XLIII | Zusammensetzen

Ich hob die Hand und klopfte an die hölzerne Tür. Dann wartete ich einen Moment lang.

Leider reichte dieser Moment aus, um die Zweifel zurückkommen zu lassen. Sollte ich Evyen wirklich auf die Silvereyes-Experimente ansprechen? Wollte ich wirklich wissen, wie viel sie mir noch verschwiegen hatte?

Je länger keine Antwort kam, desto lauter wurden die Gedanken. Konnte es nicht vielleicht sein, dass sie einen guten Grund dafür hatte, dass sie mir nicht alles erzählt hatte? Es könnte ein persönlicher sein. Etwas, das ich einfach nicht nachvollziehen konnte, weil ich es nicht selber erlebt hatte.

Doch dann kam von innen. „Ja?"

Ich riss mich am Riemen und öffnete die Tür. Vorsichtig linste ich in den Raum. Sie lag auf dem Bett, ein Buch aufgeschlagen in ihren Händen. „Störe ich?", fragte ich.

„Du störst nie." Sie lächelte warm und klappte das Buch zu. „Komm ruhig rein."

Aus unerklärlichen Gründen machte sich nun mein schlechtes Gewissen bemerkbar. Trotzdem schloss ich die Tür hinter mir und machte es mir neben ihr gemütlich. Für einen Augenblick starrte ich an die Decke. An die Schatten, die die Lampe warf. Wenn man länger darauf sah, ähnelten sie Glassplittern. Ich biss mir auf die Unterlippe.

„Was ist passiert?", fragte Evyen geradeheraus.

„Die Lampe?", fragte ich zurück. Sie war unglaublich gut darin, Details zu bemerken, die niemand anderes wahrnahm. Auch wenn ich zugeben musste, dass mein Gesichtsausdruck vermutlich nicht besonders subtil gewesen war.

Ihr Mundwinkel zuckte. „Nicht nur, aber auch. Die Schatten sehen aus wie zerbrochenes Glas, nicht wahr?"

„Hm", machte ich. Ich wandte meinen Blick zurück zur Lampe. Ich wollte verstehen, woher meine Kräfte kamen. Was der Grund dafür war, dass ich gleich zwei davon hatte. Zumindest versuchte ich, mich davon zu überzeugen.

Von meinem Tatendrang heute Mittag mit Tae war seit Anbruch der Nacht nicht mehr viel übrig geblieben. Je tiefer die Sonne sank, desto mehr neigte ich dazu, über Entscheidungen nachzudenken. Nach bequemeren Wegen zu suchen. Aber leider war dieser Weg schon der bequemste, wenn man davon absah, Tae all die Arbeit machen zu lassen.

„Gerade läuft alles nicht ganz optimal", brachte ich schließlich heraus.

Evyen setzte sich auf und schob das Buch endgültig zur Seite. „Womit magst du anfangen?"

Ich atmete einmal ein und aus. Wenn ich jetzt nichts sagen würde, würde ich nie etwas herausbringen. Ich würde mir nur selber einreden, dass sie ihre Gründe hatte und ich lieber wen anders fragen sollte. Jetzt half nur noch Augen zu und durch.

„Warum habe ich zwei Kräfte?", fragte ich.

Evyen sah überrascht auf. „Das kommt manchmal vor."

„Ja, aber warum?"

„Wie weit bist du in Rachels Tagebuch?"

Eine Gegenfrage und eine nichtssagende Antwort. Das lief ja wieder super. „Was hat das Tagebuch damit zu tun?"

„Alles." Evyens Lächeln war schon vor einigen Momenten verschwunden, doch jetzt fiel es mir erst bewusst auf. Ich hatte es geahnt. Es war ein sensibles Thema.

„Dann lass uns doch einfach bei den Fakten bleiben", versuchte ich, darum herum zu schiffen. „Ich möchte nur verstehen, wie es zustande kommt. Nicht mehr, nicht die gesamte Geschichte dahinter."

