XX | Wasser und Feuer

Der Riss breitete sich immer schneller aus, es wurde immer heißer. Dann hielt er auf einen Schlag inne. Auch die Hitze flaute zu einem erträglichen Maß ab. Das Einzige, das blieb, war ein bitterer Nachgeschmack von Blut. Ich musste mir irgendwann die Lippe aufgebissen haben.

Ein paar Sekunden stand ich einfach nur da und ließ meinen Körper zur Ruhe kommen. Und weitere Sekunden später bemerkte ich, dass die Dusche ausgegangen war. Während ich nach meinem Handtuch griff, kamen meine Gedanken ins Rollen. Außer der Dusche hatte sich in den letzten Momenten nichts verändert. Konnte es sein, dass...

Ich brachte den Gedanken nicht zu Ende, sondern verließ unverzüglich die Duschkabinen. Als ich drei Minuten später mit klatschnassen Haaren aus dem Schwimmbad kam, hatte ich meinen Airscreen bereits rausgeholt und Jade angerufen.

Es dauerte eine Weile, bis sie dranging. Noch bevor sie ein Wort sagen konnte, fing ich an, zu reden.

„Jade? Es gab einen... Vorfall."

„Welche Art von Vorfall?"

„Kräfte."

Einen Moment herrschte Stille. Dann sagte sie: „Gut. Ich schicke dir eine Adresse, komm da vorbei."

Mein Airscreen vibrierte und zeigte eine neue Nachricht an. „Danke. Ich bin sofort da."

Damit legte ich auf und öffnete die Adresse in der Karte. Es war in der Nähe von Dr. Nings Büro, ich würde also noch eine Weile brauchen.

Während ich die Straßen entlanghetzte, tippte ich noch eine Nachricht an Candice. Nicht, dass sie sich noch Sorgen machte, wenn ich nicht wie verabredet am Kino auftauchte. Es stellte sich heraus, dass ich nicht besonders gut im Multitasking war, da ich gleich zweimal fast gegen jemanden rannte. Doch pünktlich als ich die Tür zum Bürokomplex erreichte, schickte ich meine Nachricht ab.

Von meiner Umgebung bekam ich nicht viel mit, außer einen groben Eindruck. Dieser unterschied sich kaum von dem, den ich von den Fluren von Dr. Nings Büro bekommen hatte. Entweder, die Leute hier schafften es wirklich nicht, die Stadt ein wenig abwechslungsreicher zu gestalten, oder es war tatsächlich die Schuld der Architekten.

Noch während ich darüber nachdachte, erreichte ich die Adresse von Jade. Obwohl ich lieber direkt in den Raum gestürmt wäre, hielt ich mich zurück und klopfte erstmal. Nur einen Herzschlag später kam ihre Antwort.

Im Raum ließ ich mich auf einen zugegebenermaßen sehr gemütlichen Stuhl fallen. Eine gute Idee, die Art von Stühlen hierherzustellen. Mich zumindest beruhigte die angenehme Sitzposition direkt ein wenig.

„Also, was ist passiert?", fragte Jade ohne Umschweife.

Ich versuchte, meine Erklärung möglichst genau und chronologisch zu halten, doch ich warf trotzdem einiges durcheinander. Eigentlich spielte es auch keine Rolle, wann was passiert war. Es zählte nur, dass die Dusche meine Kräfte ausgelöst hatte.

„Das heißt, du glaubst, Regen ist der Auslöser?" Jade tippte nachdenklich auf dem Schreibtisch herum. Das stetige Geräusch hob den beruhigenden Effekt des Stuhls gleich wieder auf.

„Heruntertropfendes Wasser", präzisierte ich. Absurde Konzepte konnte ich mir auch ausdenken.

„Richtig. Und deine Kräfte sind dann vermutlich verbunden mit Wind und Glas."

„Und wie hängen die beiden zusammen?"

Sie warf mir einen langen Blick zu. „Das müssen wir noch herausfinden. Es kann allerdings auch sein, dass sie gar nicht zusammenhängen."

„Wie das? Ich dachte, jeder hätte nur eine Kraft, und die..." Mir fiel nicht mehr ein, was die Kraft tun sollte. Vermutlich das Leben ruinieren. Das schaffte auch eine alleine.

„Normalerweise ja. Es gibt aber auch einige wenige Fälle, in denen eine Person zwei verschiedene Kräfte hat. Außer einer weiteren Fähigkeit ändert sich aber kein anderer Aspekt. Der Auslöser und die Nebenwirkungen bleiben bei beiden Kräften dasselbe."

Das war doch beruhigend zu wissen, dass ich weiterhin nur an einer Sache sterben konnte. Bisher hatte mir eine Kraft allerdings immer gereicht. Hoffentlich würde Jade doch noch einen Zusammenhang finden.

„Und was machen wir jetzt?"

Sie musterte mich erneut. „Wenn du dich dazu in der Lage fühlst, würde ich gerne genau herausfinden, was für Kräfte du hast. Bitte überleg es dir aber ehrlich, ob du das hinbekommst. Es ist besser, du bist in einer guten Verfassung, wenn wir brauchbare Ergebnisse erhalten wollen."

