder an. Ich musste etwas in Sachen Linti erledigen."

„Was denn? Hat es irgendwas mit den Anschlägen zu tun?"

„Nicht wirklich, ich musste ein paar Wogen glätten. Darüber wollte ich mit dir auch nochmal reden. Sie geben dir einen Monat Zeit, um dich für ihre Seite zu entscheiden."

Was war das denn für ein Angebot? Da sprang nicht mehr als eine Deadline für mich heraus. „Und was, wenn ich mich ihnen gar nicht anschließen möchte?"

Sie schob angespannt ein wenig Essen hin und her. „Ich fürchte, es ist alles nicht so einfach, wie es aussieht. Solltest du dich so bald keiner Seite anschließen, könnte es ziemlich gefährlich werden. Vor allem, wenn sie planen, die Existenz der Avirei zu enthüllen."

„Wie meinst du das?", fragte ich irritiert.

„Nun, wir hier in Edinburgh bekommen nicht viel davon mit. Aber unter einer bestimmten Gruppe Verschwörungstheoretiker gibt es auch einen Teil mit einer sehr radikalen Tendenz. Sie wissen schon seit Ewigkeiten von den Avirei, niemand hat ihnen aber bisher Glauben geschenkt. Und da sie das Unverständnis der Öffentlichkeit und der Regierungen als einen enormen Fehler sehen, haben sie es selbst in die Hand genommen. Das heißt im Klartext, wenn sie mitbekommen, dass du avireische Wurzeln hast, ist dein Todesurteil quasi besiegelt."

Ich erschauderte. „Und die einzigen, die mir Schutz geben können, sind entweder Linti oder die Regierungen."

Einen Monat, in dem ich ihnen nicht in die Quere kommen sollte und sie ihre Pläne mit Matilde umsetzen konnten. Ob man da von Glück sprechen konnte, war fraglich. Es ging ohnehin schon alles zu schnell, und jetzt wurde es noch schwieriger, schnell genug zu reagieren.

„Okay, ich werde es mir überlegen", sagte ich. „Kannst du mir bitte einmal das Wasser rübergeben?"

Sie reichte mir die Flasche. „Lass dir mit der Entscheidung ruhig genug Zeit. Schau dir die Rahmenbedingungen an, hör das Tagebuch zu Ende, sammle Informationen. Irgendwann wird der Konflikt eskalieren, und dann solltest du auf der richtigen Seite stehen."

„Hm", machte ich. Sie formulierte es so drastisch. Zu der Eskalation würde es nie kommen, wenn mir noch irgendein Plan einfiel.

„Hast du eigentlich etwas von Matilde gehört?", wechselte ich das Thema.

„Matilde?"

„Ja, sie ist plötzlich verschwunden, ohne Bescheid zu sagen. Das sieht ihr nicht ähnlich."

„Wenn das so ist, weiß ich es auch nicht", gab sie zu. „Ich dachte eigentlich, sie wäre noch in Oslo."

Und wieder war eine Hoffnung enttäuscht. Mittlerweile war ich es aber gewohnt, sodass ich bloß mit den Schultern zuckte. „Ist auch egal. Es wird schon nichts passiert sein."

Eine Weile aßen wir schweigend weiter. Das Fleisch war mir ein wenig angebrannt, ich war vollkommen aus der Übung im Kochen. Doch wenn man die verbrannten Stellen abkratzte, war es ganz okay geworden.

„Du glaubst, sie wurde entführt, oder?", sagte Evyen plötzlich. Ich sah auf.

„Wie kommst du darauf?"

Sie hob die Augenbrauen. „Dein Ton verrät dich immer wieder. Also?"

„Es ist eine Möglichkeit", räumte ich ein. Vielleicht irrten Luis und ich uns ja und sie konnte uns doch weiterhelfen.

„Die Möglichkeit, die du für am wahrscheinlichsten hältst."

„Was soll ich denn sonst denken? Ich kenne Matilde schon seit Jahren. Sie verschwindet nicht einfach, nachdem sie sich noch vor fünf Minuten mit mir hatte treffen wollen."

„Das ist tatsächlich ungewöhnlich. Allerdings weiß ich da auch nicht mehr als du. Ich kann mich aber nochmal umhören. Womöglich kann ich ein bisschen was über ein mögliches Motiv herausfinden."

