XVI | Allein

Es war genau viertel nach sieben, als jemand an die Tür klopfte. „Herein", rief ich, ohne von meinen Aufgaben aufzublicken. Wie es aussah, hatte Candice schon wieder irgendwas vergessen.

Aber anstatt, dass sich die die Tür öffnete, ertönte ein Knall. Gefolgt von einem derben Fluch. Ich warf einen Blick über die Schulter. Das klang ganz und gar nicht nach Candice, sondern eher nach Evyen.

Mit einem Schlag war ich wieder hellwach. Sie war endlich da. Jetzt würde sie mir erklären, dass das alles nur ein großes Missverständnis war. Oder, ich würde einfach direkt aufwachen und alles würde sich nur als ein böser Traum herausstellen. Im Bruchteil einer Sekunde hatte ich die Strecke bis zur Tür zurückgelegt und riss sie auf.

Im Flur stand Evyen, wie erwartet. Doch die drei Koffer, die neben ihr standen, ließen meine selbstgebaute Illusion platzen. Sie hatte nie vorgehabt, wieder nach Hause zu fahren. Es war sogar ihre Idee gewesen, nach Linti zu kommen.

Ich starrte sie wortlos an, während Gedanken durch meinen Kopf zuckten. Sollte ihr helfen? Oder lieber meinen Gefühlen freien Lauf lassen? Einfach hier stehen bleiben?

Schließlich setzte ich mich einfach zurück an den Schreibtisch. Es war keine gute Idee, jetzt irgendetwas davon zu machen. Es würde ohnehin nur darin enden, dass ich sie verletzen würde. Ich merkte ja selber, dass ich im Moment nicht geradeaus denken konnte.

Mein Blick wanderte über die Aufgabenstellung und die zugehörige Abbildung. Der Aufbau eines Airscreens, nur die Hardware. Größtenteils nichts Neues. Zuerst zog ich die Modelle der drei Nanochips in den kugelförmigen Griff des Geräts. Einen für Speicher, einen für Rechenleistung und Grafik, einen für die Projektionen. Dann ploppte eine Frage auf.

„Nel, es tut mir leid. Wirklich", unterbrach mich Evyen. Ich ignorierte sie und las die Frage erneut. Kaum war ich jedoch am Ende angekommen, waren mir die ersten Wörter schon wieder entglitten. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte es nochmal.

„Eigentlich war geplant, dass ich dir heute alles erzählt hätte. Keiner hat damit gerechnet, dass du direkt am Anfang das halbe Haus in Schutt und Asche legst", sagte sie.

Meine Finger krallten sich um den winzigen Griff des Airscreens. Merkte sie nicht, dass sie alles gerade nur noch schlimmer machte?

„Jedenfalls habe ich noch ein paar Sachen mitgebracht, und es ist auch noch ein bisschen was auf dem Weg. Deine Bratsche zum Beispiel."

Mein Kopf schnellte zu ihr herum. „Glaubst du, das interessiert mich gerade?", entfuhr es mir.

Evyen erstarrte. „Nel, ich verstehe, dass du gerade überfordert bist. Aber..."

Der Airscreen landete mit einem Knall auf dem Tisch und erlosch. Das nahm ich allerdings nur aus dem Augenwinkel wahr.

„Nein, du verstehst das nicht", zischte ich. „Du bist nicht diejenige, der vor drei Tagen offenbart wurde, dass sie die ganze Zeit über mit irgendwelchen Medikamenten abgefüllt wurde. Oder aus dem Nichts von der eigenen Mutter betäubt und verschleppt wurde. Oder gerade erfahren hat, dass sie ihr ganzes Leben angelogen wurde, was den Tod ihrer leiblichen Eltern angeht." Oder diejenige, die quasi als ein Experiment geboren wurde. Diejenige, die auf einmal komplett aus ihrem Leben gerissen wurde. Das hätte ich auch noch hinzugefügt, hätte meine Stimme nicht plötzlich versagt.

