XXVI | Historisch betrachtet
Die nächsten Tage flogen an mir vorbei, jeder genauso alptraumhaft wie der nächste. Tagsüber quälte ich mich immer noch durch die Trainingsstunden, nachts erfuhren wir immer mehr Schockierendes. Nur der Morgen zwischen den Ausflügen ins Archiv und dem Training blieb mir, um mich zu entspannen. Dank dieser Stunden war ich schon um einiges weiter in Rachels Tagebuch gekommen.
Doch heute hatte Candice selbst diese Zeit beschlagnahmt. Sie hatte ihre handgeschriebenen Notizen auf meinem Bett ausgebreitet und brütete nun schon zehn Minuten über ihnen. Ich saß am Schreibtisch und las eine Nachricht von Matilde. Sie war schon seit vier Tagen bei der Versus-Gesellschaft und fand es super.
„Nel, ich glaube, ich hab es", kam es euphorisch vom Bett. Ich zog meinen Stuhl rüber und betrachtete die Unordnung, die Candice dort angerichtet hatte. Für mich ergab die Anordnung noch keinen Sinn.
„Was wäre, wenn diese Gegenorganisation von Linti gar keine Gegenorganisation zu den Silvereyes-Experimenten ist?" Sie sah mich gespannt an.
Ich sah irritiert zurück. „Wie genau meinst du das?"
Sie deutete überdeutlich auf das zentrale Blatt ihrer Anordnung. „Aliens. Was, wenn alle hier Außerirdische sind? Jade, Dr. Ning, alle anderen?"
Ich starrte sie verwundert an. Sie hatte recht. Das würde erklären, warum wir gerade hier auf die Informationen stießen.
„Das heißt, wir sind umgeben von Avirei, die ihre eigene Existenz in ihrem Archiv eingeschlossen haben. Warum sollten sie das tun?", wandte ich ein.
„Weil sie ein Abkommen mit den Weltregierungen hatten." Candice lächelte zufrieden.
„Und das weißt du woher?"
Sie tippte auf ein weiteres ihrer Blätter. „Das französische Buch, erinnerst du dich noch? Ich habe ein bisschen was durch den Google Übersetzer gejagt, und es war wirklich sehr aufschlussreich."
„Was war das überhaupt für ein Buch?"
„Sammlung von weltweiten Abkommen. Das erklärt, warum ich so wenig verstanden habe. Aber abgesehen davon passt alles, oder?"
„Hm", machte ich zustimmend und ging die Liste durch. Avirei konnten menschlich erscheinen, sie hatten enormes Wissen – beides passte. Auch wenn sich im Nachhinein herausgestellt hatte, dass sie nicht wirklich unsterblich waren. Wenn sie starben, konnten sie einen neuen Körper bilden, in den das Wissen einfach weitergegeben wurde. Ob man diesen Kreislauf auch unterbrechen konnte, wusste niemand.
„Nehmen wir mal an, unsere Vermutungen sind alle richtig", fuhr Candice fort. „Dann hätten wir eine Stadt mit Außerirdischen, die sich wegen irgendwas zusammengeschlossen haben. Die Sache mit den Silvereyes reicht nicht, da hätten auch genauso gut normale Menschen dran beteiligt sein können."
„Sind es ja auch. Evyen zum Beispiel", wandte ich ein.
Sie runzelte die Stirn. „Stimmt. Das ist natürlich ein Problem. Aber wenn man bedenkt, dass sie im Archiv war..."
„Du glaubst nicht ernsthaft, dass sie kein Mensch ist, oder?"
„Es spricht nichts dagegen und nichts dafür. Ich meine, wie viel weißt du wirklich über sie?"
„Genug." Mein Tonfall klang heftiger als gewollt. „Ich kenne ihre gesamte Familie, ihren Lebenslauf, ich lebe seit ich eins bin bei ihr."
