XXV | Avire
Ich nahm das Buch und blickte auf die Seite.
Das Volk von Avire
Population: ca. 1000
Ursprung: Avire (DO149c)
Ich starrte auf die Buchstaben, als würden sie mich belügen. Doch es stand dort, schwarz auf weiß. Es gab Aliens. Zwanghaft versuchte mein Gehirn, sich einen Reim darauf zu machen. Rachels avireisches Erbe. Ihr außerirdisches Erbe.
„Lies weiter", sagte Candice. „Das beste kommt erst noch."
Wie ferngesteuert setzte mein Blick seinen Weg fort.
Das Volk von Avire, auch Avirei genannt, ist eine außerirdische Spezies. Sie stammt von DO149c, von Angehörigen des Volkes als Avire (siehe Richard Wu, „Die Dunkelheit von Avire", Science-Fiction Roman, 2130 n.Chr.) bezeichnet. Obwohl sie lediglich in menschlicher Form auf der Erde leben, sind sie keine der solchen. Typische Unterscheidungsmerkmale sind Unsterblichkeit und unendliches Wissen. Die Avirei leben über die gesamte Erde verstreut.
Fast wäre mir das Buch aus der Hand gerutscht. Es waren nicht nur Aliens, sie lebten anscheinend auch mitten unter uns. Ich blätterte nach vorne, bis ich das Erscheinungsdatum gefunden hatte. Und beinahe hätte ich es wieder fallengelassen.
Es war vor zweihundertfünfzig Jahren erschienen. Zweihundertfünfzig Jahre, in denen außerirdisches Leben sich auf der Erde eingenistet hatte. Und keiner hatte es gewusst, weil das Wissen dazu hier unten vergammelte.
Das war definitiv zu viel für eine Nacht. Ich sah mich um, doch Candice war verschwunden. Ein heiß-kalter Schauder lief mir über den Rücken, als ich an ihre Warnung dachte. War sie wirklich einfach abgehauen, nachdem sie meine Spur ausgenutzt hatte?
Dann kam sie aber hinter einem Regal hervor. „Komm mal hier rüber, da ist das nächste Buch."
Immer noch wie in Schockstarre stellte ich Über Völker weg und ging zu ihr. Sie las bereits in einem weiteren Buch. Es war auf Französisch verfasst und selbst wenn ich wollte, ich konnte die Wörter nicht entziffern. Candice konnte das anscheinend allerdings schon.
Erst nach einer Ewigkeit sah sie von den Seiten auf. „Das Buch ist diesmal von vor fünfzig Jahren. Es hat definitiv ein paar interessante Informationen, aber die meisten verstehe ich mit meinem Französisch nicht."
„Interessant?" Ich verstand nicht, wie sie so ruhig bleiben konnte. Es war nicht nur irgendwas, was wir hier entdeckt hatten. Es war ein derart behütetes Geheimnis, dass es in mehreren Jahrhunderten niemand mitbekommen hatte. Das die Kraft hatte, unsere heutige Welt aus den Angeln zu heben.
„Hm", machte sie abgelenkt. „Aber an der Sache mit den Aliens scheint definitiv etwas dran zu sein."
„Du glaubst es also."
„Klar glaube ich es. Es könnte theoretisch auch eine Verschwörungstheorie sein. Aber warum alle Bücher dann in den Keller des Archivs stecken? Warum so ein Geheimnis daraus machen?"
Damit hatte sie wohl recht. Doch ein letztes Bisschen meines Misstrauens blieb.
„Also, was machen wir jetzt? Die Presse einschalten und die Story brühwarm erzählen?"
Sie hob die Augenbrauen. „Wenn du das für richtig hältst. Ich hätte aber eher daran gedacht, wir warten erstmal ab und suchen nach noch mehr Informationen. Irgendeinen Grund muss es geben, dass die Aliens geheim gehalten wurden."
„Und diesen Grund kennst du zufällig schon", rutschte es mir heraus. Sofort wurde ich rot.
Candices Augen weiteten sich. „Wie kommst du denn darauf?"
„Du bist so... gefasst", versuchte ich zu erklären. „Als hättest du damit gerechnet."
„Glaub mir, bin ich nicht. Ich verdränge unangenehme Gedanken und Gefühle nur gerne." Sie lächelte gequält, sah dann auf ihren Airscreen. „Lass uns weitergehen und ein paar andere Bücher durchsuchen."
Am liebsten hätte ich ihr entgegengeschmissen, was sonst noch alles seltsam an ihr war. Angefangen damit, dass sie den Weg in ein verborgenes Stockwerk eines nicht zugänglichen Archivs einer vergessenen Stadt kannte. Aber ich verkniff es mir und folgte ihr. Sie war die einzige Chance, mehr herauszufinden. Alleine würde ich nämlich nicht wieder hier reinkommen.
