XXXII | Vergeblich
Ich blickte auf das eingefrorene Bild um mich herum. „Sie hat ihren Airscreen ausgeschaltet. Das erklärt einiges. Und dann ist sie einfach mit diesen Leuten mitgegangen?"
„Sieht ganz danach aus", sagte Ali. „Vielleicht wollte sie irgendetwas in einem anderen Raum ausprobieren. Aber dass überhaupt jemand kommt, um sie abzuholen, ist ungewöhnlich. Auch wenn sie freiwillig mitgegangen zu sein scheint."
„Aber warum sollte sie das tun?" Ich warf einen Blick auf die Timeline. „Noch fünf Minuten vorher wollte sie mich in der Kantine treffen."
„Und sie hat dir nicht Bescheid gesagt, dass sie doch nicht kommt?"
„Eben nicht, das ist das Problem. Oder zumindest ein Teil davon. Irgendeine Idee, wo sie jetzt sein könnte?"
Er seufzte. „Nun, sie könnte überall sein. Wenn hier auf dem Flur niemand weiß, wo sie ist, haben wir kaum eine Chance. Aber ich kann mal nachfragen."
Ich wartete, bis er eine kurze Nachricht in eine Gruppe geschickt hatte. Dann fragte ich: „Und was ist mit Überwachungskameras? Gibt es sowas hier überhaupt?"
„Klar. Eigentlich auf jedem Flur. So einiges in diesen Räumen ist ziemlich wertvoll."
„Könntest du nicht die Aufnahmen davon benutzen? Da muss man schließlich sehen, wo sie hingegangen sind."
„Du überschätzt meine Fähigkeiten. So was", er wedelte ins Bild hinein, „schafft jeder Anfänger. Die Kameras auf den Fluren sind da eine ganz andere Liga."
Frustriert begann ich, mit meinem Ring herumzuspielen. So kamen wir nicht weiter. Irgendeinen Weg musste es doch geben, sie zu finden.
Eine Mitteilung erschien auf Alis Airscreen. Irgendjemand hatte auf seine Frage geantwortet. Leider hatte diese Person Matilde auch nicht gesehen.
„Das war wohl eine Niete", kommentierte Ali. Da stimmte ich ihm voll und ganz zu. „Lass uns noch eine halbe Stunde warten, ob noch jemand anders antwortet. Und dann sehen wir weiter."
Unwillig stimmte ich zu. Doch obwohl ich nur ungerne untätig hier herumsaß, sah ich ein, dass es die bessere Alternative war. Hier hatten wir immerhin eine Chance auf Erfolg. Wenn ich einfach ziellos durch das Gebäude rannte, weniger.
Ich ging durch das Bild hindurch und setzte mich zurück auf meine Sofalehne. Es war ärgerlich, dass die Sache mit den Überwachungskameras nicht funktionierte. Schon wieder trauerte ich Candices Fähigkeiten hinterher. Sollte ich vielleicht Jean anschreiben, ob er Candice fragen könnte, ob sie für mich ein paar Kameras hacken konnte? Bei meinem Glück war sie aber wahrscheinlich schon längst zurück in Linti und ohnehin nicht zu erreichen.
„Und, wie schlagen wir jetzt die Zeit tot?", fragte Ali, der das Kamerabild wieder geschlossen hatte.
„Raten, für was dein ganzes Zeug hier nützlich ist?", schlug ich halbherzig vor.
Obwohl ich es nicht erwartet hätte, ging die halbe Stunde ziemlich schnell herum. Es war unglaublich leicht, sich mit ihm zu unterhalten. Wenn uns die Themen ausgingen, fand er fast direkt wieder ein neues. Und er stellte keine Fragen, zum Beispiel zu der Bürotür und warum ich unbedingt zu Matilde musste. Als ich ihn danach fragte, sagte er nur, dass Unwissenheit in manchen Fällen das beste war. Wenn es etwas Wichtiges sein würde, würde ich es ihm schon erzählen.
Die Einstellung war erfrischend. Wäre Matilde nicht spurlos verschwunden, hätte ich auch noch stundenlang weiterreden können.