„Das sagt gar nichts. Du weißt selber, dass die Avirei sich perfekt in unsere Gesellschaft einfügen können. Das gilt vermutlich auch für die Fortpflanzung."
„Ja, leider", rutschte es mir heraus. „Aber wenn das der Fall gewesen wäre, hätte ich es gemerkt." Wenn jemand sein Aussehen plötzlich veränderte, war das nichts, was man übersehen konnte.
„Wie das?", fragte Candice, plötzlich allzu neugierig. Am liebsten hätte ich mir auf die Zunge gebissen. Das war unbedacht gewesen.
„Keine Ahnung", sagte ich schnell. „Hofft das nicht jeder, dass man merkt, ob etwas an einer nahestehenden Person anders ist?"
Sie sah nicht wirklich überzeugt aus. Höchste Zeit, auf ein neues Thema zu kommen. „Lass uns aber lieber zurück auf Linti kommen. Was für einen Grund hätten die Avirei gehabt, sich hier zu versammeln? Die Weltherrschaft übernehmen?"
Candice schnaubte. „Sicher. Das klingt schon wie ein schlechter Science-Fiction Film. Und warum sollten sie die Weltherrschaft übernehmen wollen? Einfach weil sie die Menschheit für unterlegen halten?"
„Ist sie doch technisch gesehen auch. Die Aliens können ewig weiterleben, während unsere Lebenszeit begrenzt ist."
„Das reicht glaube ich noch nicht für die Weltherrschaft."
„Vielleicht schon. Aber dann ist natürlich auch die Frage, warum genau sie die Macht ergreifen wollten, wenn sie sich doch anfangs so gut mit den Menschen verstanden haben. Irgendwas hier macht keinen Sinn."
Candice stützte die Ellbogen aufs Bett und betrachtete erneut ihr Cluster aus Notizen. „Stimmt. Irgendwas passt hier nicht zusammen. Lass uns es mal historisch betrachten. Die Aliens sind ungefähr mit dem Sonnensturm am Ende der Technischen Katastrophe auf die Erde gekommen. Die Menschheit war also pures Chaos. Und wenn dann noch Außerirdische dazukommen, die Vorteile ihnen gegenüber besitzen, kommt noch mehr Chaos auf. Also macht es Sinn, dass die Regierungen es erstmal zurückhalten wollten."
„Nur, damit noch mehr Chaos aufkommt, wenn es ans Licht kommt, dass sie sich quasi gegen die Bevölkerung verschworen haben."
„Ja, auf die Dauer gesehen war es wohl nicht so schlau. Aber ich glaube, wenn deine eigenen Erfindungen dich eben noch umbringen wollten, ist es zu viel verlangt, auch noch langfristig zu denken. Jetzt ist natürlich die Frage, warum die Avirei auf den Deal eingehen sollten."
Eines der Bücher kam mir in Erinnerung. Ich hatte es gelesen, während Candice mit ihrem Airscreen herumgespielt hatte. Vermutlich was das dann der Zeitpunkt gewesen, an dem sie das französische Buch übersetzt hatte.
„Irgendwo habe ich gelesen, dass Avirei Körper nicht aus dem Nichts erschaffen können", sagte ich. „Sie brauchen Vorlagen. Zum Beispiel die Menschen."
„Das hast du mir noch gar nicht erzählt!", beschwerte sich Candice sofort.
Ich zuckte die Achseln. „Du hast mir auch nicht von deinem französischen Buch erzählt. Ich würde sagen, wir sind quitt."
Sie verzog den Mund, führte ihre Überlegungen aber weiter aus. „Gut, dann hatten die Avirei auch einen Nutzen an den Menschen. Aber damit wissen wir immer noch nicht, warum sie plötzlich die Weltherrschaft übernehmen wollen würden."
„Vielleicht wollen sie es ja auch nicht."
