XXVIII | Wiedersehen

Vier wundervolle Tage lang konnte ich mich entspannen. Evyen hatte es irgendwie geschafft, Jade zu überzeugen und auch von der Cassidy-Front hörte ich nichts mehr. Ich verbrachte die Zeit mit dem Tagebuch, probierte neue Restaurants aus und ging immer mal wieder eine neue Runde durch Linti.

Es war anscheinend nicht nur Candice, die an den Plänen beteiligt war, sondern noch einige mehr. Die Stadt leerte sich von Tag zu Tag, bis ich das Gefühl hatte, alleine in einem Labyrinth gefangen zu sein. Kaum wer war mehr auf den Straßen, die Geschäfte waren noch leerer als sonst. Selbst Evyen hatte weniger Zeit, auch wenn ich sie ab und an traf. Sie meinte, sie wäre gerade dabei, bei Luanda nachzuforschen. Und so wurde meine Sehnsucht nach Edinburgh immer größer.

Aber als wäre das beklemmende Gefühl nicht schon genug gewesen, passierte erneut Ungewöhnliches in Rachels Leben. Ich lag gerade auf dem Bett und starrte gedankenlos an die Decke, als ihre Stimme sich plötzlich gequält und um einiges schwächer als sonst klang.

„Dritter Juni 160. Ich wollte eigentlich nur zum Hypothetik-Raum gehen, aber da hat mir die Treppe einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht. Um es klarzustellen, es war eine von diesen schmalstufigen Treppen, die, wo man immer Angst hat, im nächsten Moment runterzufallen. Und genau das ist passiert.

Gerade ist es vier Uhr, ich liege auf dem Sofa und mein Bein schmerzt höllisch. Eigentlich ist es auch viel zu früh für einen Eintrag, aber mir ist wirklich sehr langweilig. Selbst mein Airscreen ist nicht da, um mich abzulenken. Der ist nämlich auf der Treppe kaputtgegangen, und Dad ist eben erst los, um einen neuen zu besorgen.

Apropos Dad: Leider, leider haben sich seine überirdischen Defendergenes nicht vollständig an mich weitervererbt. Was bedeutet, dass mein Bein ewig brauchen wird, um zu heilen... Wäre er jetzt hier, würde er sagen, ich solle mich nicht beschweren. Und, dass es keine überirdischen, sondern nur präkalyptische Gene sind. Aber um ehrlich zu sein, interessiert mich das wenig, solange sie ihren Zweck erfüllen..."

Ich pausierte. Präkalyptische Defendergenes. Genau wie meine. Damit wäre geklärt, von wem ich die Immortalité-Gene geerbt hatte. Aber nicht nur ich hatte diese Gene. Sondern auch der Rest der Silvereyes. Was im Umkehrschluss bedeutete...

Ich sprang aus dem Bett und rannte förmlich zu einem der Bibliotheks-Computer. Dort suchte ich nach allen Arten von Büchern über die Goldeneyes-Experimente. Zu den Silvereyes fand ich leider nichts, dafür müsste ich mich wohl ins Archiv wagen.

Beladen mit einem Stapel unterschiedlichster Werke kehrte ich zurück in mein Zimmer. Ich holte mir noch was zum Schreiben, dann fing ich an. Ein Buch nach dem anderen blätterte ich durch und sammelte mir Informationen zusammen.

Es war schon spät, als ich meine magere Ausbeute betrachtete. Ich hatte herausgefunden, dass anfangs nicht alle Säuglinge überlebt hatten, am Ende schon. Irgendeine Erkenntnis stand zwischen diesen beiden Ereignissen. Diverse Wissenschaftsbücher vermuteten ebenfalls, dass die Kinder nach einem bestimmten Muster ausgesucht worden waren. Doch bis heute hatten sich keines gefunden.

Der Rest waren nur Randinformationen. Was für gemeinsame Gene die Kinder vor den Experimenten gehabt hatten, welche anderen Gemeinsamkeiten. Es gab auch unzählige Theorien, die das rätselhafte Auswahlkriterium umrissen. Doch nirgends fand ich, was ich suchte.

Kurzentschlossen schnappte ich mir eine Tasche, füllte sie mit den notwendigen Gegenständen und machte mich auf den Weg zur Bar. Mittlerweise sollte ich den Weg ins Archiv auswendig kennen.

Die Flure und Straßen waren vollständig ausgestorben. Es war erst elf Uhr, doch es war so leer, als wäre die Uhr um vier Stunden vorgestellt worden. Ich befürchtete schon, dass die Bar geschlossen hatte.

Zum Glück irrte ich mich dabei. Die leuchtenden Zeichen außen am Gebäude erhellten nach wie vor die Umgebung und das Schild im Fenster war auf „geöffnet" gedreht.

Im Innenraum war es genauso leer wie auf den Straßen. Zielstrebig ging ich auf die Toiletten zu und verschwand in der kleinen Abstellkammer. Noch während ich die Tür hinter mir schloss, zog ich meinen Airscreen hervor und hielt ihn an den Türknauf. Aber anstatt des gewohnten Klickens tat sich nichts. Irritiert hielt ich ihn einmal weg und wieder dran. Immer noch nichts.