Als wir vor dem Regal mit dem nächsten Buch standen, verharrte Candice plötzlich auf der Stelle. Ich wollte zu einer Frage ansetzen, doch sie legte den Finger auf die Lippen. Gemeinsam lauschten wir in die Stille. Ich hörte nichts außer unsere Atemzüge.
„Wir müssen hier weg", sagte Candice ein paar Sekunden später. Sie ließ das Buch unbeachtet im Regal stehen und lief schnell zurück zu der Wendeltreppe.
„Was ist passiert?", fragte ich, während ich die Stufen hinaufstieg.
„Jemand ist auf dem Weg hierhin. Wir haben noch etwa zwei Minuten."
Ich dachte daran, wie lange wir von dem Computer bis zu diesem Eingang gebraucht hatten. „Das reicht nicht."
„Ist mir durchaus bewusst."
Die Tür schwang inklusive Bücherregal auf und wir verließen den versteckten Raum. Mit hastigen Griffen schloss Candice ihn wieder. Dann führte sie mich in das Labyrinth aus Regalen hinein.
„Und was jetzt? Wir werden hier so schnell nicht rauskommen", sagte ich, während ich mich bemühte, ihrem schnellen Zickzackkurs zu folgen.
„Hoffen wir aufs Beste."
„Das ist extrem leichtsinnig, wir brauchen einen Plan!"
„Genauso leichtsinnig ist, es hier rumzuschreien."
„Weißt du wenigstens, wo diese Person ins Archiv gekommen ist?", flüsterte ich. Wenn wir Glück hatten, war das am anderen Ende, und wir wären schon über alle Berge, wenn sie hier vorbeikam.
„Nein, so ausgereift ist mein Frühwarnsystem nicht. Ich hätte es in den letzten Monaten nicht so vernachlässigen sollen."
„Frühwarnsystem?"
„Ja. Funktioniert leider nur grob für die Haupteingänge. Und jetzt bitte Ruhe. Ich muss nicht unangenehm überrascht werden."
Mir lagen noch etliche weitere Fragen auf der Zunge. Aber die schluckte ich hinunter. Mal wieder hatte sie recht. Ich konnte froh sein, dass sie überhaupt so ein Frühwarnsystem hatte.
Wir waren schon auf der Hälfte des Weges zum inoffiziellen Ausgang, als Candice mich hinter eines der Regale zog. Sie deutete auf den Gang. Ich sah sie verwirrt an, blieb jedoch leise. Die Situation erinnerte mich sehr an die mit dem Frühwarnsystem. Gab es noch ein zweites davon? Oder hatte sie etwas gehört, das ich nicht wahrgenommen hatte?
Wenige Herzschläge später hörte ich die Schritte schließlich auch. Sie waren laut und klackernd. Ich erstarrte wie zu Eis, wagte es nicht, auch nur einen Mucks von mir zu geben. Im Stillen dankte ich Candices Reflexen, die uns womöglich vor schlimmerem bewahrt hatten.
Durch das Echo war es schwer, die Schritte zu lokalisieren. Erst ein paar Sekunden bevor die Person an unserem Regal vorbeiging, bemerkte ich, wo genau sie vorbeilaufen würde.
Dann war der Moment gekommen. Und dieses Mal musste ich mich wirklich zwingen, nicht ein überraschtes Geräusch von mir zu geben. Wir hatten zwar Glück, und die Frau bemerkte uns nicht. Doch dass gerade Evyen an uns vorbeieilte, als hätte sie nie etwas anderes gemacht, ließ mein Herz rasen.
Was zur Hölle machte sie hier? Es war gut möglich, dass sie ähnliche Ziele wie wir verfolgte. Aber andererseits hatte sie den Haupteingang benutzt. Wenn sie nicht gerade über Nacht zu einer Meisterhackerin geworden war, ließ sich das schwer erklären. Es sei denn natürlich, sie hatte Hilfe, genau wie ich.
Ich merkte, wie ich immer mehr in eine Spirale aus toxischen Gedanken rutschte. Wie ich Erklärungen suchte, die in mein eigenes Weltbild passten. Stattdessen konzentrierte ich mich also auf meinen Atem. Die Schritte verhallten im Hintergrund.
Wir verharrten noch mehrere Minuten auf der Stelle, bis Candice sich wieder entspannte.
„Jetzt raus hier", raunte sie mir zu.
So leise es ging, hetzten wir die Gänge entlang. Ein Regal reihte sich ans nächste, ein endloser Fluss an funkelnden Büchern. Dann waren wir endlich angekommen und Candice zog die Tür sanft hinter uns ins Schloss.
