XXIV | Suche

Ich gab mir drei Tage. Drei Tage, in denen die nun sechzehnjährige Rachel nicht besonders viel tat. Sie erzählte von nervigen Lehrern, riskanten Aktionen für Emilias Hilfe und wie sie und Keith sich so zerstritten, dass sie einen Monat nicht mehr miteinander redeten. Über ihre Fähigkeiten verlor sie jedoch kein weiteres Wort.

Beim Training am dritten Tag hatte ich noch größere Schwierigkeiten als sonst. Ich war kaum fokussiert, meine Gedanken schweiften immer wieder zu dem Leben meiner Mutter ab. Als Candice nach einem weiteren misslungenen Glasball fragte, wie es mir ging, kam ich in die Versuchung, sie nach Rachels Kräften zu fragen. Doch unter Jades enttäuschtem Blick ließ ich es lieber sein. Es ging die beiden nichts an und ich sollte mich lieber auf meine eigenen Probleme konzentrieren. Grübeln konnte ich später.

Dieses Später verschob sich allerdings immer weiter in den Tag hinein. Nach dem Training beschloss Candice nämlich, mich unbedingt zurück begleiten zu wollen. Die Hälfte des Weges legten wir schweigend zurück.

„Heute lief ja nicht sonderlich gut", sagte Candice irgendwann. „War alles okay bei dir?"

„Ja", log ich. „Ich war nur ein bisschen müde, das ist alles. Ich habe gestern nicht sonderlich gut geschlafen."

Sie sah mich leicht misstrauisch an, als würde sie mir kein Wort abnehmen. „Wenn du meinst. Dann würde ich sagen, schlaf einfach in nächster Zeit mehr."

Ich gab keine Antwort darauf. Länger schlafen war grundsätzlich keine schlechte Idee – nur wusste ich nicht, wie ich sie umsetzen sollte. Die Alpträume machten keine Nacht Pause, und wenn ich einmal aufgewacht war, gab es keinen Weg zurück. Zu dem anstrengenden Training und Schlaf stellte das Tagebuch eine gute Abwechslung dar. So konnte ich wenigstens eine Zeit lang so tun, als würden meine eigenen Probleme nicht existieren.

„Wie steht es eigentlich mit den Büchern?", fragte Candice wie aus dem Nichts.

Ich schreckte auf. Woher wusste sie von den drei Büchern, die ich mir ausgeliehen hatte? Doch dann realisierte ich, dass sie vermutlich ihre eigenen Stapel meinte.

„Semi-gut", gab ich zu. Es hatte keinen Zweck, ihr hier etwas vorzumachen. „Ich habe mit Hamlet angefangen und bisher war es noch nicht so spannend. Aber das kann ja noch kommen, ich bin schließlich noch nicht so weit."

„Sehe ich genauso. Du hast ja auch direkt mit einem der schwersten Bücher angefangen. Ich muss zugeben, ich habe dafür auch bestimmt einen Monat zum Lesen gebraucht. Aber es lohnt sich."

„Hm."

„Heute nicht so gesprächig, oder? Ist nicht schlimm, ich bin auch müde. Dann lass ich dich besser mal in Ruhe Schlaf nachholen."

„Ja, bis morgen." Ich winkte ihr noch zu und bog dann in den Flur meines Zimmers ab.

Ich stellte den Wecker auf zehn vor eins, für den Fall, dass ich heute tatsächlich besser als sonst schlafen würde. Dann ging ich kurz ins Bad und legte mich danach hin. Der Entschluss, diese Nacht das Rätsel um Rachels Fähigkeiten zu lüften, war mein letzter Gedanke, bevor ich einschlief.

***

Pünktlich um ein Uhr verließ ich das Zimmer. Auf den Fluren vor den Wohnräumen war niemand zu sehen, die Straßen von Linti ebenfalls verlassen. Auf dem Weg zur Bar begegnete mir lediglich eine Person.

Auch die Bar war leer, und ich ging auf direktem Weg zu den Toiletten. Einen kurzen Blick um mich herum. Niemand war da, Stille lag über dem Flur. Schnell schlüpfte ich durch die Tür in den überfüllten Abstellraum.