„Ja, vielleicht. Hier sind eindeutig zu viele Vielleichts." Sie gähnte. „Wir gehen morgen auf jeden Fall nochmal runter ins Archiv. Und dieses Mal suchen wir historische Informationen, keine allgemeinen. Allgemein weiß man so wenig, die Bücher wiederholen sich da doch alle nur noch."
Sie kehrte mit ihren Händen die Blätter zusammen und legte sie zurück auf einen ordentlichen Stapel. Diesen verstaute sie in ihrer Tasche.
„Ich gehe jetzt noch ein paar Stunden schlafen. Bis später dann!"
Ich winkte ihr zum Abschied zu und warf mich dann aufs Bett. Zu viele Fragezeichen schwirrten in meinem Kopf herum. Und selbst das Tagebuch konnte mich nicht von ihnen ablenken.
***
Die nächste Nacht fing an wie alle zuvor. Wir durchquerten die Bar, die Lagerräume und standen schließlich in einem der Aufzüge.
Candice hatte die Luke bereits geöffnet und wir warteten nur noch auf die nächste Nische. Mittlerweile wusste selbst ich, wann diese kommen würde.
„Heute ist Gang zehn an der Reihe", informierte mich Candice. „Ich hoffe stark, wir finden da irgendwas Neues."
Ich wollte ihr gerade zustimmen, als der Aufzug anhielt. Im selben Moment ging das Licht aus und komplette Dunkelheit hüllte uns ein. Das einzige Geräusch, das die Finsternis durchschnitt, war Candices genervte Stimme.
„Ich dachte eigentlich, du wärst klüger, als irgendwelche Knöpfe zu drücken."
Ich brauchte einen Moment, bis ich realisierte, dass sie mit mir redete. „Ich habe gar nichts gedrückt", verteidigte ich mich.
„Und wie erklärst du dir das hier dann?"
„Stromausfall?"
„Hier gibt es keinen Stromausfall. Entweder, du hast den Not-Aus Knopf gedrückt oder irgendetwas läuft in der gesamten Stadt gewaltig schief."
Ich schlang die Arme um meinen Körper. „Und was jetzt?"
„Nun, irgendwie müssen wir hier wieder rauskommen." Sie schaltete ihren Airscreen an und leuchtete auf die Luke. Unter ihr befand sich nur braunschwarzer Boden, keine Nische. Entschlossen drückte sie mir das Gerät in die Hand und starrte konzentriert durch das Loch.
Obwohl ich zu gerne gefragt hatte, was sie da gerade machte, wollte ich sie nicht stören. Ohne sie war ich ohnehin hoffnungslos verloren in den Geheimwegen dieser Stadt. Irgendeinen Plan musste sie haben. Doch trotzdem wurde meine Brust enger, während mehrere Sekunden nichts passierte.
Dann endlich zerbröselte der Boden und gab einen Eingang zu einem Schacht frei. Ich hätte schwören können, dass es außerdem kurzzeitig heller geworden war. Aber das hatte ich mir vermutlich eher eingebildet. Als ich nämlich ausversehen den Airscreen abschaltete, war es genauso stockfinster wie zuvor.
Ungeduldig nahm Candice den Airscreen wieder an sich und machte sich daran, in den Schacht zu klettern. Sie bedeutete mir, ihr zu folgen.
„Was ist das hier?", fragte ich, während wir durch den engen Tunnel krochen. Der raue Boden zerrte an dem Stoff meiner Hose und ich stieß mir gleich zweimal den Kopf an.
„Uralte Lüftungsschächte", kam es zurück, ihre Stimme an der Wand entlanghallend. „Sie wurden allerdings nie zum Lüften benutzt, sondern eher als Wege für den Notfall gebaut. Vermutlich, damit man sich wie in einem Action-Roman fühlen kann."
„Woher weißt du dann davon?"
„Wie du siehst, kenne ich so einige Wege."
„Dann weißt du doch bestimmt auch, wo sie hinführen, oder?"