Da sie immer noch nicht besonders überzeugt davon aussah, fügte ich hinzu: „Bitte. Ich möchte nur mich selber verstehen. Für den Rest höre ich weiter."

Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Gut. Ich muss dich vorwarnen, ich habe kein weitreichendes Wissen, was das angeht. Nur ein paar Theorien ohne jede wirkliche faktische Unterstützung."

Das hörte sich schonmal nach mehr an, als ich hatte. Also nickte ich.

„Das Einzige, das ich von Linti erfahren habe, ist, dass es mit hundertprozentiger Sicherheit mehrere Silvereyes gibt, die zwei Kräfte haben. Die meisten haben allerdings nur eine, und niemand drei. Die Theorie dahinter ist, dass es mit dem Elternteil zusammenhängt, das avireisch ist. Hast du nur eines, hast du eine Kraft. Hast du zwei, besitzt du zwei Kräfte."

„Das heißt, mein..." ...Vater hat auch avireische Vorfahren?, wollte ich fragen. Dann erinnerte ich mich an unsere Abmachung. Keine Hintergrundgeschichte.

Dennoch kam ich nicht darum herum, nachzuhaken: „Woher kommt diese Theorie?"

„Florence", sagte Evyen knapp.

„Florence Southcliffe?"

Sie nickte. „Erinnerst du dich an den Lagerraum, in dem du uns gesehen hast? Das war eines der Dinge, die wir besprochen haben. Ich habe über ein paar Ecken von deinen Trainingsergebnissen mitbekommen und angefangen, Nachforschungen anzustellen."

„Warst du deswegen auch im Archiv?"

„Nicht nur deshalb, aber zum Teil, ja."

Ohne groß darüber nachzudenken, ergriff ich die Chance. „Weshalb noch?"

Sie seufzte. Doch zu meiner Überraschung begann sie zu erzählen. „Vor allem ging es um Beziehungen in Linti. Wenn du keine hast, bekommst du kein Sterbenswörtchen mit. Florence hat genug davon und hat mir in einigen Dingen aushelfen können. Ohne sie wäre ich beispielsweise niemals an Jade drangekommen und hätte dein Training absagen können."

„Und sie hat dir einfach geholfen?" Die Florence, die Linti aus unbekannten Gründen trotz allem unterstützte? Die, die Matilde die Aufmerksamkeit der gesamten Welt eingebrockt hatte?

„Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Man weiß bei ihr nie, ob sie eine Gegenleistung verlangt oder nicht."

„Hat sie denn?"

„Bisher noch nicht." Evyen sah zu mir. „Es tut mir leid, dass ich dir keine ausführlichere Erklärung geben kann. Es ist alles furchtbar kompliziert, was die Avirei angeht."

„Schon gut", wehrte ich ab. Es war deutlich mehr als ich erwartet hätte. Dass man solche Probleme wirklich einfach mit Nachfragen lösen konnte, kam mir zu einfach vor. Doch gerade war es passiert. Evyen selbst war sich zwar nicht sicher, ob die Theorie stimmte, aber bisher war alles, was ich von Florence erfahren hatte, zutreffend gewesen. Auch wenn ich nicht verstand, was ihre Gründe dafür waren, mich nach Oslo zu holen, was Fakten anging, vertraute ich ihr. Und wenn auch Evyen das tat, hatte es sogar noch mehr Gewicht.

Am besten war es, ich redete erst mit Tae darüber, was nun herausgekommen war. Wenn wir es nicht schafften, Evyens Theorie ins Gesamtbild einzufügen, würde Florence der nächste longische Schritt sein. Wie genau ich an sie drankommen wollte, musste ich mir allerdings noch überlegen.

„Hast du eigentlich noch irgendetwas von ihr gehört, nachdem wir zurück nach Hause gefahren sind?", fragte ich vorsichtig.

„Nicht von ihr, aber von Linti."

„Was wollen sie?"