Evyen machte einen Schritt auf mich zu. „Es tut mir leid", wiederholte sie. „Du glaubst nicht, wie sehr ich mir wünsche, das hier wäre anders gelaufen. Aber leider kann niemand von uns das Vergangene ungeschehen machen."

Ich sah sie nur tonlos an. Selbst wenn ich gewollt hätte, wäre ich vermutlich nicht in der Lage gewesen, zu antworten. Einen langen Moment herrschte Stille zwischen uns. Dann sagte sie: „Ich glaube, es ist besser, ich gehe jetzt wieder. Wenn du mich suchst, ich bin im Flur links nebenan. Und wenn du etwas wissen möchtest, frag einfach. Keine Geheimnisse mehr, versprochen."

Als ob. So sehr ich mir wünschte, dass gerade letzteres wahr war, war es schwer zu glauben. Wer sagte, dass sie nicht noch mehr Dreck am Stecken hatte? Ich warf ihr einen letzten Blick zu, dann wandte ich meine Aufmerksamkeit zurück auf die Aufgaben. Wenn ich schon in diesem Schlamassel festsaß, konnte ich genauso gut auch dafür sorgen, dass wenigstens die Schule gut lief. Im Gegensatz zu allem anderen.

Überdeutlich hörte ich Evyens Schritte, als sie das Zimmer verließ. Dann war da plötzlich nur noch Stille.

Einige Momente verharrte ich regungslos am Schreibtisch. Ich war alleine. Obwohl ihre Anwesenheit ebenfalls unerträglich war, wünschte ich mir gleichzeitig, sie wäre geblieben. Damit diese Stille nicht aufgekommen wäre und nun auf meine Brust drückte.

Ich schaltete den Airscreen ab und ließ mich aufs Bett fallen. Wo vorher meine Wut gesessen hatte, war nichts mehr. Und selbst die Schulaufgaben kamen mir so sinnlos vor. Was brachte es mir, gute Noten zu bekommen, wenn ich ohnehin die nächsten Monate in Linti festsitzen würde? Und selbst Ablenkung brachten die Aufgaben nicht mehr. Meine Gedanken schweiften ohnehin fast sofort zu anderem ab. Zu Evyen. Silvereyes. Hilflosigkeit.

Wenn ich früher schlechte Tage gehabt hatte, hatte Evyen mir immer gesagt, ich solle einfach schlafen gehen. Morgen sähe es besser aus. Also klammerte ich mich an diese winzige Hoffnung und ging ins Bad.

***

Ich lag auf einer Liege, die viel zu groß für mich war, in einem ebenso zu großen Raum. Links von mir befand sich die mit Holz verkleidete Wand, rechts ging es hinunter. Ich wusste, dass ich einmal aus reiner Neugier zu nah an den Rand gekrabbelt war und beinahe runtergefallen wäre. Seitdem hielt ich mich von dem Abgrund fern.

In dem Raum befanden sich ansonsten noch Regale mit Büchern, Ordnern und anderen Dingen, sowie ein Tisch und mehrere Stühle. Am Fußende der Liege war noch ein kleines Waschbecken sowie eine Ablage, auf der eine Spritze lag. Der Arzt hatte mir einmal erzählt, dass viele Kinder Angst vor diesem Teil der Untersuchung hatten. Ich hatte keine. Es war nur ein kleiner Stich, der innerhalb von wenigen Minuten wieder verschwunden war. Warum sollte man davor Angst haben?

Interessiert beobachtete ich, wie der Arzt die Spritze nahm und sich neben mich stellte. Dann tupfte er eine Stelle an rechten Oberarm mit einer kalten Flüssigkeit an.

„Noch ein paar Minuten, dann sind wir fertig", sagte er.

Ich blickte zu ihm hoch, wie immer. Einen Moment später war es auch schon vorbei. Mein Arm tat ein wenig weh, aber ich wusste, dass der Schmerz bald wieder verschwunden sein würde.