Dieses Mal scannte ich den Raum kurz. Jede Menge Putzzeug, sowohl für Roboter als auch für manuelle Anwendung. Das brachte mich auf eine Idee. Ich griff nach einem kleinen Eimer und einem Schwamm und feuchtete ihn leicht an. Dann schmiss ich ihn in den Eimer. Ich wusste nicht, ob es authentisch wirkte, aber besser eine schlechte Ausrede als gar keine.

Bewaffnet mit meiner neuen Ausrüstung machte ich mich auf den Weg in den Aufzugraum. Durch die Hintertür war ich mit meiner Freigabe für den Keller problemlos gelangt. Auch den Weg zu den Anlieferungsaufzügen fand ich problemlos. Und zwei Minuten später schlossen sich die Aufzugstüren hinter mir.

Sofort stellte ich den Eimer ab und kniete mich auf den Boden. Irgendwo hier musste die Luke sein. Hektisch fuhren meine Finger über den glatten Kunststoff, bis ich den quadratischen Umriss des Ausgangs ausmachen konnte. Den Öffnungsmechanismus fand ich ebenfalls fast direkt. Doch als ich an dem Griff zog, stieß ich auf Widerstand. Ich versuchte es nochmal. Wieder passierte nichts.

Mir wurde immer heißer, mein Atem beschleunigte sich. Was, wenn ich zu schwach war? Die Luke nicht aufbekam? Dann saß ich hier fest, ohne Ausweg.

Nun zog ich stärker als zuvor. Ich lehnte mich komplett hinein, doch nichts bewegte sich. Nicht einmal einen Millimeter.

Ich schrie frustriert auf und ließ von der Luke ab. Meine Hände schmerzten, der Griff hatte sich in meine Handflächen gebohrt. Selbst wenn das nicht gewesen wäre, es würde ohnehin nichts mehr werden. Candice hatte genau gewusst, was sie hier machte, und ich versuchte nur, ihre Handlungen nachzuahmen. Es war klar, dass da einiges schiefgehen konnte. Dass da einiges schiefgehen musste.

Der Aufzug wurde langsamer und kam zum Halt. Auf der anderen Seite des Eingangs öffneten sich die Türen, begleitet von einem leisen Piepsen.

Fast erwartete ich, eine Horde von Sicherheitspersonal vor mir zu sehen. Wenn es besonders schlimm kam, sogar einen spöttisch dreinblickenden Dr. Ning. Oder eine äußerst enttäuschte Jade. Aber was sich vor mir erstreckte, war gähnende Leere.

Ich war in einer ähnlichen Halle gelandet wie die der Bar. Kisten stapelten sich an den kahlen Wänden, der Boden war glatt und sauber. Vereinzelte helle Lampen an der Decke gaben dem Raum eine verlassene, unheimliche Atmosphäre.

Während ich mich umsah, begannen sich die Aufzugtüren wieder zu schließen. Gerade rechtzeitig sprang ich hinaus. Das Letzte, was ich von dem Innenraum sah, war der verloren herumstehende Eimer. „Mist", entwich es mir. Ich drückte auf den Knopf neben dem Aufzug. Vielleicht hatte ich Glück und er kehrte tatsächlich zurück. Doch er tat es nicht. Stattdessen hörte ich durch die Wand, wie er sich auf den Weg zurück zur Bar machte.

Ich verfluchte mich selbst für meine Gedankenlosigkeit. Jetzt konnte ich nur noch darauf hoffen, dass niemand die richtigen Schlüsse daraus zog.

Meine Finger waren mit meinem Ring beschäftigt, als ich mir einen genaueren Überblick über die Halle verschaffte. Einige weiter Aufzüge, zwei Türen auf derselben Seite und einige mehr an anderen Wänden.

Da ich so oder so nicht wusste, wo ich nun hinsollte, versuchte ich es mit der Tür nahe meinem Aufzug. Abgeschlossen. Genauso wie die nächsten beiden.

Erst bei der dritten hatte ich Glück. Sie führte in einen schmalen Flur mit uneinladend grauen Wänden. Auch die Beleuchtung war mehr als spärlich.

Ohne groß zu überlegen schlüpfte ich in den Gang und schloss die Tür hinter mir. Flure waren gut, für gewöhnlich führten sie irgendwo hin.