„Wirst du früh genug erfahren."
Es war klar, dass sie nicht darüber reden wollte. Ich spürte, dass sie diese Schächte am liebsten für sich behalten hätte. Nur gab es jetzt dummerweise keine Alternative. Ich war heilfroh, dass ich keine Platzangst hatte, so eng, wie sie gebaut waren.
„Eine Frage noch, dann lasse ich dich in Ruhe", startete ich einen letzten Versuch. Candice grummelte zustimmend.
„Du hast den Boden mit deinen Kräften zerstört, oder?"
Ich hörte sie vor mir seufzen. „Ja. Und bevor du fragst, mein Auslöser sind Ringformen und meine Nebenwirkungen Strahlung. Sonst noch was?"
Obwohl ich liebend gerne weiter nachgehakt hätte, riss ich mich zusammen. Vorerst reichte es zu wissen, dass ich mir das Licht vorhin wohl doch nicht eingebildet hatte. Ein winziges Bisschen Eifersucht flammte in mir auf, als ich über ihre und meine Nebenwirkung nachdachte. Ich hätte die Hitze liebend gern gegen ihr Leuchten eingetauscht.
Schweigend krochen wir durch die Gänge, bis Candice plötzlich anhielt. Ihr Körper begann leicht zu glühen. Mehrere Sekunden später zerbrach die Wand neben ihr und gab eine kleine Öffnung frei, groß genug, dass wir gerade so durchpassten. Ich krabbelte ihr hinterher ins Freie. Wie es aussah, öffnete der Lüftungsschacht unmittelbar über dem Boden unter einem Schreibtisch.
Als ich endlich stand, war Candice schon dabei, sich umzuschauen. Ihre langen Zöpfe schimmerten mitternachtsblau in dem schwachen Licht ihres Airscreens. Ich schaltete meinen ebenfalls an und tippte auf die Taschenlampenfunktion. Der Raum erhellte sich um einiges.
Neugierig verschaffte ich mir ebenfalls einen Überblick. Der Raum war groß und vollgestopft, hatte aber anders als Dr. Nings Büro keine Fenster. Im Zentrum stand ein großer ovaler Tisch, neben dem der Schreibtisch an der Wand winzig wirkte. Hätte der Raum nicht diese verlassene Aura an sich gehabt, hätte er sogar gemütlich gewirkt.
Ziellos leuchtete ich auf einen Haufen Blätter auf dem Schreibtisch. Ganz oben lag ein Brief, der an eine Cassidy adressiert war. Ich nahm ihn hoch und drehte ihn einmal in den Händen. Er war mit einem Wachssiegel verschlossen.
„Wo sind wir eigentlich?", fragte ich.
„Ich habe keine Ahnung. Sieht aus wie ein Büro, das jemand zu einer Abstellkammer umfunktioniert hat", sagte Candice und fuhr unbehelligt mit ihren Erkundungen fort.
Sie hatte also einfach auf gut Glück geschaut, ob hier ein Raum war. Und hatte direkt einen Treffer gelandet. Das war schwer zu glauben. Aber sie hatte schließlich auch von den Lüftungsschächten gewusst. Wahrscheinlich wollte sie es mir nur nicht auf die Nase binden.
Ich betrachtete den Brief erneut. „Sagt dir der Name Cassidy etwas?"
Wie in Zeitlupe drehte sie sich zu mir um. Ihr Gesicht spiegelte eine Mischung auf Aufregung und Überraschung wider. „Cassidy? Warum?"
„Hier lag so ein Brief."
Mit wenigen Schritten war sie bei mir und nahm mir den Brief aus der Hand. Sie musterte ihn von allen Seiten, bis sie schließlich ohne Vorwarnung das Siegel brach. Unwillkürlich zuckte ich zusammen.
