XXII | Das Archiv

An einer Ecke mit einer von Leuchtreklamen übersäten Bar mitten in der Stadt hielt Candice inne. „Warte kurz, ich bin gleich wieder zurück."

Sie verschwand mit festen Schritten durch die Tür. Währenddessen schaute ich mich einmal genauer um. Um diese Uhrzeit war Linti eine Geisterstadt. Wo sich in Edinburgh noch haufenweise Menschen getummelt hatten, gab es hier nur gähnende Leere. Es erstaunte mich ohnehin, dass die Bar noch offen hatte. Viel Kundschaft konnte es schließlich nicht geben.

Ich kam nicht dazu, die Umgebung noch näher zu betrachten. Schneller als erwartet steckte Candice ihren Kopf durch die Tür und winkte mich hinein. Als ich fragend die Stirn runzelte, stöhnte sie auf.

„Komm einfach rein. Wenn du das Archiv heute noch sehen möchtest, wäre es besser, du hinterfragst nicht jeden Schritt. Ich habe diesen Weg schon hundertmal benutzt, ich weiß, was ich tue."

Auch wenn ich mich immer noch fragte, was sie in einer Bar wollte, folgte ich ihr. Ihre Argumente waren äußerst stichfest. Ob das gut war oder nicht, wusste ich nicht. Seitdem wir aufgebrochen waren, kämpften zwei Hälften meines Gewissens darum, ob ich nicht lieber im Zimmer hätte bleiben sollen. Bisher hatte es noch keinen Sieger gegeben.

Candice führte mich zu einer Tür bei den Toiletten, die eine Art Lagerraum verbarg. Sie sah sich einmal um, doch wir waren alleine. Also schlüpfte sie in den Lagerraum und winkte mich zu sich. Hinter uns fiel die Tür ins Schloss.

„Diese Tür", sagte Candice und hielt ihren Airscreen gegen den Türknauf, „war ziemlich lange mein Alptraum. Ich habe ewig gebraucht, bis ich darauf gekommen bin, den digitalen Schlüssel mit der Freigabe zu den oberen Kellerräumen zu verknüpfen. Noch ein paar Verschleierungsmaßnahmen, und der Weg war so gut wie geebnet. Siehst du?"

Klickend öffnete sich die Tür ein Stückchen und Candice zog sie vollständig auf. „Nach dir."

Vorsichtig betrat ich den dunklen Gang, der sich dahinter auftat. Als ich ein paar Meter gegangen war, flackerten langsam düstere Lampen auf. Der Beschriftung „Küche" der Tür neben unserer ließ vermuten, dass wir uns hier in einer Art Hintereingang befanden.

„Wo sind wir?", fragte ich.

„Anlieferungsbereich. Lass mich mal wieder vorgehen." Sie drängelte sich an mir vorbei und führte mich bis zu einer Halle mit mehreren Aufzugstüren. Dort betätigte sie einen der Knöpfe. Er blinkte einen Moment grün, dann gingen die Türen auf.

Wir betraten die Kabine und nach einem weiteren Knopfdruck setzte sie sich in Bewegung. Nicht nach oben oder unten, wie ich es erwartet hätte, sondern nach hinten.

Candice kniete sich auf den Boden. Mit geübten Griffen zog sie an einem verborgenen Hebel und ein Loch tat sich zwischen uns auf. Dank der Beleuchtung sah ich den Boden des Schachtes an uns vorbeirauschen.

„Gleich kommen in regelmäßigen Abständen ein paar tiefere Stellen", informierte sich mich. „Bei der ersten springst du durch das Loch. Du wirst in einem Raum ankommen, der nur einen Ausgang hat. Mach sie aber nicht direkt auf, sondern drück erst den grauen Knopf, der sich irgendwo am Türrahmen befindet. Sonst löst du noch den Alarm aus.

Von da aus geht eine Treppe nach unten. Komm am besten da runter und warte im sechsten unterirdischen Stockwerk auf mich. Soweit alles klar?"