Dieses Exemplar war jedoch außergewöhnlich lang, und alle Türen, denen ich begegnete, waren abgeschlossen. Mit der Zeit begann ich zu glauben, dass die offene Tür des Lagerraums nur Zufall war. Womöglich würde die einzige Möglichkeit bald sein, wieder umzudrehen. Aber noch war es nicht so weit.

Ich ging noch eine Minute, bis ich wider Erwarten doch eine offene Tür fand. Hoffnungsvoll öffnete ich sie und betrat eine Art Techniklager. Gerade dieser Raum war nicht abgeschlossen?

Dann sah ich die Erklärung. Zwei Frauen standen in einer Ecke und unterhielten sich so leise, dass ich es nicht verstehen konnte. Vor Schreck erstarrte ich. Doch sie schienen mich noch nicht gesehen zu haben.

So leise wie möglich bewegte ich mich zurück auf die Tür zu. Schritt für Schritt kam ich dem Flur näher, bis ich schließlich aus dem Raum draußen war. Ich warf noch einen letzten Blick auf die beiden, versuchte, irgendetwas zu erkennen. Und diesmal verschlug es mir den Atem.

Ich kannte die beiden. Die linke war klein und braunhaarig, und ich kannte sie besser als jeden anderen Menschen: Evyen. Ihre Gesprächspartnerin war unverwechselbar Florence Southcliffe. Ihre Haltung, ihre Art zu gestikulieren hatte ich vor zwei Wochen im Fernsehen gesehen.

Mein Herz schlug bis zum Hals, als ich die beiden durch die halb geschlossene Tür beobachtete. Wie hatte mir das nicht früher auffallen können? Andererseits, wer hätte gedacht, dass ich gerade hier mitten in der Nacht auf meine Ziehmutter und eine weltweite Berühmtheit treffen würde?

Ich wusste, dass es unsinnig war, weiter hier auszuharren. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten. Dafür vergrößerte sich meine Chance, erwischt zu werden, mit jeder Sekunde.

Trotzdem konnte ich den Blick nicht von ihnen abwenden. Ihre Unterhaltung wirkte nicht wie Geschäftsverhandlungen. Im Gegenteil, sie wirkten vertraut. Genau genommen so vertraut, wie ich Evyen kaum mit jemandem gesehen hatte.

Gebannt starrte ich zu ihnen rüber. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was ihre Beziehung zueinander war. Das Einzige, was ich erkennen konnte, war, dass sie sich nicht feindselig gegenüberstanden. Zumindest nicht sehr.

Als Florences Blick zufällig über die Tür strich, zog ich mich hastig zurück und schloss sie leise hinter mir. Es war Zeit, hier wegzukommen.

Ich schlich den Flur entlang, bis ich eine weitere Tür fand. Sie führte in einen größeren, nicht so beklemmenden Flur. Und dieser führte in einen Gang, den ich nur allzu gut kannte. Als ich an der Tür zur Trainingshalle vorbeikam, kehrte mein Orientierungssinn zurück. Doch die Anspannung verflog erst, als ich in der Sicherheit meines Zimmers angekommen war.

Dort hockte ich mich aufs Bett und starrte Löcher in die Luft. Sekunden, Minuten, Stunden vergingen, bis ich zumindest für das Rätsel um Rachel einen Lösungsansatz gefunden hatte.

Mir war klar, dass ich alleine nicht ins Archiv kam. Es sei denn, ich fand zufällig einen Eingang. Die Wahrscheinlichkeit hierfür verlief allerdings gegen Null.

Die einzigen beiden Möglichkeiten, die sich nun baten, waren, auf Hinweise im Tagebuch zu hoffen oder Candice um Hilfe zu fragen. Was Ersteres anging, hatte ich auch schon abgewogen, ein paar Jahre vorzuspulen. Aber angesichts der Seltenheit, mit der diese Informationen auftauchten, würde mich das auch nicht weiterbringen. Die besten Chancen hatte ich also mit Candice.

Natürlich gab es noch einen letzten Ausweg, für den Fall, dass nichts von beidem mich weiterbrachte. Nämlich Evyen. Sie hatte das Tagebuch hundertprozentig durchgehört, sie würde mir mit Sicherheit erklären können, was da los war. Aber bevor ich wusste, was sie mit Florence Southcliffe zu besprechen gehabt hatte, würde das wirklich nur eine Idee für den Notfall bleiben. Und bis dahin wollte ich auch nicht mehr als nötig darüber nachdenken.