Während sie las, sah ich mich weiter auf dem Schreibtisch um. Es lag haufenweise Papier herum, untypisch für unsere Zeit. Ich blätterte kurz durch ein paar der Seiten, doch die Schrift war winzig und die Seiten eng beschrieben. Es würde eine Viertelstunde dauern, bis ich eine davon durch hatte.
Einen Airscreen fand ich nach einer Minute ebenfalls. Ich zögerte kurz, ob ich ihn anschalten sollte. Dann entschied ich mich, auf die Nummer sicher zu gehen und es nicht zu tun. Wer wusste schon, was für einen Alarm ich damit auslösen würde.
Stattdessen suchte ich den Lichtschalter und betätigte diesen. Ohne Erfolg. Es schien wirklich einen Stromausfall zu geben. Und wenn die Systeme der Stadt lahmgelegt waren, vielleicht war es auch der Alarm. Aber bevor ich überhaupt in die Nähe des Airscreens kam, sah ich Candice aus dem Augenwinkel den Brief zurück in den Umschlag stecken.
„Kann ich mir ihn auch mal anschauen?", erkundigte ich mich.
Ihre Hand schloss sich fester um das Papier. Doch dann reichte sie mir den Umschlag mit dem Brief. Gespannt holte ich letzteren heraus und faltete ihn auf. In der ersten Zeile sprang mir der Name erneut entgegen. Cassidy.
„Wer ist sie?"
Candice widmete sich wieder den Haufen, die sich vor einem kleinen Regal an der Wand stapelten. „Eine gute Freundin von Dr. Ning. Angeblich sollen die beiden sogar ein Paar sein, aber so genau weiß man das nicht. Ich habe sie jedenfalls noch nie in meinem Leben gesehen. Und das, obwohl ich schon einige Jahre hier bin."
Eine mysteriöse Persönlichkeit also. Meine Augen flogen über die Buchstaben. Zuerst erzählte der Absender, Dr. Ning höchstpersönlich, wie ich nach einem kurzen Blick in die letzte Zeile feststellen konnte, von unbekannten Leuten. Doch im letzten Absatz erklärte er, dass es bei der Operation Luanda gut voranging. Bei der Erwähnung der afrikanischen Stadt klingelte etwas in meinen Erinnerungen. Mein Blick fuhr nach oben, zum Datum. Gestern.
Mit einem beklommenen Gefühl las ich weiter. Er erzählte etwas von ausbleibenden öffentlichen Reaktionen des Weltkongresses. Und er wollte noch fünf Tage warten, bevor sie ihre nächsten Schritte planen würden.
Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Es klang ganz danach, als hätte Dr. Ning zusammen mit dieser Cassidy die Überflutung auf Luanda geplant. Als steckten sie dahinter. Ich wusste nicht, warum sie das hätten machen sollen, was ihr Motiv dafür war, eine gesamte Stadt zu überschwemmen. Doch was ich bereits ahnte, war, dass Dr. Ning dazu fähig gewesen wäre, so etwas zu inszenieren. Und, dass es extrem beunruhigend war, dass wir so ein Dokument einfach so gefunden hatten.
„Wir sollten eigentlich nicht hier sein, oder?", fragte ich in die lauernde Stille hinein.
Auch sie mit dem Rücken zu mir stand, konnte ich Candices Augenrollen förmlich vor mir sehen. „Wir hätten auch nicht im Archiv sein sollen. Oder die Lageraufzügen benutzen sollen. Oder in alten Lüftungsschächten herumkriechen sollen. Such dir eins aus."
„Stimmt. Aber was, wenn diese Cassidy jetzt reinkommt?"
„Wird sie nicht. Jetzt gerade werden alle mit dem Stromausfall beschäftigt sein."
„Und wenn sie paranoid genug ist, wird ihr genau das einen Grund liefern, hier vorbeizuschauen."
„Sie ist nicht paranoid. Glaub mir, sie könnte ein bisschen gesunde Paranoia gut gebrauchen."