Ich starrte ratlos auf die geschlossene Tür. Vor fünf Tagen hatte es doch noch funktioniert. Und das war immerhin kurz vor dem Stromausfall gewesen.

Plötzlich ging mir ein Licht auf. Der Stromausfall. Laut Candice gab es normalerweise keine Stromausfälle. Ob ich mich noch auf ihre Informationen verlassen konnte, war zwar fragwürdig, aber das machte Sinn. Was wäre, wenn irgendwas am Sicherheitssystem gewesen war? Vermutlich hatte sich Candices Extra-Einstellung dann in Luft aufgelöst.

Ich hockte mich auf eine noch geschlossene Kiste. Was sollte ich jetzt machen? Ich musste meine Theorie überprüfen, aber wie, wenn ich nicht ins Archiv kam? Mein Notfallplan war Evyen gewesen. Vielleicht sollte ich sie einmal anrufen. Sie war an den Silvereyes-Experimenten beteiligt gewesen, sie würde hoffentlich irgendwas wissen.

Schnell suchte ich ihre Nummer und drückte darauf. Nach drei Sekunden verband der Airscreen mich mit ihr.

„Hallo?", fragte sie. Im Hintergrund hörte ich irgendwelche unidentifizierbaren Geräusche.

„Störe ich gerade?"

„Ein bisschen, aber ist kein Problem. Was ist denn?"

Dann musste wohl ein neuer Plan her. „Wann hättest du denn ein bisschen länger Zeit?"

Sie schien kurz zu überlegen. „Übermorgen. Ich muss einmal kurz aus Linti heraus, aber dann sollte ich wieder da sein."

Ich kaute nachdenklich auf meine Unterlippe herum. Bis übermorgen hatte ich eine Menge Zeit zu füllen. Und wer wusste, ob Jade nicht wieder mit dem Training anfangen wollte, jetzt, wo Evyen weg war.

„Was musst du denn erledigen?"

„Die Überflutung. Ich glaube, ich weiß, wo sie das nächste Mal zuschlagen wollen."

Meine Augen weiteten sich. „Was? Wo denn?"

„Ich bin mir noch nicht zu hundert Prozent sicher, aber ein wahrscheinliches-"

Die Verbindung brach ab und ließ mich mit einem regelmäßigen Tuten zurück. Ich starrte auf das Display. Neu verbinden... Das war ja mal der größte Reinfall, den ich in den letzten Tagen erlebt hatte. Hätte diese Verbindung nicht ein paar Sekunden später abbrechen können?

Nach fünf Minuten und einigen weiteren Versuchen, Evyen zu erreichen, gab ich es auf. Was auch immer der Grund für die grottenschlechte Verbindung war, sie würde nicht besser werden.

Also blieb es bei Übermorgen. Vermutlich wäre es auch sinnvoller, bis dahin gar nichts zu unternehmen. Das Archiv konnte warten, bis ich mehr von Evyen wusste.

Eigentlich hätte ich die zwei Tage, die ich nun hatte, gerne produktiver genutzt. Wenn ich doch irgendeinen Weg ins Archiv finden würde, wäre jetzt der perfekte Zeitpunkt. Niemand war da, mir würde also keiner in die Quere kommen. Doch die Betonung lag auf würde. Ich hatte keine Ahnung, wie ich dorthin kam.

Am ehesten konnte ich es schaffen, den Hinterausgang der Küche in die Lagerhalle zu nehmen. Aber schon da kamen Probleme auf. Was, wenn jemand in der Küche war? Was, wenn man für den Hinterausgang auch eine Freigabe brauchte? Oder noch schlimmer, wenn jemand Candices Loch im Schacht gefunden hätte?

Unschlüssig saß ich da und wägte die Vor- und Nachteile ab. Die Aktion war riskant, es aber womöglich wert. Schließlich beschloss ich, es wenigstens einmal versuchen zu wollen. Viel zu verlieren gab es nicht.

Ich verließ den Abstellraum also wieder und ging zurück in den Hauptraum. Dort war immer noch nichts los. Vorsichtig warf ich einen Blick in die Küche. Auch komplett leer. Wo waren die ganzen Mitarbeiter hin? Warum hatte die Bar überhaupt noch offen, wenn ohnehin niemand hier war?

Mit schnellen Schritten durchquerte ich die Küche und drückte die Klinke der Hintertür hinunter. Sie öffnete sich nicht. Pech gehabt. Den Versuch war es aber wert gewesen. Vielleicht würde ich ja noch einen anderen Weg finden.

Schon während ich die Küche wieder verließ, waren meine Gedanken bei diesem Weg. Eventuell könnte ich es schaffen, zurück in die Lüftungsschächte zu kommen. Und von da aus musste es bestimmt auch einen Ausgang geben.

Ich war derart in meinen Überlegungen versunken, dass ich fast in eine Person reingelaufen wäre, die mitten im Raum stand. „'Tschuldigung", murmelte ich. Dann sah ich auf. Ich riss die Augen auf. Es war nicht nur irgendeine Person, in die ich hineingerannt war.

Es war David. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top