Ich fühlte mich wie in einem Actionfilm. Auf eine unangenehme Art und Weise.

„Ich soll einfach da runterspringen?", vergewisserte ich mich. Das war doch selbstmörderisch.

„Genau", bestätigte Candice. „Wenn die Nischen nicht so klein wären, wäre ich mit dir durch eine gekommen. So ist es leider ein bisschen suboptimal."

„Und was, wenn ich zu spät abspringe? Und mir der Aufzug den Kopf abreißt oder so?"

„Ein bisschen Risiko gibt es immer. Aber das wird schon. So schnell ist der Aufzug nicht."

Das beruhigte mich nicht im mindesten. Aber leider vermutete ich schon, dass es keine Option war, am anderen Ende wieder sicher auszusteigen. Womöglich würden sich dort Menschen befinden, die sich fragten, was wir hier zu suchen hatten.

„Wann kommt diese Nische denn?" Unwillkürlich hatte ich begonnen, an meinem Ring herumzudrehen. Eine schlechte Angewohnheit, gerade beim Herumschleichen.

„Jetzt. Mach dich bereit."

Mit wackligen Knien hockte ich mich an die Kante. Candice schenkte mir einen aufmunternden Blick. Dann war es auch schon so weit.

„Spring!", rief sie.

Ich rutschte durch das Loch, den Rücken schmerzhaft an dem Metall entlangratschend. Den Bruchteil einer Sekunde später hing ich nur noch mit den Händen an der Luke. Schnell sah ich nach unten, in der Hoffnung, zu erkennen, wie tief es runterging.

„Spring!", kam es erneut von Candice.

Reflexartig ließ ich los. Und fiel.

Viel zu schnell trafen meine Füße auf den harten Boden. Das Geräusch des Aufpralls ging jedoch vollständig in dem Lärm des Aufzugs unter. Dann war er schließlich über mich hinweggefahren und die Geräusche rückten mehr in die Ferne.

Mein Herz raste, angefeuert von Adrenalin. Ich konnte kaum mehr geradeaus denken. Was hatte Candice gesagt, das ich nach dem Sprung machen sollte?

Mein Blick blieb an einer Tür hängen, deren Farbe in dem Dämmerlicht kaum zu identifizieren war. Stimmt, die hatte sie erwähnt. Ich sollte erst einen Knopf drücken, bevor ich irgendwas anderes tat.

Sorgfältig tastete ich den Türrahmen ab. Unten war kein Knopf, in der Mitte auch nicht. Oben noch weniger. Mittlerweile war ich mir auch nicht mehr sicher, wo der Knopf sein sollte. Vielleicht doch neben dem Türrahmen? Oder war in genau dieser Nische kein Knopf vorhanden?

Ich zwang mich selbst, ruhig durchzuatmen. Panik würde mich nicht weiterbringen. Das würde nur der Knopf. Ich konnte ihn genauso gut beim ersten Mal übersehen haben. Es war besser, ich suchte noch einmal.

Ich fing wieder von unten an. Und tatsächlich stieß ich sofort auf eine leichte Erhebung. Ich kniff die Augen zusammen. Man sah es kaum, aber ihre Farbe unterschied sich ein wenig von der der Tür. Ohne zu überlegen drückte ich sie ein.

Es passierte nichts. Sollte der Knopf nicht eigentlich die Tür öffnen? Ich hätte wirklich besser aufpassen sollen, als Candice mir alles erklärt hatte.

Doch mehr als den Knopf drücken und eine Minute warten konnte ich auch nicht machen. Beherzt drückte ich die Türklinke runter. Die Tür ließ sich problemlos öffnen. Und wenn er nicht gerade verspätet kommen würde, hörte ich auch keinen Alarm.

Ich war wirklich glücklich, aus diesem Raum heraus zu sein. Meine Aufregung flaute ein wenig ab, während ich die Treppe hinunterstieg. Kurz vor dem fünften Untergeschoss blieb ich jedoch stehen. Hatte Candice irgendetwas darüber gesagt, ob ich die Tür wieder hinter mir schließen sollte?

