XVIII | Fels in der Brandung

Wie versteinert stand ich vor dem Karton. Ich konnte mich nicht bewegen, das Einzige, das ich spürte, war der pochende Herzschlag in meiner Brust. Die Gedanken rasten durch meinen Kopf.

Evyen hatte meine Mutter nicht nur flüchtig gekannt.

Sie hatte es mir die letzten Jahre verschwiegen.

Das hier war das Tagebuch, die Gedanken, das Leben meiner Mutter.

Als ich das realisierte, fing ich an zu zittern. Ich sank neben dem Tisch auf den Boden und schlang die Arme um meinen Körper. Noch mehr Geheimnisse. Noch mehr, das mein Leben durcheinanderbrachte. Was von dem, was ich gewusst hatte, war überhaupt wahr gewesen?

Die Antwort lag direkt neben mir und doch konnte ich mich nicht dazu überwinden, die erste der silbernen Scheiben in den CD-Spieler zu legen. Ich wusste nicht, wie viele neue Überraschungen ich noch ertragen konnte. Bis ich endgültig zusammenbrach.

Ich brauchte etwas Gewohntes, etwas, das mich daran erinnerte, dass mein Leben vor der letzten Woche noch existiert hatte. Noch heil gewesen war. Doch ich war in einem fremden Zimmer, umringt von fremden Menschen. Ich konnte mich weder in meinen vielen Kissen verkriechen, noch Luis, Matilde oder Chaeng anrufen.

Meine Brust fing an, sich immer schneller zu heben und senken. Ich musste hier raus. Aus dieser Stadt. Aber selbst das ging nicht. Ich war gefangen in einer Umgebung, die ich nicht kannte, und in einem Leben, dass ich nicht wollte. Und es gab keinen Ausweg.

Die Zeiten, in denen ich mir Antworten gewünscht hatten, kamen mir meilenweit entfernt vor. Mittlerweile fragte ich mich, ob es nicht anders besser gewesen wäre. Keine Antworten, dafür ein ruhiges, normales Leben. Leider war das eine Tür, die längst zugefallen war.

Und so blieb ich auf dem Boden sitzen, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Bis nichts mehr außer meiner verschwitzten Haut auf die Panik hindeutete.

Dann ging ich ohne einen Blick auf das Tagebuch zum Schreibtisch und öffnete die Aufgaben für die Schule. Schlafen würde ich so ohnehin nicht können.

***

Als ich durch die Gänge Lintis lief, kamen sie mir so lang wie noch nie vor. Jade wollte mich erneut in der Halle von gestern treffen. Aber dieses Mal brauchte ich gefühlt die doppelte Zeit, um dorthin zu kommen. Candice hatte mich diesmal nicht begleiten können.

Obwohl mir der Weg vorgekommen war wie eine halbe Wanderung, war ich deutlich zu früh da. Ich hatte noch bestimmt zehn Minuten, und ich wollte diese noch außerhalb der Halle verbringen. Die letzten Momente genießen, bevor es daran ging, meine Kräfte herauszufinden.

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis ich meine Entscheidung bereute. Die röhrenförmigen Lampen machten mich nervös, die Endlosigkeit der Flure und das Fehlen von Fenstern ebenso. Abgesehen von letzterem war Linti der Forschungsstation in Mexico City zu ähnlich. Und im Gegensatz zu damals gab es keinen Weg heraus, sollte etwas passieren.

Im Gegensatz zu damals bist du aber auch kein Säugling mehr, schärfte ich mir selber ein. Du kannst dir selber helfen.

Trotzdem holte ich den Airscreen heraus und öffnete die Karte der Stadt. Gegenüber dem Teil, in dem sich die Geschäfte und die Büros befanden, war ein zweiter Sektor. Er beherbergte das Industrieviertel der Stadt. Das war gut zu wissen, aber im Notfall wäre der Stadtteil eine bessere Wahl, um dorthin zu laufen. Wo es viele Menschen gab, gab es meistens auch einen Notausgang.

Ich zoomte weiter in die Karte hinein, doch wie erwartet, war ein Ausgang nirgends eingezeichnet. Dafür fand ich allerdings allerlei andere Dinge. Es gab ein Konzerthaus, ein Kino und sogar ein Schwimmbad.

Unwillkürlich hellte sich meine Laune auf. Bis gerade eben hatte ich gar nicht darüber nachgedacht, dass ich hier auch möglicherweise schwimmen könnte. Dem Bad würde ich heute Abend wohl einmal einen Besuch abstatten. Ein Sportbecken müsste dort mindestens vorhanden sein. Was mir auch schon reichte.

Passend in dem Moment öffnete sich die Tür und Jade schaute heraus. „Oh, hallo."