Ich machte ein zustimmendes Geräusch und widmete mich wieder meinem Essen. Sie tat eigentlich schon genug für mich. Sie hatte die Sache mit Cassidy geklärt und mich aus dem Versus-Sitz in Oslo rausgebracht. Und abgesehen davon kannte ich das Motiv ja bereits.

Doch anstatt sie vollständig aufzuklären, hielt ich mich zurück. Ich brauchte jetzt nicht noch mehr bohrende Fragen. Wenn es ihr auffiel, dass ich noch mehr wusste, würde sie mich schon darauf ansprechen. Sie hatte auch immer bemerkt, wenn ich als Kind ein paar Kekse aus der Packung stibitzt hatte.

Zu meinem Erstaunen kam es aber nicht so weit. Als wir mit dem Essen fertig waren, zog sie sich in ihr Zimmer zurück und ich nahm den CD-Spieler mit in meins zurück. Dort grübelte ich dann mit Rachels beruhigender Stimme im Hintergrund weiter.

***

Der Freitag war die Hölle. Es war zwar erst Morgen, und man sollte den Tag bekanntlich nicht vor dem Abend loben. In meinem Fall, verfluchen. Aber er hatte bereits so schlimm angefangen, dass ich bezweifelte, dass mich heute noch irgendwas aufheitern konnte.

Zuerst war da die Nacht gewesen. Ich hatte heute ganze zwei Stunden geschlafen, dank diversen Träumen, in denen ich durch das leere Linti rannte. Ich wusste nicht, wie ich rauskommen konnte, fand aber niemanden. Die Stadt war verlassen.

Dann fand ich endlich eine Person. Doch diese war Matilde, die für mich unerreichbar in meinem Zimmer eingeschlossen war. Ich konnte durch die Tür sehen. Und so bekam ich mit eigenen Augen mit, wie die Möbel plötzlich Feuer fingen und den gesamten Raum erleuchteten.

Nachdem ich schweißgebadet aufgewacht war, brauchte ich erstmal ein paar Minuten, um zu realisieren, dass ich nicht mehr dort war. Doch selbst als die Übelkeit abgeebbt war, verschwand das Gewicht auf meiner Brust nicht. Matilde war wahrscheinlich immer noch da unten. Und anders als ich hatte sie keine Evyen und auch keine Candice.

An Schlafen war also nicht mehr zu denken. Trotzdem hatte ich mich entschieden, zum Schwimmbad zu kommen. Gestern war in den Duschen alles gut gegangen, es sprach also nichts mehr dagegen. Ich brauchte die Ablenkung, die mir das Schwimmen gab.

Doch im Eingangsbereich wartete eine böse Überraschung auf mich. Wie es aussah, war die einzige Person, die heute Zeit hatte, Daria. Auch ihr halbwegs gut gelaunter Gesichtsausdruck fiel in sich zusammen, als sie mich sah.

„Konnte Lijane nicht?", fragte sie, sichtlich verärgert.

„Nein, sie kann nicht", brachte ich hervor. „Sie ist auf ihrer Familienfeier, schon vergessen?"

„Das ist ärgerlich."

Das fand ich allerdings auch. Ich hatte wirklich große Lust, Daria einfach alleine stehen zu lassen und mir ein anderes Schwimmbad zu suchen. Doch anstatt meinen Drängen nachzugeben, ging ich wortlos zu den Umkleidekabinen.

Zum Glück wussten wir beide, wie das Training ablief und mussten somit nur minimal miteinander reden. Wenn man davon absah, dass ich im Gegensatz zu ihr im Becken immer noch grottig abschnitt, waren die Stunden im Wasser sogar recht angenehm. Sobald ich allerdings in den Duschen war, kamen die Sorgen zurück. Matilde, die Avirei, meine Kräfte, Chaeng und Luis. Es wurde von Tag zu Tag mehr.

„Wie kommt es eigentlich, dass du so außer Übung bist?", kam es auf einmal von Daria. Den hinterlistigen Ton in ihrer neugierigen Stimme konnte ich mir allerdings auch nur eingebildet haben.

„Ich war einen Monat weg."

„Und sie hatten da kein Schwimmbad?"