Ich hätte schreien können. Die Tür zu schließen würde Sinn machen. Was, wenn es tatsächlich einen Notfall gab und jemand genau meine Nische benutzen würde? Dann hatten wir ein Problem.

„Was für Löcher schaust du hier in die Luft?" Ich zuckte zusammen. Fast hätte ich die Balance verloren und wäre von der Treppe gefallen. Candice hatte ein Talent dafür, sich unbemerkt an andere anzuschleichen.

„Ich habe vergessen, die Tür zuzumachen", sagte ich und deutete mit dem Kinn nach oben.

„Wenn es nur das ist. Die schließen sich nach fünf Minuten automatisch."

Das war beruhigend. Ich hätte auch wirklich wenig Motivation gehabt, die fünf Stockwerke wieder hochzulaufen.

Die nächsten Minuten folgte ich Candice durch das Labyrinth der dunklen Flure. Ich versuchte, mir die Abzweigungen zu merken, wenn auch nur, um im Notfall zurückkommen zu können. Glücklicherweise stellte es sich heraus, dass wir den Großteil des Weges nur geradeaus gehen mussten. Dann standen wir vor der nächsten Tür. Candice legte die Hand auf die Klinke und sah mich erwartungsvoll an.

„Und, bereit?"

Ich nickte und sie öffnete die Tür. Die Aussicht, die sich uns bot, war atemberaubend.

Reihenweise erstreckten sich Regale durch den Raum. Jedes funkelte im Licht und war voll besetzt mit uralt aussehenden Büchern. Ich fuhr mit einem Finger über den Rücken eines der Bücher und trug eine feine Staubschicht ab. Wie lange standen sie wohl schon hier?

„Das hier ist nur der Anfang", erklärte Candice. „Dieses Archiv erstreckt sich über eine enorme Fläche. Von einer Ecke zur anderen braucht man zu Fuß locker eine Stunde."

„Und wie findet man dann das Buch, was man sucht?"

„Suchst du etwas Bestimmtes?", fragte sie, plötzlich äußerst interessiert.

„Nein, ich...", fing ich an. „Es war nur aus Neugier. Ich hätte keine Lust, mehrere Stunden nur mit Suchen zu verbringen."

„Schade." Sie klang enttäuscht. „Kann ich aber verstehen. Falls du wirklich mal was brauchen solltest, an jedem Durchgang zu einem neuen Raum hängt ein großer Airscreen. Der beinhaltet eigentlich alles, was es hier gibt. Und zusätzlich funktioniert er sogar ohne jeden Code."

Letzteres erweckte mein Misstrauen. „Es gibt keinen Haken?"

Candice zog die Nase kraus. „Doch. Speichert deinen Suchverlauf, und den bekommst du auch nicht mehr gelöscht. Also such damit am besten nur, wenn es wirklich nötig ist. Bis auf sehr spezielles Fachwissen und bestimmt auch geheime Bücher gibt es alles auch in der normalen Bibliothek."

„Danke, ich werde dran denken." Ich hatte es gewusst. Irgendeine Falle gab es immer.

„Das ist gut. Und jetzt, lass uns die paar Stunden hier voll auskosten." Sie grinste. „Wo willst du zuerst hin?"

***

Die erste Störung geschah zwei Tage nach dem Besuch im Archiv. Ohne Ankündigung traf ich beim Training nicht nur auf Candice und Jade, sondern auch auf Dr. Ning. Angeblich wollte er meinen Fortschritt und meine Kräfte begutachten. Die Stunden in der Halle waren noch schlimmere Folter als sonst. Und danach war ich derart durcheinander, dass ich nicht einmal schlafen konnte.