Auch wenn ich mit meinen Ansätzen nicht ganz zufrieden war, immerhin hatte ich einen Plan. Etwas, das mich vor den Gedanken rettete, die mich in den freien Stunden befielen. Und diesen begann ich, direkt nach der heutigen Trainingsstunde umzusetzen.

***

Candice war begeistert gewesen, als ich vorgeschlagen hatte, dem Archiv nochmal einen Besuch abzustatten. Und so kam es, dass wir wenige Stunden später wieder in der Lagerhalle hinter der Bar standen und auf einen Aufzug warteten.

Wir brauchten nur drei Sekunden warteten, bis sich die Türen öffneten. Erst stieg sie ein, dann ich. Die Türen schlossen sich beinahe geräuschlos hinter uns und der Aufzug begann sich zu bewegen.

Dieses Mal achtete ich genauer darauf, wie Candice die Luke öffnete. Schon am ersten Handgriff sah ich, was ich falsch gemacht hatte. Zuerst musste man einen winzigen Hebel umlegen, dann erst am Griff ziehen. Wofür der Hebel gut war, wusste ich zwar nicht, aber so schien es zu funktionieren.

Jetzt, wo ich wusste, wie man abspringen musste und wie man aus der Nische kam, war der Weg nach unten nur noch halb so schlimm. Trotzdem war ich froh, als ich einige Minuten später wieder auf Candice traf. Auch als sie uns durch die fad beleuchteten Gänge führte, versuchte ich, mir den Weg so gut wie möglich einzuprägen.

Wie letztes Mal kamen wir auch problemlos durch die Tür ins Archiv. Anscheinend gab es wirklich keinen Schlüssel oder andere Hindernisse. Und dann blickten wir auch schon auf die Reihen endlosen Wissens.

„So, da wären wir", sagte Candice. „Ich will ja nicht neugierig sein, aber woher kommt das plötzliche Interesse?"

Ich hatte mich schon gewundert, warum sie so wenige Fragen stellte. Vermutlich würde ich ihr sie jetzt beantworten müssen.

„Ich wollte etwas nachschauen, was ich in der Bibliothek nicht gefunden habe."

„Nicht? Was war es denn?" Sie klang überrascht.

Kurz zögerte ich, doch dann riss ich mich zusammen. „Ein Wort. Avireisch."

Sie runzelte die Stirn. „Habe ich noch nie gehört. Wo hast du das überhaupt her?"

„Ich habe es vor ein paar Tagen irgendwo aufgeschnappt. Frag mich aber bitte nicht, wo, ich habe wirklich eine schlechte Orientierung in dieser Stadt."

Die Worte kamen mir nicht so leicht über die Lippen wie erhofft. Aber es stand außer Debatte, dass ich ihr auch noch von dem Tagebuch meiner Mutter erzählte. Dann würde sie tiefer nachhaken und auf unangenehme Themen stoßen. Themen, für die ich gerade keine Energie übrighatte.

„Wenn da so ist." Sie musterte mich, dann fügte sie hinzu: „Hier werden wir wahrscheinlich wirklich die größte Chance haben, etwas zu finden. Vorausgesetzt, wir benutzen die Suchcomputer."

„Das ist es wert." Hoffte ich zumindest.

Sie zuckte mit den Schultern. „Von mir aus. Dann lass uns gleich mal einen suchen."

Der nächste Computer befand sich nur zwei Minuten Fußweg von hier entfernt. Zielsicher drückte Candice ein paar Tasten, dann kamen wir in das Suchmenü. Mein Mund öffnete sich leicht.

„Du hast die schon öfter benutzt?"

Unbeirrt stellte sie das Gerät so ein, dass eine digitale Tastatur erschien. „Ein, zwei Mal. Sie sind aber auch nicht besonders schwer zu bedienen. Gib hier mal dein Wort ein."

Langsamer als beabsichtigt tippte ich die Buchstaben ein. Ich war mir nicht zu hundert Prozent sicher, dass es so geschrieben wurde, aber anders ging es nun mal nicht. Dann drückte ich auf Enter.