Als die halbe Stunde rum war, hatten wir allerdings lediglich schlechte Nachrichten gesammelt. Von Matilde gab es weiterhin keine Spur. Dafür hatten ein paar Leute von einem Einbruch in Florences Büro mitbekommen. Der Sekretär, John Andersen, war auf hundertachtzig. Eine Person schrieb sogar scherzhaft in die Gruppe, wenn jemand von ihnen dafür verantwortlich war, sollte er sich besser verstecken.
Und so kamen auch weitere Pläne zum Erliegen. Mit dem wütenden Sekretär wollte ich mich auf keinen Fall anlegen. Es war besser, hier zu warten, bis sich die Lage beruhigt hatte. Und wenn sie das nicht tat, würde ich eben in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus irgendeinem Fenster klettern und eigenständig zurück nach Edinburgh fahren. Oder zu Chaeng, falls Edinburgh zu offensichtlich war.
Ein paar Minuten versuchten Ali und ich, irgendeine neue Strategie zu entwickeln. Doch besonders weit kamen wir nicht, bis darauf, dass er Hunger hatte. Nun war er auf dem Weg in die Kantine. Er meinte, er würde mir ebenfalls etwas zu Essen mitbringen. Wie lang er brauchen würde, war allerdings unklar.
Da ich nicht bloß herumsitzen und nichts tun konnte, rief ich kurzerhand Chaeng an. Sie nahm wie erwartet direkt ab.
„Womit habe ich diesen unerwarteten Anruf verdient?", fragte sie anstelle einer Begrüßung.
„Chaos", sagte ich. „Du weißt nicht zufällig, wie man eine Person in einem fremden, riesigen Gebäude findet, wenn man selbst nicht weiß, ob sie überhaupt noch dort ist?"
„Oh. Und dann komme ich und ärgere mich über eine ausbleibende Einladung nach Alice Springs. Was ist passiert?"
Daraufhin erzählte ich ihr alles, was in der letzten Stunde geschehen war. Was ich mir erschlossen hatte bis zu dem Ergebnis von Alis unerwarteten Hacking-Fähigkeiten. Genau als ich endete, öffnete sich die Tür und letzterer kam beladen mit einem Haufen Fastfood hinein.
„Der Lieferservice ist wieder da. Mit wem redest du?"
Bei dem Anblick des Essens fing mein Magen an zu knurren. Das hatte man davon, wenn man zu faul war, sich Mittagessen zu besorgen. „Danke fürs Mitbringen! Das ist Chaeng, quasi meine beste Freundin." Ich schwenkte den Airscreen zur Tür. „Chaeng, das ist Ali."
Er winkte und ließ fast eine Packung frittierten Tofu fallen. Schnell legte ich den Airscreen zur Seite und half ihm, das Essen sicher auf einem halbwegs leeren Tisch auszubreiten.
„Ich glaube, ich hole mir gleich auch Essen. Auch wenn ich erst vor zwei Stunden gegessen habe", kam es vom Airscreen. „Ich kann ja nicht die einzige hier ohne Nervennahrung sein. Diese ganze Einbruchsgeschichte überleb ich sonst nicht."
„Du hast ihr alles erzählt?", fragte Ali.
Ich nickte. „Ich kenne sie, seit ich laufen kann. Wenn ich ihr nicht vertrauen könnte, wäre ich jetzt vermutlich schon in irgendeinem modrigen Keller in einem verlassenen Haus gelandet und elendig verhungert."
Ali zuckte die Achseln. „Wenn das so ist. Kann sie wenigstens die Kameras für uns hacken?"
„Ich kann's versuchen", kam es schwach aus dem Airscreen. Es raschelte und Chaeng erschien wieder im Bild, mit einem Teller Kimbap. „Aber da das letzte Mal total schiefgelaufen ist, gibt es keine Garantie."
Ich hielt mit einem Stück Tofu in der Hand inne. „Das letzte Mal?"
„Ich habe die letzten Wochen Erfahrung gesammelt. Die Geschichte muss ich dir irgendwann mal erzählen. Oder frag einfach Luis." Sie schob sich eine Rolle Kimbap in den Mund.
„Luis?" Ich schaute sie verwirrt an.
Sie nickte. „Er hat mir geholfen. Hat leider wenig am Endergebnis verändert", sagte sie, nachdem sie ihr Essen runtergeschluckt hatte.
Irgendetwas in meiner Brust zog sich unangenehm zusammen. Luis und Chaeng hatten zusammen an irgendeinem Hacking-Projekt gearbeitet. Was hatte ich noch alles verpasst?