„Ähm... Hallo. Kann ich reinkommen?" Ich steckte den Airscreen weg und versuchte, einen Blick in die Halle zu erhaschen. Viel mehr außer den gewaltigen Säulen sah ich jedoch nicht.

„Klar." Sie winkte mich hinein. „Ich habe schon alles vorbereitet, wir können also gleich anfangen."

Ich betrat den Raum und musterte Jades Werk. Der Großteil war ausgefüllt mit Ansammlungen aus verschiedenen Dingen, alle getrennt durch schmale, nicht sehr hohe Wände. Es wirkte wie ein Miniaturmöbelhaus.

„Ich hatte gestern und heute ein wenig Hilfe beim Aufbauen", informierte sie mich. „Und ich habe die Liste noch einmal erweitert. Moment, ich schicke sie dir auch."

Sie tippte etwas auf dem Bildschirm, den wir schon gestern genutzt hatten. Diesmal erschien vertikal zum Boden eine Übersicht von möglichen Auslösern. Jade tippte auf einen kleinen Pfeil in der linken unteren Ecke und die Liste verkürzte sich um einiges.

„Wir fangen heute mit diesen Punkten an. Sie umfassen alles, was mit deinem Bett zu tun hat. Ein Auslöser, der sich nah am Körper befindet, ist nämlich effektiver als einer, der weit weg ist. Also, womit möchtest du beginnen?"

Ich begutachtete die Liste. Jade hatte sie tatsächlich noch um einiges erweitert, auf manche der Begriffe waren wir gestern nicht gekommen.

„Ist mir eigentlich egal. Wie wäre es, von oben nach unten durchzugehen?"

„Gut, dann die Kissen zuerst. Hier lang bitte." Sie führte mich durch das Labyrinth an Räumen, bis wir an einem angekommen waren, in dem mehrere Kissen lagen. Zusätzlich befand sich darin ein nachgebildetes Fenster.

Jade deutete auf den Stapel Kissen. „Mach es dir gemütlich. Und denk dann an etwas, was dich emotional besonders berührt hat. Das kann sowohl positives als auch negatives sein."

„Und was, wenn mir nichts einfällt?", fragte ich. Oder wenn ich gewisse Dinge lieber in einem tiefen Loch verschwinden lassen würde?

„Versuch es einfach. Wenn du mit dem Auslöser konfrontiert wirst, zeigt sich automatisch eine schwache Reaktion. Aber es wäre natürlich besser, wäre das Ergebnis deutlicher."

Zögerlich setzte ich mich auf die Kissen. Dabei überlegte ich, welches Ereignis ich auswählen sollte. Alles, was auch nur im Geringsten mit Evyen und Mexico City zu tun hatte, schied von vornerein aus. Und vielleicht wäre es besser, ich würde irgendwas nehmen, was hier in Linti passiert war.

Ich schloss die Augen und rief mir Dr. Nings goldenen Augapfel ins Gedächtnis. Es funktionierte. Leichte Unbehaglichkeit machte sich in mir breit. Ich konnte förmlich spüren, wie sich sein leerer Blick auf mich richtete.

„Das reicht", unterbrach Jade mich. Ich schlug die Augen auf.

„Schon?", hakte ich nach.

„Wenn Kissen oder irgendetwas mit ihnen verbundenen der Auslöser gewesen wäre, hätten wir es bereits gesehen. Lass uns lieber weitermachen, die Liste ist noch lang."

***

Es klopfte an der Tür. Schon etwas genervt legte ich meinen Löffel zur Seite. „Ja?"

„Hi." Candice steckte den Kopf durch die Tür.

Sie war definitiv die bessere Alternative zu Evyen. Obwohl ich mein Essen doch lieber alleine gegessen hätte.

„Ist irgendwas passiert?", fragte ich und nahm meinen Löffel wieder auf.

Sie schloss die Tür hinter sich und hockte sich aufs Bett. „Nee. Aber da du den ganzen Tag wie vom Erdboden verschluckt warst, dachte ich mir, ich schaue mal vorbei."

„Oh, danke." Das war tatsächlich nett.

„Ach, kein Problem. Und, war dein Tag immerhin spannend?"

„Nicht wirklich." Nachdenklich ließ ich den Löffel in meiner Suppe kreisen. „Ich hatte das Treffen mit Jade und habe die Aufgaben weiter abgearbeitet." Und ich war im Schwimmbad gewesen. Es war nur ein kleines, ziemlich leeres Exemplar gewesen, aber es hatte immerhin ein Fünfzigmeterbecken. Das war schon mehr, als ich erwartet hatte.