Einen Tag später stand auf einmal Evyen vor der Tür. Wie sie selber sagte, weil sie sich Sorgen machte. Womit sie sicher recht hatte. Leider kamen wir zu dem Schluss, dass keine von uns etwas an der Situation ändern konnte.

Kurz überlegte ich, ob ich ihr von der ständigen Angst beim Auslösen meiner Kräfte erzählen sollte. Doch ich ließ es lieber. Ich war bereits wegen des Feuers in Therapie gewesen. Ich wusste, wie ich damit umzugehen hatte. Vermutlich lag es nur an mir, dass das Trauma sich wieder bemerkbar machte.

Als Evyen dann vorschlug, ich sollte doch wieder schwimmen gehen, nickte ich nur. Dummerweise konnte ich ihr auch nicht erzählen, dass ich das für die nächste Zeit lieber weglassen würde. So lange jedenfalls, bis ich meine Kräfte im Griff hatte.

Ein paar Tage danach war erneut alles normal. Bis mir die Schulaufgaben ausgingen. Über eine Woche zu früh. Candice bekam meine schlechte Laune mit und schlug vor, ich sollte ein paar Bücher lesen.

Nur wenige Stunden später ging meine Zimmertür auf und sie kam mit einem Stapel dicker Wälzer herein.

„Wo kann ich die ablegen?", keuchte sie.

„Warte, ich nehme dir ein paar ab." Ich stand vom Bett auf und übernahm die Hälfte der Bücher. Dann sah ich mich nach einem geeigneten Platz um.

„Auf den Schreibtisch", sagte ich schließlich. Mit den beiden Stapeln war er zwar ziemlich voll, doch brauchen würde ich ihn ohnehin nicht mehr so bald.

Nachdem Candice die Bücher hingeknallt hatte, massierte sie sich die Hände. „Du glaubst nicht, wie schwer es ist, die Dinger bis hierher zu transportieren", beklagte sie sich.

„Danke fürs Bringen, würde ich sagen. Was hast du überhaupt alles ausgesucht?"

Sie schaute kurz über die Titel, als hätte sie sie bereits vergessen. „Ein paar historische Romane, ein bisschen SciFi, präkalyptische Dramen und einen oder zwei Gedichtbände."

„Interessante Wahl." Und absolut nicht mein Geschmack. Aber wer wusste schon, ob sich das nicht noch ändern konnte.

„Da sind einige meiner Lieblingsbücher dabei", sagte Candice, nicht ohne eine gewisse Euphorie. „Also sag mir Bescheid, wenn du mit einem durch bist. Ich muss jetzt übrigens los, hab noch einen Termin. Bis morgen dann!"

„Bis morgen", brachte ich gerade noch so raus, bevor sie auch schon weg war. Dann sah ich zu den Büchern. Ich hatte ohnehin nichts zu tun, warum nicht direkt einmal anfangen?

Zufällig zog ich ein dünnes Buch hervor. Hamlet von Shakespeare. Bei meinem Glück musste ich natürlich sofort ein präkalyptisches Exemplar erwischen.

Ich seufzte tief und setzte mich mit dem Buch aufs Bett. Doch irgendwie konnte mich das Gespräch zweier Wachen absolut nicht fesseln. Vor allem, da das Englisch so antiquiert war, dass ich gefühlt fünf Minuten für einen Satz brauchte. Frustriert legte ich das Buch zur Seite. Vielleicht hatte ich ja später mehr Geduld dafür.

Jetzt war nur die Frage, womit ich meine Zeit vertreiben konnte. Wie so oft landete mein Blick auf dem Karton. Diesmal wirkte er wie eine wirkliche Alternative. Etwas nervös holte ich ihn aufs Bett.

Zuerst inspizierte ich den CD-Spieler. Er war simpel aufgebaut und ich hatte schnell herausgefunden, wie er funktionierte. Also suchte ich die erste CD und legte sie in das Fach. Mit vor Aufregung klopfendem Herzen sah ich zu, wie sie langsam von dem Schlitz verschluckt wurde. Dann drückte ich auf Play.

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