Einen kurzen Moment erschien ein Lade-Symbol auf dem Bildschirm. Welches danach mit dem Text „Keine Ergebnisse gefunden" ersetzt wurde. Ich konnte ein frustriertes Aufstöhnen nicht unterdrücken.

„Dann halt nicht. Und was machen wir jetzt?", fragte ich.

Candice grinste verschlagen. „Wer sagt, dass das hier schon das Ende ist?"

Etwas überrumpelt ließ ich sie wieder an den Bildschirm. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an dem ich mir Sorgen machte. Geübt zuckten ihre Finger über das Display.

„Du bist nicht zufällig eine ausgebildete Geheimagentin, oder?", kam es aus meinem Mund, ohne, dass ich es verhindern konnte.

Sie lachte auf. „Nicht wirklich. Wie kommst du darauf?"

Ich deutete nur wortlos auf den Bildschirm, den nun ein unübersichtliches, stark nach Code aussehendes Bild zierte.

„Ach das. Ich hatte in meinen Monaten hier unten in Linti auch viel Langeweile. Anders als du habe ich mich allerdings in allen möglichen Büchern vergraben. Da ist wohl ein bisschen was hängengeblieben."

„Das erklärt absolut nichts."

„Wer sagt auch, dass dieser kleine Versuch hier gelingen wird?"

„Deine Finger. Dein Tonfall. Die Tatsache, dass du mir währenddessen immer noch antwortest."

Beeindruckt sah sie kurz auf. „Wow, das sind aber viele Beobachtungen für eine so kurze Zeit. Aber du hast recht. Ich habe das hier schonmal gemacht, und daher wird es auch funktionieren."

Wusste ich es doch. Wie kam es, dass alle um mich herum mir immer nur die Hälfte der Wahrheit auftischen wollten?

„Und du hast es wahrscheinlich nicht zum Spaß gemacht, sondern wegen einer deiner Suchen", folgerte ich. Ihr Mundwinkel zuckte. Noch ein Treffer.

„Was war es? Auch so was ähnliches wie bei mir?"

„Abgesehen davon, dass wir noch nicht wissen, was dein Wort überhaupt bedeutet", sagte sie spitz, „ich denke nicht. Und jetzt kurz Ruhe bitte, ich muss mich konzentrieren."

Auf einmal? Ich spürte, dass da mehr hinter steckte, biss mir aber auf die Zunge. Besser, ich bekam meine Ergebnisse.

Candices Finger flogen über den Bildschirm, von einer verwirrenden Code-Ansammlung zur nächsten. Sie schien haargenau zu wissen, was sie zu tun hatte und hielt nicht einmal inne. Sah so aus, als hätte sie nicht nur einmal kein Ergebnis zu einer ihrer Suchen bekommen.

Schließlich lichteten sich die Zeichen und eine Meldung erschien. Willkommen . Bitte denken Sie daran, sich am Ende Ihres Anliegens aus dem System auszuloggen.

„Als ob ich das jemals vergessen würde", grummelte Candice und drückte den Hinweis weg. Ich hoffte nur, das überschüssige Leerzeichen hinter dem Willkommen deutete nicht darauf hin, dass uns der Computer in den nächsten Sekunden um die Ohren fliegen würde.

Mit zwei Klicks waren wir wieder im Suchmenü und ich durfte das Wort erneut eingeben. Der Computer lud wieder. Doch dieses Mal spuckte er Ergebnisse aus. Die Buchtitel leuchteten uns blutrot entgegen.

„Hab ich es mir doch gedacht", murmelte Candice. Sie zückte ihren Airscreen und machte Fotos der gesamten Liste.

Ich sah mir die Ortsangaben neben den Titeln an. „A 15 3 B 4. Weißt du, was das zu bedeuten hat?"

„Flügel A, fünfzehnter Gang, drittes Regal und viertes Fach auf Ebene B. Willst du nicht auch Fotos machen? Ich würde die ungerne herumschicken, das könnte schnell in die falschen Hände geraten."

Ich tat, was sie vorschlug. Dann loggte sie sich aus und ein neues Bild erschien. Es war der ein Plan des Archivs. Wir waren in Flügel E, unmittelbar daneben war D, daneben F... Nur ein einziger Buchstabe fehlte.

„Wo ist das A?", fragte ich verwirrt. Dann leuchtete es mir ein. Rote Schrift. Die Hacking-Aktion.