Während ich wartete, beobachtete ich, wie er die Spritze in ein Körbchen legte und etwas in den Computer eintippte. Ich wusste genau, dass das nun länger dauern würde. Um mich abzulenken, sah aus dem Fenster hinter dem Computer. Man konnte einen Platz mit einem einzelnen, verloren wirkenden Baum sehen. Dahinter befand sich ein flaches Gebäude mit kaum Fenstern. Ich war noch nie dort gewesen, und wollte es auch nicht. Es sah unheimlich aus.

Hinter dem Gebäude zierten Häuserruinen das Gelände. Manche waren noch gut erhalten, manche weniger. Am liebsten mochte ich die helle orangefarbene Fassade weit rechts des Gebäudes. Das Haus war in einem besseren Zustand als die meisten anderen, und es bildete einen starken Kontrast zu der schmutzigen grauen Farbe des flachen Gebäudes. Manchmal fragte ich mich, warum wir nicht dorthin umziehen konnten.

Endlich stand der Arzt wieder auf und begutachtete meinen Arm. Der Schmerz war verschwunden. Dann setzte er sich wieder an seinen Computer und tippte etwas ein.

Ich schaute wieder aus dem Fenster. Doch nur wenige Momente später heulte eine Sirene auf. Eine eindringliche Stimme befahl, dass sich alle aus dem Gebäude begeben sollten. Ich wusste nicht, was das bedeuteten sollte. Normalerweise liefen die Untersuchungen nicht so ab.

Der Arzt fluchte, tippte etwas in den Computer und schaltete ihn aus. Im nächsten Moment flog die Tür auf. Eine junge dunkelhaarige Frau, die ich erst ein paar Mal zuvor gesehen hatte, betrat den Raum.

„Evyen Alvenory. Ich soll Nelly hier abholen", sagte sie. Ich wandte meinen Kopf zu ihr. Normalerweise sollte Tante Mila mich abholen. Das tat sie sonst immer.

„Ihre Berechtigung?", fragte der Arzt.

„Die sollte schon in Ihren Mails angekommen sein", antwortete die Frau, Evyen. Als er die Stirn runzelte, fügte sie dazu: „Vermutlich erst vor einigen Sekunden. Es war eine spontane Entscheidung angesichts des Alarms."

Er sah immer noch nicht überzeugt aus. Die Frau seufzte.

„Hören Sie, wenn Sie die Berechtigung nachher nicht zugeschickt bekommen haben, reden Sie von mir aus mit einem der Koordinatoren. Aber falls Sie es noch nicht bemerkt haben, steht ein Teil dieses Flügels in Flammen. Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber ich muss nicht unbedingt als Grillfleisch enden."

Der Doktor nickte knapp. „Gut. Ich hoffe für Sie, dass ich nach diesem Vorfall etwas bekommen habe."

Evyen überging diese Bemerkung einfach und hob mich in die Höhe. Mit mir auf dem Arm trat sie in den schmalen Flur hinaus. Alles wirkte normal. Sollte hier nicht ein Feuer sein?

Erst nachdem wir um zwei Ecken gebogen waren, bemerkte ich erste Unterschiede. Hinter einer geöffneten Tür quoll Rauch hervor und es fing an, stark zu stinken. Evyens Schritte wurden schneller.

Plötzlich ertönten Schreie und ein Klopfen von einer der Türen, einmal, zweimal. Das Geräusch war zuerst noch in der Ferne, aber es dauerte nicht lange, bis wir direkt vor dieser Tür standen. Der Rauch war dichter geworden und brannte in meinen Augen.

Obwohl es klar war, dass jemand dahinter war, der eventuell Hilfe brauchte, ging Evyen einfach weiter. Ich klammerte mich an ihrem Arm fest. Ich wollte hier raus.