„Das war knapp", kommentierte sie. Ich war nur in der Lage zu nicken. Mein Herz hatte sich immer noch nicht beruhigt. Doch sie musste natürlich direkt das Thema ansprechen, worüber ich am wenigsten reden wollte.
„Sag mal, irre ich mich, oder war das eben Evyen?"
„War es", sagte ich.
„Das macht keinen Sinn."
Darauf war ich auch schon gekommen. Aber ich hatte wirklich nicht die Energie, mich jetzt über Evyen und ihre möglichen Motive zu unterhalten. „Können wir das bitte auf später verlegen? Ich bin gerade nicht..."
„Alles gut, natürlich", unterbrach sie mich, bevor ich meinen Satz beenden musste. „Wir haben ohnehin wichtigeres zu besprechen. Aliens. Hättest du das gedacht?"
Ich schüttelte den Kopf. Sie ließ nachdenklich den Blick schweifen.
„Ich auch nicht. Ich meine, ich kenne die Verschwörungstheorien. Wer tut das nicht. Gerade jetzt mit dem Trubel um Alina Isavi. Aber das hier ist mit Verschwörungstheorien nicht zu vergleichen. Obwohl es eigentlich auch eine Art Verschwörung ist."
Ich hörte ihr zu, ohne selber etwas beizusteuern. Es war angenehm, sich mit anderen Gedanken als den eigenen berieseln zu lassen.
„Also, zum Plan", sagte sie. „Morgen Treffen um dieselbe Zeit wie immer in der Bar. Ich wette, da steckt noch einiges mehr hinter als die bloße Existenz von intelligentem außerirdischem Leben. Bis dahin kein Wort zu niemandem. Ach ja, und nimm am besten Papier und Stifte mit."
„Wozu das?", hakte ich nun doch nach.
„Zur Sicherheit. Sollten wir auffliegen und sie finden die Zettel nicht, wissen sie nicht, wie viel wir herausgefunden haben."
Das war ein kluger Schachzug. Da hätte ich auch drauf kommen können, dass die Airscreens für solche Angelegenheiten zu unsicher waren. Ich stimmte ihrem Plan zu und wir machten und auf den Weg zurück. Anders als der durchs Archiv verlief er ohne weitere Störungen.
***
Alleine in meinem Zimmer setzte ich Candices Idee direkt um und suchte nach etwas zum Schreiben. Für den Anfang notierte ich alles, was ich wusste. Außerirdische, zweihundertfünfzig Jahre, menschenähnlich, unsterblich und allwissend. Außerdem fügte ich noch Rachels Kräfte, das avireische Erbe hinzu.
Auf der Stelle fielen mir mögliche Verbindungen auf. Erbe bedeutete, es musste vererbt werden. Das passte, wenn die Avirei aussahen wir Menschen, konnten sie sich womöglich auch auf gleiche Weise fortpflanzen. Und das wiederum würde heißen, Rachel hatte ihre seltsamen Kräfte von ihnen.
Nervös tippte ich mit dem Stift auf den Schreibtisch. Bedeutete das nicht auch, dass ich ebenfalls avireisches Blut hatte? Dass ich von Außerirdischen abstammte und es mir noch niemand gesagt hatte?
Nahtlos gingen meine Gedanken über zu Evyen. Wenn sie das Tagebuch gehört hatte, musste sie davon gewusst haben. Und sie hatte nie ein Wort darüber erwähnt. Konnte das eventuell mit ihrem Besuch des Archivs zusammenhängen?
Je mehr ich darüber nachdachte, desto düsterer wurden meine Gedanken. Ich hatte mich gerade damit abgefunden, dass plötzlich mein Leben auf dem Kopf stand. Ich hatte mich selbst damit abgefunden, dass Evyen mich jahrelang unter Drogen gesetzt und mich nun in eine antike Höhlenstadt geschleppt hatte. Doch nun befand ich mich wieder mitten in einem Chaos aus Rätseln. Ich hätte das Tagebuch nie anfangen dürfen.
Stattdessen hockte ich immer noch in dieser Stadt, mit nichts als künstlichem Licht und undurchsichtigen Bewohnern. Ich hatte meine Kräfte immer noch nicht unter Kontrolle, wusste immer noch nicht, was genau mit den Aliens los war und was Candice, Evyen und Florence Southcliffe für ein Spiel spielten. Es gab Spielregeln hier, die ich noch lange nicht verstand.
Ich stand auf und rollte mich auf meinem Bett zusammen. Welches genau genommen gar nicht meins war. Dann drückte ich auf den Play-Knopf des CD-Spielers, welcher ebenfalls nicht mir gehörte. Und die nächsten Stunden hörte ich mir Ausschnitte eines Lebens an, das auch nicht meines war.
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