„Das Problem mit den Aufgaben habe ich auch." Candice verdrehte die Augen. „Absolut nervtötend, vor allem, wenn man so viel anderes machen könnte. Aber ist wenigstens bei Jade was rausgekommen?"

Ich schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Morgen geht es weiter, vielleicht passiert da ja mehr."

„Ich tippe auf drei Tage, dann habt ihr deine Kräfte raus. Sag mal, hättest du Lust, irgendwann nächste Woche mal ins Kino zu gehen?"

Eigentlich war ich nicht in der Stimmung, doch ewig lang konnte ich mich auch nicht in Selbstmitleid suhlen. „Was läuft denn?"

„Keine Ahnung, müsste ich schauen. Normalerweise entscheide ich immer spontan. Also, wie wäre es mit übermorgen?"

„Sollte passen." Ich hatte ja sowieso kaum was zu tun.

Sie strahlte. „Super. Dann treffen wir uns am besten ungefähr um fünf vor dem Kino. Da sollte dein Termin mit Jade auch vorbei sein."

„Lass mich lieber nochmal in den Kalender schauen." Ich machte mich daran, den Airscreen rauszuholen, doch sie warf ein: „Brauchst du nicht, ich kenne Jade und ihre Termine."

„Woher das?", rutschte es mir heraus. Stalkte sie Jade? Oder war sie insgeheim eine geniale Hackerin und hatte Zugriff auf alle Daten der Stadt?

Sie grinste. „Ich habe meine Quellen. Also, Dienstag siebzehn Uhr. Das kannst du dir von mir aus in den Kalender schreiben, wenn du es brauchst."

Ich schnaubte belustigt und steckte den Airscreen wieder weg. „Mache ich gleich. Was für Filme magst du überhaupt?"

„Ich glaube nicht, dass du die ausführliche Antwort hören willst..."

Die nächste Stunde verbrachten wir damit, uns über Filme, Schauspieler und alles, was sich damit verbinden ließ zu unterhalten. Unsere Geschmäcker überschnitten sich in überraschend vielen Punkten. Irgendwann landeten wir dabei, uns über diverse unlogische Filme aufzuregen und Insider dazu auszutauschen.

Kurz gesagt, ich war froh, dass sie so spontan vorbeigekommen war. Der Inhalt der letzten Tage war derart gewichtig gewesen, dass ich eine lockere Unterhaltung wie diese dringend nötig hatte. Leider mache es mir auch allzu deutlich bewusst, wie sehr ich meine Freunde jetzt schon vermisste.

Als Candice schließlich ging, brachte ich das benutzte Geschirr weg und setzte mich an den Schreibtisch. Diesmal jedoch nicht, um Schulaufgaben zu machen, sondern um Nachrichten zu schreiben. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie es für mich gewesen wäre, wäre Chaeng, Matilde oder Luis einfach ohne ein Wort verschwunden.

So gut es ging tippte ich also eine kurze Erklärung an alle drei. Während ich die Worte jedoch weiterspann, desto mehr Probleme taten sich auf. Wie viel konnte ich ihnen erzählen? Wenn ich es wieder nach Hause schaffen würde, käme ich um sehr ausführliche Erklärungen nicht drumherum. Doch ich hatte noch keinen blassen Schimmer, wie Evyen und die Leute aus Linti mein Verschwinden erklärt hatten.

Wenn man es so betrachtete, war es vermutlich besser, ich erkundigte mich erstmal nach der Situation. Sowohl bei meinen Freunden als auch bei Evyen.

Seufzend löschte ich meine Erklärungen wieder und formulierte neue, neutralere Nachrichten. Mehr oder weniger jedenfalls. Von David konnte ich den drei immerhin problemlos erzählen. Auch für Jean tippte ich ein paar Worte ein, und nach längerem Überlegen sogar für Laurie.

Mit dem Endergebnis zufrieden schaltete ich den Airscreen ab. Jetzt wäre der nächste Schritt, Evyen zu suchen. Einerseits war ich immer noch wütend und enttäuscht, doch andererseits – sie versuchte, es gut zu machen. Sie hatte mir immerhin das Tagebuch überlassen. Unschlüssig starrte ich auf die Wand, als verberge sich dort die Antwort.

Wahrscheinlich sollte ich mit ihr sprechen. Sie war die Person, die mir hier am nächsten stand. Und um ehrlich zu sein, ich brauchte einen Fels in der Brandung. Jemanden, auf den ich mich verlassen konnte, und dem ich vertraute. Beides hatte in den letzten Tagen zwar ziemlich gelitten, aber ich hatte dabei mehr zu gewinnen als zu verlieren.

Morgen würde ich sie suchen. Jetzt musste ich erstmal den verpassten Schlaf von gestern aufholen.

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