„Dann machen wir das jetzt." Meine Stimme war fester als erwartet. Irgendwann musste ich da ohnehin durch, warum sollte ich mir nicht Gewissheit verschaffen?

Jade stand auf und ließ ihren Blick einmal über ihren Schreibtisch schweifen. „Lass uns dann direkt in die Halle gehen. Da sollte noch einiges Nützliches stehen."

Zusammen liefen wir durch die Gassen der Stadt. Die Wände wirkten verschwommen, immer gleich. Nur als wir den Bürokomplex verließen, änderte sich ihre Beschaffenheit und sie erschienen nicht mehr ganz so eintönig wie zuvor.

Gefühlte drei Sekunden später betraten wir schon die Halle. Jade führte mich zielsicher zu einem der kleinen Abschnitte. Dort befand sich lediglich eine Glasscheibe.

„Sicher, dass du das jetzt machen möchtest?", fragte sie erneut.

Ich nickte, und sie bedachte mich mit einem skeptischen Blick. Dennoch nahm sie ihren Airscreen raus. „Nicht erschrecken, es wird jetzt ein wenig Wasser von der Decke kommen. Und denk an die Gefühle." Dann drückte sie auf ein violettes Symbol.

Langsam begannen kleine Wassertröpfchen auf den Boden zu treffen. Ich verfolgte ihren Weg bis zur Decke zurück, um nicht automatisch an die Hitze in den Duschen denken zu müssen. Doch es half nichts. Die Angst kam trotzdem.

Ich versuchte, die Sekunden zu zählen. Irgendwann würde es vorbei sein. Aber diese Hoffnung stellte sich schon nach siebzehn Sekunden als vergeblich heraus. Verräterisches Feuer breitete sich in meinem Körper aus. Der Wind, der durch den Raum fegte, half nur wenig dagegen. Stattdessen warf er die Halterung der Glasscheibe um. Krachend zersplitterte sie in tausend Teile. Und das Feuer wuchs weiter, wurde immer heißer.

Panisch sah ich zu Jade. Ich wollte sie bitten, das Wasser abzustellen, doch meine Zunge war wie gelähmt. Mit einem regungslosen Gesichtsausdruck deutete sie auf die zersplitterte Glasscheibe.

Ich kämpfte gegen den sinnlosen Drang, wegzulaufen, an und wandte mich zu dem Glas. Aus dem Augenwinkel sah ich Jade gespannt darauf blicken. Hass auf ihre Neugier, auf meine eigenen Entscheidungen gesellte sich zu der Hitze. Ich blinzelte. Die Scherben vor mir stiegen langsam auf und ordneten sich zu einer Kugel an. Genährt von meinen aufflammenden Gefühlen wanderten sie immer weiter aufeinander zu. Und verschmolzen zu einem einzigen Ganzen.

Geistesabwesend tippte Jade wieder auf ihren Airscreen. Einen Moment lang hing die Kugel noch in der Luft. Dann zerschellte sie gleichzeitig mit dem letzten Wassertropfen auf dem Boden. Auch die Hitze wich nach und nach einer angenehmen Kühle. Was blieb, war das allzu lebendige Gefühl, zu verbrennen. Und meine Wut. Mittlerweile hauptsächlich auf mich selber. Es war eine dumme Idee gewesen, das Ausprobieren direkt jetzt zu machen.

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Jade direkt neben mir stand, bis sie fragte: „Ist alles gut?"

Definitiv nicht. „Ja... ich denke, ich brauche nur einen Moment um das zu verarbeiten."

„Kann ich absolut verstehen."

Eine Weile schwiegen wir. Sie notierte irgendetwas, ich musterte die Scherben. Ich hatte eine Glaskugel erschaffen. Das hatte nichts mit Wind zu tun.

„Ich habe zwei Kräfte, oder?", fragte ich schließlich.

Sie nickte. „Wind und Glas. Von beidem habe ich bisher noch nie gehört. Aber das ist ein gutes Zeichen, bisher gab es noch keine einzige Kraft doppelt."

Sie tippte erneut etwas ein, dann senkte sie den Airscreen. „Hast du beim Anwenden deiner Kräfte denn etwas Ungewöhnliches, Unangenehmes gespürt? Am besten wäre etwas, das dir auch schon in der Dusche begegnet ist."

Ich erschauderte unwillkürlich, als ich an die Hitze zurückdachte. Wenn es nach mir ginge, hätte ich die Erinnerung tief in den hintersten Ecken meines Gedächtnisses vergraben und vergessen. Dafür war es meinen schlimmsten Alpträumen zu ähnlich.

„Es wurde plötzlich unnatürlich heiß", sagte ich. Hoffentlich würde sie nicht genauer nachfragen.

„Überhitzung also. Das hingegen gibt es schon einige Male. Anscheinend gibt es nicht sonderlich viele Wege, wie die Energien den Körper zerstören können."