Evyens Blick schweifte kurz ins Nichts ab, bevor er wieder zu mir wanderte. „Dass du dich entscheidest. Auf welcher Seite du stehst."

„Auf welcher Seite stehst du?", wurde ich es endlich los.

„Ich stehe auf deiner Seite."

Ich blinzelte. „Das funktioniert doch nicht einmal mit ihrer strikten Entscheidungspolitik."

„Unter Umständen tut es das doch."

„Unter Umständen heißt, ich muss mich trotzdem entscheiden?" Ich hielt für einen Herzschlag noch an meiner Hoffnung fest.

„Leider." Sie verzog mitleidig das Gesicht. „Ich kann dir die Entscheidung nicht abnehmen, aber lass dich nicht von ihnen unter Druck setzen. Du hast genug Zeit, und wenn der Monat zu wenig ist, kann ich sicher nochmal mit ihnen reden."

Was übersetzt bedeutete, sich womöglich noch tiefer in Lintis Netz zu begeben. „Das heißt, wenn ich mich gegen sie entscheiden würde, was würde mit dir passieren?"

„Ich komme mit dir. So lang du dich für eine Seite entscheidest, ist sie dazu fähig, uns beide abzuschirmen."

Etwas daran ließ mein Herz leichter werden. Egal was passierte, Evyen würde an meiner Seite bleiben. Auch wenn sie sicher noch andere Geschichten hatte, sie sie mir nie erzählt hatte, sie war diejenige, die mir schon so oft geholfen hatte. Ich brauchte sie so dringend wie niemanden, was dieses ganze Chaos mit Linti anging.

***

Noch vor dem Frühstück setzte ich mich mit Tae zusammen und begann, die Teile zusammenzusetzen. Chaeng schlief noch und Evyen war schon lange zur Arbeit aufgebrochen. Und nun saßen wir da, ich auf meinem Bett, Tae auf der Treppe dorthin.

„Gut, wir haben gestern darüber geredet, dass sich bei den Kindern von zwei Halb-Avirei die Energien vereinigen", sprach ich meine Gedanken laut aus. „Dann hätte man ja theoretisch wieder zwei Energien, genau wie alle anderen Silvereyes."

„Vermutlich ein bisschen mehr von der natürlichen Energie." Tae stützte nachdenklich die Ellbogen auf seine Knie. „Aber das kann auch einfach passieren, wenn du zum Beispiel einen Nachfahren von einem Halb-Avirei und einen sehr entfernten Verwandten von einem Avirei betrachtest."

„Vielleicht überschreitet die Energie ja bei zwei avireischen Vorfahren eine gewisse Grenze", schlug ich vor.

„Klingt auch irgendwie falsch."

Dem konnte ich nur zustimmen. Allerdings hörte es sich für mich auch schon falsch an, über eine mysteriöse Energie zu reden, die anscheinend mit zu meinem Körper gehörte.

„Das Problem ist das Kriterium für zwei Kräfte", fuhr Tae fort. „Wenn es wirklich nur das ist, gibt es mit deiner Idee zu viele Schlupflöcher, wie man als Nachfahre von zwei Avirei immer noch nur eine Kraft haben könnte."

Ich runzelte die Stirn. Zwei Avirei. Zwei Kräfte. Zwei Energien. Es machte Sinn – wenn man es aus einer anderen Perspektive betrachtete. Es war zwar aus dem Nichts gegriffen, aber was hier war schon normal?

„Ich glaube, ich hab es", brach es aus mir heraus, mehr als ein Hauch Euphorie in meiner Stimme mitschwingend.

Er sah überrascht zu mir. „Wirklich?"

Ich richtete mich auf, mein Blick auf ihn fokussiert. „Es macht zumindest Sinn. Stell dir vor, wir würden mit den zwei Energien doch nicht falsch liegen."

„Dass sie der Grund für die zwei Kräfte sind?"