„Also, würdest du es versuchen oder nicht?", meldete sich Ali zu Wort und ersparte mir so eine Reaktion.
„Ich könnte es probieren. Aber ich bezweifle, dass ihr das wollt. Es sei denn, das Ziel ist es, alle möglichen Alarme auszulösen."
„Okay, darauf können wir verzichten. Sonst irgendeine Idee?"
Leider kamen wir auf nichts. Es gab, außer herumzufragen, keine Möglichkeit, Neues über Matilde zu erfahren. Unsere Zeit verbrachten wir also hauptsächlich mit Essen und vergeblichem Brainstorming. Chaeng bot noch ein paar Mal ihre Hilfe an, allerdings ohne Erfolg. Das einzig Produktive war, dass Ali auch noch bei anderen Leuten nachfragte. Beziehungsweise nachfragen ließ. Er schien ziemlich gut in der Arthur-Versus-Gesellschaft vernetzt zu sein, dafür, dass er gar nicht hier sein wollte.
Irgendwann musste Chaeng jedoch weg und legte auf. Wenn ich das richtig verstanden hatte, hatte die Küchenhilfe anscheinend den Geist aufgegeben und ihr Vater brauchte ihre Hilfe. Sobald ihr Bild vom Display verschwunden war, lehnte sich Ali mit einem erleichterten Stöhnen zurück. Ich sah ihn fragend an. Er erwiderte den Blick.
„Du kannst doch nicht einfach ohne Vorwarnung bei der Kim Chaeyoung anrufen", sagte er leicht empört. „Ich habe den Schreck meines Lebens bekommen, als ich mit dem Essen hier reingekommen bin."
„Sie ist eine sehr gute Freundin, warum nicht?"
„Das ist wahrscheinlich für dich normal, aber ich rede nicht unbedingt jeden Tag mit jemandem, den man sonst nur über die Medien begegnet."
Irgendwo hatte er recht. Ich hatte schließlich auch schon zwei längere Gespräche mit Florence Southcliffe gehabt. „Ach, keine Sorge. Du bist nicht verkrampft rübergekommen und sie schien dich nicht unsympathisch zu finden."
Er strafte mich mit einem gespielt beleidigten Blick und ich musste glucksen. „Nein, wirklich. Wenn ihr irgendwas nicht gefallen hätte, hätte sie dir das ins Gesicht gesagt."
„Dann bin ich ja beruhigt, dass ich nicht zufällig einen Streit mit der Nichte des Präsidenten angefangen-"
Der Airscreen neben ihm vibrierte. Hoffnungsvoll blickte ich darauf und las die Nachricht. Sie stammte von Dee, welche wiederum die Dame am Empfang angeschrieben hatte. Matilde hat mit Vivie Dennoving vor zwei Stunden das Gebäude verlassen, schrieb Dee. Wohin genau, wollte ihr niemand sagen.
„Wer ist Vivie Dennoving?", fragte ich.
Ali schloss WhatsApp und öffnete Google. „Lass mich einmal kurz nachschauen."
Er tippte die Suchanfrage ein und das Bild einer brünetten, dünnlippigen Frau. Es war die, die zusammen mit dem Sekretär Matilde abgeholt hatten. Meine Finger schlossen sich fest um meinen eigenen Airscreen. Sie hatten das Gebäude verlassen, und somit konnte diese Vivie Dennoving Matilde sonst wo hingebracht haben. Unsere ohnehin schon geringen Chancen, sie zu finden, waren gerade dabei, im Sand zu verlaufen.
„Ich schaue nochmal nach, ob sie nicht vielleicht wieder erreichbar ist", sagte ich. Ich merkte jedoch schon, wie sich meine Hoffnung in Luft auflöste. Warum sollte sie ihren Airscreen wieder angeschaltet haben?
Ich behielt recht. Der Anruf führte mich nur zur Mailbox. Vorsichtshalber sah ich auch nochmal auf WhatsApp nach, doch auch dort waren meine Nachrichten nicht mal angekommen. Dafür sah ich eine neue Nachricht, die ich in dem ganzen Trubel ganz übersehen hatte. Sie stammte von Evyen.
Wir fahren nach Hause. Pack deine Sachen, ich bin in zwei Stunden am Empfang.
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