Obwohl ich es selber nicht gedacht hatte, fiel mir ein kleiner Stein vom Herzen. Ich war nicht alleine mit dem Feuer. Die anderen hatten vielleicht keine panische Angst davor, aber sie mussten dasselbe durchleiden. Wenn sie es schafften, würde ich auch einen Weg finden.

„Wie geht es jetzt weiter?", riss ich mich zusammen.

„Nun, da wir nun Auslöser, Kraft und Nebenwirkungen kennen, arbeiten wir jetzt auf die Kontrolle hin", erklärte sie. „Das Ziel ist es, dass du deine Kräfte nach deinem Willen verwenden, aber auch unterdrücken kannst."

Und wenn wir damit fertig waren, konnte ich auch endlich aus dieser Stadt heraus. Diese Aussicht vertrieb kurzzeitig den Schreck, der mir noch in den Gliedern steckte.

„Wann fangen wir an?"

Jade hob die Augenbrauen. „Wir könnten schon heute anfangen, aber das halte ich nicht für eine gute Idee. Ruhe dich lieber noch ein wenig aus, beschäftige dich mit anderen Dingen. Morgen treffen wir uns dann hier um dieselbe Uhrzeit wie immer."

Als ich mich schon verabschiedete hatte und halb draußen war, rief sie mir noch hinterher: „Ach ja, bevor ich es vergesse: Bitte übe nicht bei dir im Bad oder sonst wo außerhalb dieser Halle. Auch nicht, wenn wer anders dabei ist. Dabei kann einfach zu viel passieren."

„Mache ich nicht, danke." Ich war auch nicht besonders erpicht darauf, bei lebendigem Leib gekocht zu werden. Vor allem nicht, wenn niemand dabei war, der die Situation einschätzen konnte.

Auf dem Weg zurück in mein Zimmer versuchte ich, an etwas anderes zu denken als meine Kräfte und ihre Nebenwirkungen. Aber es wollte mir einfach nicht gelingen. Egal, was ich mir ins Gedächtnis rief, irgendwie kam es immer auf das eine Thema zurück.

Das schlimmste daran war nicht einmal die Tatsache, dass ich aus Scherben eine Kugel erschaffen hatte. Sondern, dass die Freude darüber, Linti zu verlassen, von Sekunde zu Sekunde abebbte. Sowohl Candice als auch Jade hatten gesagt, Kontrolle würde lang dauern. Das hieß, ich hatte noch eine Ewigkeit hier auszuharren. Und jeden Tag aufs Neue mit dem Feuer konfrontiert werden.

In diesem Moment wünschte ich mir nichts so sehr, wie nach Hause zurückzukehren und die gesamte Zeit hier zu vergessen.

***

Um dreiundzwanzig Uhr vierzig lag hellwach im Bett. Die Uhrzeit kannte ich, da ich ungefähr alle fünf Minuten auf meinen Airscreen schaute. Vermutlich keine so gute Idee, wenn man den Schlaf brauchte, doch was blieb mir anderes übrig?

Sobald ich die Augen schloss, sah ich rote Flammen aufflackern. Jedes Mal sagte ich mir, dass ich es mir nur einbildete. Bis ich meine Augen vom Rauch brennen spürte. Dann wartete ich zehn Minuten und versuchte es erneut. Es war ein Teufelskreis.

Eine weitere Stunde verging, und noch eine, in der ich einfach nur dalag. Ich wusste genau, dass die Träume heute Nacht kommen würden.

Ich wartete noch eine weitere halbe Stunde, bis ich es aufgab. Ich konnte mich beim besten Willen nicht dazu überwinden, einzuschlafen. Egal, ob ich mittlerweile alle zwei Minuten gähnen musste oder ich mich einfach nur in eine Ecke zusammenrollen und die Augen zumachen wollte. Kurz überlegte ich tatsächlich, Jades Warnung in die Luft zu schießen und mir ein bisschen Durchzug zu verschaffen – bis ich bemerkte, dass das die Sache nur noch schlimmer machen würde.

Also tat ich das, womit ich meine Zeit schon die restlichen Tage totgeschlagen hatte: Schule. Und vorher konnte ich auch noch eine Antwort an meine Freunde schicken. Zu Hause war nicht viel Neues passiert, außer, dass Luis und Daria sich nun wegen David einen kalten Krieg lieferten. Unter Aufsicht von Laurie, wie es Jean beschrieb. Und Matilde sehnte sich schon den Anfang der Sommerferien herbei, denn dann würde sie nach Oslo zum Hauptstandort der Arthur-Versus-Gesellschaft aufbrechen.

Als das erledigt war, sah ich durch die Schulaufgaben. Ich hatte schon bestimmt ein Drittel geschafft. Das war einiges, leider. Ich hätte nicht gedacht, dass es jemals passieren würde, aber mittlerweile hoffte ich, meine Lehrer würde noch mehr hinterherschicken. Ich fürchtete, wenn ich mit den jetzigen Aufgaben durch war, würde ich nicht mehr wissen, wie ich meine Zeit totschlagen sollte. Und wie sich das auf die Situation auswirken würde, daran wollte ich noch nicht denken.

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