Ich blinzelte erstaunt. „Ich dachte, du kennst sie nicht?"
„Ich habe sie noch nie gesehen", korrigierte mich Candice. „Ich habe aber schon einiges über sie gehört. Mehr als genug, um mir ein recht vollständiges Bild ihrer Persönlichkeit zu machen."
„Okay, das klingt plausibel", musste ich einlenken. „Aber was ist mit dem gebrochenen Siegel? Wenn sie die nächsten Tage wieder herkommt, wird sie bemerken, dass jemand hier war."
Candice seufzte tief. „Das wird sie auf jeden Fall. Das Loch unter dem Schreibtisch schon vergessen? Zu bekommen wir das nicht wieder. Und wenn wir dann schonmal hier sind, können wir auch so viele Informationen wie möglich mitnehmen."
Ich begann, mit einer Ecke des Briefpapiers herumzuspielen. Wie kam es, dass Candice auf jeden meiner Einwände eine gute Erwiderung parat hatte? Dass sie an jedes Detail dachte? So viel Vorbereitung und Mitdenken konnte man schlecht auf bloße Erfahrung schieben. Selbst wenn man sie in einen Tresorraum im tiefsten Keller Lintis sperren würde, würde sie vermutlich einen Weg nach draußen finden. Und wenn sie dafür die gesamte Stadt in Schutt und Asche legen würde.
„Bist du eigentlich schon mit Lesen fertig?", fragte sie.
„Ja. Die Sache mit Luanda... Sie haben die Stadt überflutet, oder?"
Eine kurze Zeit herrschte Stille. „Sieht so aus", sagte Candice schließlich.
„Und wenn sich in fünf Tagen nichts Neues seitens des Kongresses tut, wollen sie sich die nächste Stadt vornehmen."
„Kann gut sein. Oder aber sie planen etwas anderes. Wir könnten vermutlich mehr mit den Informationen anfangen, wenn wir wenigstens das Motiv hinter der Überflutung hätten."
Da musste ich ihr zustimmen. „Vielleicht hängt es ja mit der Alien-Sache zusammen."
„Das würde bedeuten, wenn wir das Motiv von Dr. Ning finden, finden wir auch das für die Weltherrschaft. Interessante Theorie."
Sie warf einen kurzen Blick auf ihren Airscreen und kam dann rüber zu mir. „So gerne ich auch bleiben und alles durchsuchen würde, wir sollten nicht allzu lange hierbleiben. Du könntest schon recht haben, dass Cassidy jederzeit zurückkommen könnte."
Damit war es beschlossen. Gleichzeitig als sich Candice durch das Loch unter dem Schreibtisch zwängte, griff ich nach einem kleinen Schlüssel und steckte ihn blitzschnell ein. Sie hatte ebenfalls recht. Wir mussten diese Situation ausnutzen und mit ein bisschen Glück würde Cassidy erst spät merken, dass etwas fehlte.
Der Weg zurück stellte sich als langsam und langwierig heraus. Insgesamt brauchten wir über eine Stunde, bis wir im Wohnbereich angekommen waren. Die Stromprobleme schienen mittlerweile behoben worden zu sein.
Bevor sich unsere Wege allerdings trennten, hielt mich Candice zurück. „Was ich dir noch sagen wollte: Ich bin die nächsten Tage nicht da. Mach also bitte nichts Unüberlegtes, okay? Wenn ich wieder zurück bin, gehen wir nochmal ins Archiv."
Ihre letzten Worte bekam ich beinahe nicht mehr mit. Die davor hatten in meinem Kopf etwas ausgelöst, das nun alle Zahnräder gleichzeitig in Bewegung setzte.
„Du wusstest davon", stellte ich fest, ruhiger als gedacht.
„Warte, was?", kam es irritiert zurück.
„Luanda. Du wusstest bereits von der Überschwemmung. Weil du selber geholfen hast, die Pläne umzusetzen."
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