Doch dann stieß sie scharf die Luft aus, und drehte wieder um. Vor der Tür blieb sie stehen, zog einen Chip aus ihrer Tasche und hielt ihn vor das Schloss. Mit einem Klicken entsperrte es sich und die Tür schwang auf. Eine Wolke dichten Rauches kam uns entgegen. Evyen hustete.

Ich blinzelte und versuchte, einen Blick auf den Raum hinter der Tür zu erhaschen. Er sah nicht aus wie ein normaler Raum, sondern wie ein weiterer Flur. Feuer hatte sich im hinteren Bereich ausgebreitet, nährte sich an den Treppenstufen und flackerte unheilvoll zwischen den Rauchwolken. Eine der hellen Tageslichtleuchten an der Decke flackerte unruhig im Rhythmus der Flammen. Abgesehen vom Feuer war der Flur jedoch wie ausgestorben.

Aber als Evyen sich umdrehte, um die Tür wieder zu schließen und hier wegzukommen, löste sich eine Gestalt aus dem Feuer. Flammen leckten an ihrer Kleidung, versengten ihre Haut.

„Hilf mir, Nelly", krächzte sie heiser, bevor ihre Stimme versagte. „Hilf mi-"

Sie machte zwei Schritte, dann brach sie zusammen. Die kurze Zeit hatte gereicht, um zu erkennen, wer diese Person war. Tante Mila. Ich schrie auf.

Kurz dachte ich, es wäre vorbei. Einen winzigen Moment hüllte mich eine schützende Decke aus kühler Dunkelheit ein.

„Warte kurz, ja? Ich bin sofort wieder da, und dann können wir das alles hinter uns lassen", flüsterte Evyen in mein Ohr. Dann flackerte das Feuer wieder auf, diesmal direkt vor mir. Ich konnte die Hitze schon mehr als deutlich spüren.

„Renn!", versuchte ich ihrzuzurufen. Es kam kein Wort aus meinem Mund. Und die Flammen leckten bereits an dem Boden direkt vor meinen Füßen. Sie war nicht mehr hier, um mich zu retten. Ich war vollkommen alleine.

Eine Ewigkeit konnte ich nur so dastehen, vor Furcht gelähmt. Das Echo von Milas und Evyens Stimmen hallte in meinen Gedanken. Ich hatte Mila nicht helfen können. Und meine einzige Rettung wäre Evyen. Aber die war schließlich erst vor wenigen Sekunden gegangen. Niemand war mehr da.

Ich war mir sicher, ich würde sterben. Meine Augenlider wurden schwerer und schwerer, bis ich Mühe hatte, sie überhaupt offenzuhalten. Es war noch beängstigender, nur die Wärme zu spüren und sich jede Sekunde zu fragen, wie weit die Flammen noch entfernt waren.

Das Feuer kroch immer näher, und die Hitze wurde unerträglich. Doch ich konnte mich immer noch nicht bewegen. Gelb-orangenes Licht erfüllte mein gesamtes Sichtfeld. Ich versuchte, meinen Atem zu kontrollieren, doch nur dicker, kratzender Rauch strömte in meine Lunge. In wenigen Sekunden würde ich ohnmächtig werden. Vielleicht würde ich dann nicht mehr spüren, wie das Feuer meinen Körper auffraß.

Kurz bevor ich das Bewusstsein verlor, spürte ich etwas Weiches unter meinem Körper. Ich lag in einem Bett, den Geruch von Rauch immer noch in der Nase. Der Raum war wesentlich dunkler als der brennende Flur, doch ich konnte den Brand immer noch spüren. Wie er näher und näher kam...

Jede Faser meines Körpers wollte aufspringen und weglaufen. Egal wohin. Nur weg. Aber ich war wie in einer zähen Flüssigkeit gefangen, konnte mich nur in Zeitlupe bewegen. Um mich herum wurde der Rauch immer dichter und dichter, bis ich keine Luft mehr bekam. Ich schnappte nach Luft, wo keine war. Und keiner war da, um mich hier rauszuholen.

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