„Das ist der geheime Flügel", bestätigte Candice meine Gedanken. „Dort, wo sie alles lagern, was auf keinen Fall an die Öffentlichkeit geraten darf. Ich würde sagen, wir sind einer interessanten Sache auf der Spur."

Das dachte ich allerdings auch. Mittlerweile brannte ich darauf, zu erfahren, was für geheimes Wissen Rachel gehabt hatte. Die Schwierigkeiten, auf die wir beim Suchen stießen, erklärten immerhin eindeutig, warum sie so wenig davon erzählte.

Zu meiner Überraschung brauchten wir höchstens fünf Minuten, bis wir vor einem Regal an der Wand standen. Candice zog ein Buch heraus, tippte auf drei unterschiedliche Stellen auf dem Buchrücken und stellte es falsch herum zurück. Lautlos schwang das Regal zur Seite und gab den Blick auf eine massive Tür frei.

„Tut mir leid für die Unkreativität dieser Leute. Es ist doch immer das Bücherregal, das die Geheimtür in Bibliotheken versteckt. Ich hoffe, du bist nicht allzu enttäuscht."

Sie machte sich an der Tür zu schaffen und auch diese schwang schnell auf. Hinter ihr führte eine Wendeltreppe in ein tieferes Stockwerk. Es sah genauso aus wie der Rest des Archivs.

„Geh du ruhig schonmal runter, ich muss die Tür noch zukriegen." Candice warf einen kurzen Blick auf die Fotos der Liste. „Fang am besten mit denen in Gang fünf an, der ist direkt hier. Je schneller wir wieder hier raus sind, desto besser."

Ich nickte und machte mich auf den Weg. Unten angekommen sah ich nochmal nach oben. Candice stand auf der obersten Stufe und angelte nach einem Buch. Ich drehte mich wieder um und musterte die Gänge vor mir. Glücklicherweise waren sie gut ausgeschildert.

Trotzdem dauerte es eine Weile, bis ich mich an das Ordnungssystem gewöhnt hatte. Als ich Candice die Treppe herunterkommen hörte, hatte ich gerade das zehnte Fach auf Ebene C des achten Regals gefunden. Jetzt brauchte ich „Über Völker", Band eins von Loraine Gruyère.

Plötzlich griff jemand über an mir vorbei ins Regal und zog ein ziemlich großes Buch hervor. Mein Kopf schnellte herum, doch es war nur Candice. Sie betrachtete das Cover.

„Sieht sogar halbwegs zielführend aus", gab sie zu. „Mich irritiert nur, dass die Autorin wie eine Käsesorte heißt."

Wenn das alles war. „Und, welche Seite brauchen wir?"

„Keine Ahnung, schau du nach. Steht direkt unter den Buchtiteln."

Während ich in das Bild hineinzoomte, drehte sie das Buch in den Händen herum. „Übrigens, Nel. Es würde dir nicht schaden, ein bisschen misstrauischer zu sein. Ich hätte auch ganz andere Absichten haben können, anstatt dir zu helfen."

Das hätte ich aber hoffentlich vorher mitbekommen. Aber sie hatte recht. Was, wenn meine Einschätzung doch falsch lag? Dann säße ich jetzt hier unten fest.

„War nur ein gut gemeinter Rat", sagte sie, als ich nicht antwortete. „Also?"

„Hundertzwei."

Gespannt sah ich zu, wie sie durch das Buch blätterte und schließlich innehielt. Es war der Beginn eines Kapitels. Das Volk von Avire. Es war nicht besonders lang, denn auf der nächsten Seite fing schon das nächste Kapitel an.

Ich sah zu Candice, wollte wissen, ob sie ebenfalls wenigstens ein bisschen aufgeregt war, was wir hier finden würden. Doch sie beachtete mich nicht. Ihr Blick flog über die Buchstaben. Plötzlich sog sie scharf die Luft ein.

„Scheiße", entfuhr es ihr. Ein verstörter Ton lag unter ihrer Stimme, so untypisch, dass sie spätestens jetzt meine vollständige Aufmerksamkeit gehabt hätte.

„Was ist?"

Sie reichte mir das Buch. „Schau es dir an. Ich weiß selber nicht, was ich dazu sagen soll."

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