„Genau. Aber nicht auf die Weise, wie wir es zuerst gedacht haben. Was, wenn wir die künstliche Energie einmal ausklammern? Bisher sind wir auch immer davon ausgegangen, dass sie sich nicht mit der natürlichen vermischt. Und wenn wir das machen, bleibt für gewöhnliche Silvereyes nur noch eine natürliche Energie."

„Und wo möchtest du die zweite... oh."

„Siehst du?" Nun war der Punkt erreicht, wo ich nicht mehr aufhören konnte zu reden. „Was, wenn die künstliche Energie sich nicht nur nicht mit der natürlichen Energie vermischt, sondern auch die Vereinigung von zwei natürlichen Energien verhindert?"

„Das heißt, wenn wir richtig liegen, hast du nicht nur zwei, sondern gleich drei Energien", zählte er eins und eins zusammen.

„Genau. Und das würde auch im Umkehrschluss bedeuten, die Kräfte hätten irgendetwas mit dem Zusammenspiel von natürlichen und künstlichen Energien zu tun. Bei normalen avireischen Nachfahren gibt es keine Kräfte und sie haben die künstliche Energie nicht. Aber gleichzeitig haben die Kräfte doch mit der natürlichen Energie zu tun."

Tae hob die Hände, grinste aber. „Ein bisschen langsamer bitte, jetzt wird es zu schnell für mich."

„Aber es macht Sinn, oder?" Ich konnte nicht anders, als ihn anzustrahlen. So langsam verstand ich, wie sich Matilde fühlen musste, wenn sie an ihren Physikexperimenten arbeitete.

„Schon", gab er zu. „Aber lass uns bitte nicht vergessen, dass das hier immer noch nur eine Theorie ist. Wir brauchen auf jeden Fall mehr Informationen dazu, wie die Kräfte genau funktionieren."

Ich lehnte mich zurück, teilweise zurück auf den Boden kommend. „Evyen wird nichts mehr wissen. Florence vielleicht, aber vermutlich auch weniger."

„Wir bräuchten Daten direkt aus den Silvereyes-Experimenten. Und zwar von den Leuten, die von den Avirei wussten."

„Also die aus der streng geheimen Abteilung, vermutlich", fasste ich es zusammen.

Er nickte unschlüssig. „Ich habe ehrlich keine Ahnung, wie man da drankommen könnte."

Ideen ploppten in meinem Kopf auf, eine nach der anderen. Und eine nach der anderen verwarf ich wieder. Über Jihoon zu gehen war eine schlechte Idee. Florence hatte soweit ich wusste kaum mit den Silvereyes-Experimenten zu tun gehabt. Evyen hatte etwas damit zu tun gehabt, aber offensichtlich war sie nicht mehr auf dem neusten Stand, was die Kräfte anging.

„Irgendwie gibt es keinen richtigen Weg", sprach ich es aus. „Aber wir haben noch unbekannte Quellen, die Informationen enthalten könnten."

Für einen Moment sah Tae verwirrt zu mir, dann erhellte sich seine Miene. „Das Tagebuch."

„Exakt. Wenn wir Glück haben, erfahren wir über meine Mutter noch mehr Verbindungsglieder."

„Klingt nach einem guten Plan. Wann fangen wir an?"

Ich sah kurz nach oben. „Möglichst bald, am besten. Heute wird es aber schwierig. Wir wollten uns ja am See treffen und heute Abend bin ich mit Chaeng bei den Art Nights."

„Dem Kunstfestival?"

Ich nickte. „Ich habe es ihr schon vor Jahren versprochen, dass wir da mal hingehen."

„Ihr passt aber auf, oder?"

„Klar." Ich schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln. „Abgesehen davon, dass es hier in Edinburgh weit nicht so schlimm ist mit den Unruhen, wir werden nichts Unvernünftiges machen."

„Unterschätze Chaeng niemals", kam es trocken zurück.

Ich musste lachen. „Definitiv nicht. Apropos Chaeng, sollen wir sie mal aufwecken gehen?"

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