„Du hättest sie eins bauen lassen, da bin ich mir sicher."

„Ich sag's ja nur. Es ist nicht besonders gut für unser Team, wenn es bei einem Mitglied so schlecht läuft."

Sie hatte wirklich die beeindruckende Fähigkeit, mich mit wenigen Sätzen auf die Palme zu bringen.

„Das ist mir durchaus bewusst", fauchte ich. „Was glaubst du, warum ich gerade nicht gemütlich zu Hause liege?"

„Das hättest du ohnehin nicht getan. Anderer Punkt, früher warst du nie so eingeschnappt, wenn du mich nur gesehen hast. Was hat sich verändert?"

Was sich verändert hatte? Das konnte sie sich selbst beantworten, dazu brauchte sie mich nicht. Ich war nicht diejenige, die jemandem einfach so den Freund ausgespannt hatte. Aber auf das Niveau, ihr zu antworten, ließ ich mich nicht hinab.

„Eigentlich kann ich es mir auch selber denken", fuhr sie ungerührt fort. „Dir lag wirklich etwas an David, nicht wahr? Zu schade, dass du nicht so schnell drüber hinweg gekommen bist wie er. Und das, obwohl du gleich mehr als einen Monat-"

Die Scheibe zwischen unseren Duschkabinen platzte. Glühende Hitze rauschte durch meine Adern und feuerte meinen Zorn an. Mit einem Schub von purer Macht hob ich die Glasscherben an. Daria starrte mit großen, bernsteinfarbenen Augen darauf.

„An deiner Stelle würde ich mich stark zurückhalten", sagte ich mit bebender Stimme. „Ich bin noch nicht drüber hinweg, weißt du? Noch lange nicht."

Eine der Scherben löste sich aus dem Schwarm und flog durch den Raum. Sie zerschellte an der Wand. Mit einem kleinen Schubs meiner Energie holte ich sie zurück zu den anderen.

„Er hatte recht", murmelte Daria schockiert. „Wie konnte er das wissen?"

„Indem er an genau demselben Ort ist, an dem ich auch war." Die Flammen in meinem Körper wurden immer größer und größer. „Soll ich dir noch etwas erzählen? Während er nicht bei dir in Edinburgh war, war er damit beschäftigt, tausende unschuldige Menschen umzubringen. Tausend Menschen, die ihm nichts getan haben. Die sterben mussten für eine Rache, die nicht mal seine war."

Ihr Blick wurde immer verstörter, während er zwischen dem Glasklumpen und mir hin und her sprang. In einer Art war es, als würde sie jetzt das zurückbekommen, was sie mir mit ihrer kleinen Affäre angetan hatte. Es fühlte sich erschreckend befriedigend an.

Dieses Gefühl war es letztendlich, was mich aus dem Gleichgewicht brachte. Was tat ich hier überhaupt? Ich sah auf den Glasklumpen, den leeren Scheibenrahmen. Doch ich hatte keine Energie mehr übrig. Nichts mehr, um dem Feuer zu trotzen.

Ich ließ los. Das Glas traf auf den Boden, überraschend stabil. Es rollte noch ein wenig, bis es mehrere Meter von mir entfernt liegen blieb.

Auch wenn ich nicht mal meine Haare gewaschen hatte, schnappte ich mir mein Handtuch und verließ den Raum. Ich beeilte mich, das Schwimmbad zu verlassen. Ich musste so weit wie möglich weg von hier. Denn ich wusste genau, dass ich ziemliches Chaos angerichtet hatte. Wie sollte irgendjemand den Glasklumpen erklären? Wenn Daria klug war, zerbrach sie ihn, sodass es aussah, als sei nur die Scheibe gesplittert.

Allerdings bezweifelte ich stark, dass sie heute noch irgendwas in der Richtung tun würde. Sie hatte gerade gesehen, wie Unmögliches geschah. Ich hatte ihr direkt ins Gesicht gesagt, dass David unter anderem für Luanda und Rio verantwortlich war, auch wenn ich mir dabei nicht einmal sicher war. Das war nicht gut. Ich hätte mich nicht provozieren lassen sollen. Aber leider war das etwas, worin Daria besonders gut war. Und jetzt steckte ich bis zu den Knien in der Scheiße.

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